2010 05 ArtNoir: Doktorialer EBM Freund
Quelle: ARTNOIR.ch, Musik Magazin vom 18. Mai 2010
Dr. Mark Benecke
Doktorialer EBM-Freund und Kriminalbiologe
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VON CYRIL SCHICKER
Man nehme einen halben Liter Psychologie, eine Prise Entomologie, vermische es mit Zoologie, füge dem (Tathergangs-) Gericht einen Teelöffel Kriminalbiologie bei und rühre es mit schwungvollen Bewegungen bis die (Forensik-)Masse steif geschlagen ist. Nach 90 Minuten Abkühlzeit kristallisiert sich ein sympathischer, vielfältiger, interessanter, redseliger und erfahrungsschwangerer Kölner heraus – Dr. Mark Benecke. Nicht essen und nicht anfassen, aber dafür lesen! Hier das Interview.
Cyril: Kritische Stimmen blöken etwas von „Wissenschaftspopstar“, der sich und das Grauen öffentlich in den Vordergrund stellt. Wie sieht dein verbaler Fehdehandschuh aus?
Mark: Neider und Nörgler gibt es immer, da lasse ich mich nicht beunruhigen. Meiner Meinung nach geht mit meiner Tätigkeit auch ein gewisses öffentliches Interesse einher. Je mehr Leute mir über die Schultern schauen desto kleiner ist die Fehlerneigung oder besser gesagt -toleranz. Sowohl Überprüfbarkeit als auch Transparenz sind dadurch gegeben. Das finde ich sehr wichtig und es macht mir so auch viel mehr Spass.
Cyril: Einem Perpetuum mobile ähnelnd verdingst du dich u.a. als Kriminalbiologe, Buchautor, Schauspieler, Referent, (Radio-)Moderator. Woher dieser Antrieb und weshalb bist du so begehrt?
Mark: Ich bin jeweils mit Haut und Haaren bei der Sache, gebe immer viel Energie, kriege aber auch viel Energie zurück. Das ist doch super. Ausserdem kriege ich immer die komplexesten Fälle übertragen. Man kann diese eigentlich mit den Sherlock-Holmes-Fällen vergleichen. Das Äussere trägt sicherlich ebenso einen gewissen Teil dazu bei. Das alles weckt natürlich die Neugierde und schürt das Interesse. Demnächst leite ich wieder, wie eigentlich jedes Jahr, in den USA und gemeinsam mit dem berühmtesten US-Rechtsmediziner, wir beide haben schon zusammen Hitlers Zähne und Schädel untersucht, eine forensische Sitzung. Also nicht irgendeine, sondern die grösste Session der gesamten Jahrestagung der Rechtsmediziner. Der Popularität förderlich ist zudem der Fakt, dass es halt nur wenige Leute gibt, die meine Arbeit machen. Ich bin nun einmal derjenige, der am meisten exponiert ist. Vergleichen kannst du das vielleicht mit Oswald Henke (Goethes Erben, fetisch:Mensch), der meiner Meinung nach der omnipräsenteste „schwarze Künstler“ ist. Der am meisten Exponierte muss aber nicht zwingend der Beste sein. Das gilt zumindest für mich. (Anm. d. Red.: Letzter Satz säuselt der Kölner förmlich und es tönt fast schon einlullend. Ein Klang für Götter, gell Mark!)
Cyril: Hast du bei dieser Regenbogenpalette an Tätigkeiten Zeit und Musse, etwaige Steckenpferde zu reiten?
Mark: Viel Zeit bleibt mir nicht und vieles meiner Tätigkeiten sind gewissermassen auch (m-)ein Hobby. So oder so, was mich zusätzlich stark interessiert, das sind Brücken. Die Komplexität der Bauwerke, die verschiedenen Materialien, die heutige Gigantomanie – all das zieht mich doch sehr in den Bann. Brücken alleine machen aber nicht glücklich. Ich bin ausserdem noch Mitglied der Transsilvanischen Gesellschaft. In das Vampir-Genre bin ich Ende der 90-er Jahre in New York reingerutscht, seither lässt es mich nicht mehr los.
Cyril: Verstehst du die Hysterie um den unsäglichen Leinwandzauber Twilight und Co.?
Mark: Vampirfilme rücken immer wieder in den Zuschauerfokus. Den ersten Twilight-Teil habe ich gesehen, finde das Ganze aber kaum attraktiv. Es ist schon arg weichgespült. Es kommt aber eigentlich überall auf der Welt im Verlaufe der Zeit zu einer gewissen „Profanierung“. [...]
Cyril: Sind auch im Benecke’schen Universum Tendenzen ersichtlich, die in Richtung Profanierung gehen?
Mark: Na, denke schon, aber doch eher im Positiven. Es gibt zu jedem Bereich in einem Land einen sogenannten Talking Head. Das sind jene Personen, an die man jeweils in Bezug auf Was-auch-immer als Erstes denkt. Bei mir ist das nicht anders. Des Deutschen und Schweizers erste Assoziation mit Kriminalbiologie bin vielleicht ich. Die positive Profanierung zieht einen durchaus aufbauenden Effekt nach sich, denn man kann wichtige Aufklärungsarbeit leisten, Fakten darlegen. Nachteilig wird es genau dann, wenn irgendwelche Leute mich ansprechen und fragen, wie viel ich denn verdiene, was man für meinen Beruf genau studieren müsse etc. Sie quatschen mich mit Nichtigkeiten voll, nur weil sie in mir den nahbaren, lieben und auskunftfreudigen Benecke sehen. Manchmal ist Langeweile sogar der Impetus, was natürlich eine total falsche Motivation ist. Ich liebe Fälle und das dazugehörige Erklären, Geld und Einfluss lassen mich kalt. [...]
Cyril: Kriminalbiologe hört sich abenteuerlich an, handumkehrt fragt man sich vielleicht doch, etwa dann, wenn Fliegen und Maden ins Spiel kommen, wie man da reinschlittern kann?
Mark: Reinschlittern ist gut … Es kommt dazu demnächst ein neues Buch, indem andere Leute über mich schreiben, heraus. Mein Vater schreibt dort, dass ich schon früher immer im Planschbecken die Fliegen herausgenommen und sortiert hätte. Baden war sekundär, Fliegen scheinbar das A und O. Aber ich kann mich da nicht mehr dran erinnern. Während dem Studium und mit taufrischen 22 Jahren habe ich dann ein Praktikum in der Rechtsmedizin gemacht. Dies hauptsächlich deshalb, weil die dort zu dieser Zeit schon – Kapitalstärke sei Dank – genetische Fingerabdrücke machen konnten. Das hat mich magnetartig angezogen. Die Anziehungskraft intensivierte der Film Blade Runner, denn dort besteht das Problem, dass sich Androiden nicht leicht vom Menschen unterscheiden lassen. (Anm. d. Red.: Hauptdarsteller Harrison Ford, so wird gemunkelt, sei ein Android, insofern …)
Cyril: Welche Fälle bringen deine Augen zum Funkeln?
Mark: Das sind jene, die knifflig sind. Ja, nein, es sind eigentlich alle Fälle knifflig, sonst kämen sie wie gesagt nicht zu mir. Ich muss es anders formulieren. Funkeln tun meine Augen dann, wenn bei einem ungelösten Fall absolut nichts mehr geht, also wenn alles arretiert, wenn der Staatsanwalt nicht mehr ermittelt. Extreme Herausforderungen erquicken mich halt eben doch am meisten. Es ist generell so, dass du als freischaffender Kriminalbiologe nur dann überdauern kannst, wenn du wirklich bereit bist, unabhängig von Strukturen zu arbeiten. Ich habe beispielsweise keinen regelmässigen Tagesablauf und keinen immerzu gleich stark strömenden Geldfluss. (Fast) Jeder Fall bringt Kurioses, Schönes, Anstrengendes und Unvorhergesehenes hervor. Die Einschätzbarkeit leidet natürlich darunter. Überdies ist es noch so, dass ich persönlich haftbar gemacht werden kann, wenn etwas schief läuft. Für Leute mit einem blattdünnen Nervenkostüm oder für solche, die den Sicherheitsgedanken auf Händen tragen, ist das natürlich nix.
Cyril: Was ist nebst der eigentlichen Fallauflösung das Positive deines Berufes?
Mark: Ganz klar der Lerneffekt. Wenn wir an einen Tatort kommen, starten wir gleich den Ausschlussprozess (Versuchsdesign). Das bedeutet, wir sortieren alles aus, was nichts mit der Tat als solche zu tun hat. Was am Ende übrig bleibt, sei es auf den ersten Blick noch so dämlich, ist unser Fundament für eine erfolgreiche Aufklärung des Falles. Der Tag, an dem ich das gerafft habe, war ein wirklich guter Tag. Sherlock Holmes hat es übrigens ebenso handgehabt, die meisten Leute aber gehen nach dem sogenannten Einschlussverfahren vor. Allerdings arbeiten wir dann mit dem Einschlussverfahren, wenn Insekten im Spiel sind.
Cyril: Ist es schon einmal vorgekommen, dass der Gerichtsentscheid von deinem Befund divergierte?
Mark: Ja, das gibt es leider dauernd. Vor oder hinter vorgehaltener Hand wird quasi höheres Interesse geltend gemacht. Erst kürzlich hatte ich ein Erlebnis mit dem höchsten Deutschen Gericht, dem Verfassungsgericht. Die dort gefällten Urteile sind nicht mehr anfechtbar, die sind in Stein gemeisselt. Der Richter hatte genau das Gegenteil meines Befundes ins Urteil geschrieben. Das Urteil war bar meiner ausgesagten Faktenlage. Es stand dort alles förmlich auf Kopf. So etwas ist für mich viel schlimmer als eine Lüge, wobei er vielleicht auch einem Denkfehler aufgesessen ist. Keine Ahnung, was tatsächlich der Grund gewesen ist. Seine Motivation bestand aber wohl eher darin, den Häftling ums Verrecken nicht mehr aus dem Knast zu lassen.
Cyril: Geben wir uns, das Gespräch-Ende naht leider schon, einer aalglatten Jobinterview-Frage hin. Was sind deine Stärken und wo liegen deine Schwächen?
Mark: Das passt respektive ist absolutes Neuland für mich, habe ich bislang doch noch nie ein Jobinterview machen müssen. [...] So oder so, ich weiss jetzt nicht, ob man dies als Stärke bezeichnen kann, doch ich habe eine Neigung respektive die Fähigkeit, Dinge so zu zergliedern, dass man die vorhandenen objektiven Anteile sehen kann. Aber eben das ist gleichzeitig auch als Schwäche zu sehen, denn dadurch leidet gewissermassen die Subjektivität …
Cyril: Zu guter Letzt möchten wir wissen, welche Art von Musik dir die Totenstarre überträgt und welche dir Freudetränen in die Augen treibt.
Mark: Mit klassischer Musik kann ich wenig bis überhaupt nichts anfangen, abgesehen von der „Suite for Jazz Orchestra No. 2“. Wohlfühlen tu ich mich in der Gothik-Welt, insbesondere EBM und Electro gefallen mir. Bands wie Menschdefekt oder :SITD: mag ich auch auf persönlicher Basis. Rammstein habe ich kürzlich in Moskau, eine Hure von Stadt!, gesehen und mit Sara Noxx bringe ich in wenigen Tagen eine Platte mit ausschliesslich Remixes von „Where the wild roses grow“ (für den Original-Ohrwurm zeichnen die beiden Australier Nick Cave und Kiley Minogue verantwortlich) heraus. Unter anderem Feindflug und Kontrast sind mit von der Partie. Zur sogenannten schwarzen Szene muss ich abschliessend noch sagen, dass viele mit Scheuklappen durch den Alltag gehen und eine Intoleranz spazieren führen. Cyber-Gothik kann ich da gut als Beispiel heranziehen. Bei Cyber-Gothik sagen viele das sei einfach nur lächerlich mit diesen leuchtenden Utensilien und so. Ist natürlich jedem das Seine, was er denkt und fühlt, doch auf der Bühne beziehungsweise konzerttechnisch gesehen ist gegen Cyber-Gothik absolut nichts auszusetzen. Gleich verhält es sich mit all den Bands wie Corvus Corax, die sich dem Mittelalter hingeben. Ich kann nichts damit anfangen, muss aber zugeben, dass mich solche Konzerte fast umhauen. Da mache ich, währenddem mir automatisch die Kinnlade herunterfällt, nur noch grosse Augen.
[...]
Mit herzlichem Dank an Cyril Schicker und die Redaktion für die Erlaubnis zum Abdruck.
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