2000 03 21 Berliner Morgenpost: Dallgow - Prozess
Quelle: Berliner Morgenpost (darin: Brandenburg), 21. März 2000
Dallgow-Prozess: Insekten-Experte hat Angeklagten schwer belastet
«Tote lagen mindestens zwei Tage»
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VON WOLFGANG PAUCKERT
In der Welt des Verbrechens nennt man ihn den «Herrn der Maden» oder «Kommissar Schmeißfliege». Obwohl erst 29, ist der Dozent an der FBI-Academy vom Zoologischen Institut der Uni Köln weltweit anerkannt. Der Kriminal-Biologe Dr. Mark Benecke gehört zur seltenen Spezies der Entomologen (weltweit etwa 30 «Exemplare»), die sich mit Insekten auf Leichen befassen. Im Fall des Gattinnen-Mörders Klaus Geyer hatte ihm eine Bundeswehrmaschine drei Maden nach New York geflogen, um den Täter zu überführen. Im Dreifach-Mordprozess von Dallgow-Döberitz sollte er gestern die entscheidende Trumpfkarte der Verteidigung abgeben.
Nach Rücksprache mit Benecke, hatte Verteidiger Ralf Symanzick das Gericht glauben lassen, könne der Gutachter den Todeszeitpunkt der drei Mord-Opfer bestimmen. Er könne also beweisen, dass Gabi P. (44) und ihre Kinder Grit (14) und Sascha (10) frühestens am 18. Juni 1998 gegen 20 Uhr ermordet wurden. Eine entscheidende Frage.
Das würde beweisen, dass sein Mandant, der Klempner Olaf L. (37), nicht der Mörder gewesen sein könne. Schließlich sei Olaf L. nachweislich am 18. Juni um 9 Uhr im Dallgower Café «Eismann» zuletzt gesehen worden. Die Zeit danach - die Flucht durch Thüringen, Italien und Tschechien - hatten Zielfahnder genau dokumentiert.
Zudem würde der Todeszeitpunkt 18. Juni mit den Aussagen von drei Zeugen korrespondieren, die Sascha am 18. Juni vor 20 Uhr noch gesehen haben wollen, so die Verteidigung.
Im Gegensatz dazu war Gerichtsmedizinerin Dr. Barbara Mattig in ihrem Gutachten von einer Liegezeit der Leichen - nach ihrem Auffinden am 19. Juni - von mindestens zwei Tagen ausgegangen. Auch Staatsanwaltschaft und Nebenklage gingen in ihren Plädoyers davon aus, dass die brutalen Morde in der Nacht zum 17. Juni verübt wurden.
Alles ein Irrtum? Ein Unschuldiger auf der Anklagebank? Die Methodik der Entomologie ist weltweit anerkannt. «Uns interessiert: Was, wann und wo auf der Leiche lebt», doziert Dr. Benecke im gefüllten Schwurgerichtssaal 015. «Zuerst kommen die Schmeißfliegen. Sie erkennen nach wenigen Minuten eine Leiche und legen darauf ihre Eier ab. Aus ihnen schlüpfen nach etwa sechs Stunden Maden.»
Nach den Schmeißfliegen kämen die Latrinenfliegen, die aber eine Fäulnis im fortgeschrittenen Stadium bevorzugen, so Dr. Benecke. Drei bis sechs Monate später kämen die vier Millimeter großen Käsefliegen.
Allerdings: «Den Todeszeitpunkt kann ich nicht bestimmen, nur die Leichenliegezeit.» Außerdem habe er nur Fotos zur Verfügung gehabt. Die Opfer sind längst verbrannt worden. Auf den 35-fach vergrößerten Fotos habe er an Grits Hals «Maden im ersten Larval-Stadium» entdeckt - «die erste Besiedlungswelle».
Aber: Alle Leichen waren zugedeckt. «Fliegen kriechen aber nicht unter Decken», so Dr. Benecke. Folglich waren sie erst beim Aufdecken durch die Polizei, Abtransport oder in der Gerichtsmedizin auf die Leichen gekommen. Erst dabei hatten sie ihre Eier ablegen können.
Anhand des Insektenbefalls und des Fäulniszustandes der Leichen schätzt Experte Benecke, dass die drei Toten mindestens zwei Tage gelegen haben müssen, bevor sie entdeckt wurden. Was den Angeklagten entlasten sollte, wurde zum belastenden Indiz.
Mit großem Dank an Wolfgang Pauckert und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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