2004-02-03 Express: Morde, Maden, Mikroskope
Quelle: Express Köln vom 3. Februar 2004, Seite 5
Morde, Maden, Mikroskope
24 Stunden im Leben des Kriminal-Biologen Dr. Mark Benecke
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VON CHRISTIAN RENZ und TOBIAS MORCHNER
Köln/Bochum - Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke. Immer auf Achse. Tag und Nacht erreichbar. Wenn die Kripo nicht mehr weiterweiß, wird der Kölner zum Tatort gerufen. Er ist auf der Jagd nach Hinweisen, die andere nicht finden. Benecke ist der "Herr der Fliegen und Maden". EXPRESS hat ihn 24 Stunden begleitet: Morde, Maden, Mikroskope - von der morgendlichen Alarmierung über die Tatort-Arbeit bis zur nächtlichen Forschung. Noch mehr Informationen über das Leben des weltweit führenden Kriminal-Biologen gibt's beim Benecke-Vortrag am Montag, 9. Februar, um 19.30 Uhr m Kölner Hyatt Regency Hotel (Einritt: 2.50 €). Anmeldung im Internet unter www.express.de/benecke.
Eisig pfeift der Wind durch das Waldstück in der Nähe von Bochum. Ein Mann im Wintermantel ruft nach seinem Hund. Der Terrier ist vor zwei Minuten im Unterholz verschwunden. Herrchen schiebt ein paar Zweige auseinander, ruft erneut ins Gehölz - und macht eine grausige Entdeckung: In knapp einem Meter Höhe baumelt ein Paar Füße an einem Stamm. Die Zehen weisen merkwürdig gestreckt zu Boden ... Der Mann greift mit zittrigen Händen zum Mobiltelefon.
Mark Benecke hat gerade Kaffee gekocht - die zweite Kanne des Tages - als sein Handy anspringt. "Alarm, Alarm" meldet eine Roboterstimme - Beneckes Klingelton. Ber 33-Jährige nimmt an, hört einem Bochumer Kripo-Beamten zu: "... möglicherweise Selbstmord. Aber es gibt Spuren am Körper des Mannes: Spuren, die den Ermittlern Rätsel aufgeben. Kurz darauf verlässt der Kriminalbiologe seine Wohnung, schwer bepackt mit zwei silber-glänzenden Tatort-Koffern.
Während der knapp einstündigen Fahrt - Assistentin Saskia sitzt am Steuer - erläutert Benecke: "In diesen Koffern ist meine gesamte Ausrüstung: Scheinwerfer, um den Toten richtig auszuleuchten, unzählige Federstahlpinzetten, Gläschen gefüllt mit Brennspiritus (für Maden und Käfer), Marker, eine Digitalkamera, Akkus, Tatortaufkleber, Bleistifte. "Mehr brauche ich zum Arbeiten nicht."
Nach 87 Kilometern hält Saskia an dem Waldstück. Der einzige Zufahrtsweg zum Tatort wird von einem Streifenwagen blockiert: Schaulustige unerwünscht. Benecke grüßt einen der Beamten - und wird ohne Nachfrage durchgewunken. Man kennt sich ...
"Ja, ein merkwürdiger Fall", sinniert der Biologe. Die Leiche eines Mannes in den 40ern liegt vor ihm, Die Haut ist fahl, übersät von Leichenflecken. Ein Strick hat sich in die Haut am Hals gebissen, rote Male hinterlassen. Zwei Stunden zuvor haben Polizisten das Opfer von dem Baum abgeängt. Der Fall scheint klar. Dennoch - "irgendwas passt hier nicht." Benecke weist auf die linke Augenhöhle des Toten. "Hier wimmelt es von Maden. Das andere Auge ist unbevölkert." Doch keine Selbstmord? "Das Misstrauen der Beamten ist gerechtfertigt. Vielleicht hat jemand den Körper erst nach dem Tod hier hingehängt. Das würde den unregelmäßigen Madenbefall erklären."
Benecke macht Hunderte von Nahaufnahmen mit einer Digitalkamera. Aus jeder Perspektive. Ein Fotograf des Todes. "Schauen sie mal hier hin", sagt er und deutet auf den Hüftbereich. Das Gewebe ist grünlich verfärbt. "Hier liegt der Darm sehr nahe unter der Haut. Von dort aus verbreiten sich die Bakterien durch die Adern durch den ganzen Körper."
Weil die so genannte Grünfäule aber erst im Anfangs-Stadium ist. schätzen die Beamten später: Der Mann ist erst einen Tag tot.
Dann macht Benecke mehrere unerklärbare Funde: Kleine Löcher in der Haut; am Bein, am rechten Arm und in der Brust. Schusswunden?
Der Biologe sucht den Körper nach Tierchen ab. Vorsichtig greift er Maden, Ameisen, Käfer mit einer Federstahlpinzette (so werden die Tiere nicht zerquetscht, auch wenn sie ausgetrocknet sind), lässt sie in kleine Gläschen mit Schraubverschluss fallen. Assistentin Saskia füllt Brennspiritus nach, legt einen Zettel bei. "Eine genaue Untersuchung der Tiere kann ich erst im Labor vornehmen."
Immer wieder nimmt Benecke die Löcher in der Haut in Augenschein. "Was zur Hölle ... ?" Madenfraß sicht anders aus, doch Käfer, die sich im Fleisch vielleicht eine Bruthöhle bauen, hat er nicht finden können.
Der Bestatter hat die Leiche gerade abgeholt. Benecke und Saskia packen zusammen. Die hektische Betriebsamkeit endet schlagartig. Totenstille senkt sich über den Tatort. "Okay, wir fahren jetzt in die Rechtsmedizin." Es geht um die Löcher ...
"Schneiden Sie mal hier", bittet Benecke den Rechtsmediziner und deutet auf das kreisrunde Loch am Oberarm. Mit schnellen Bewegungen ritzt der Mann mit einem Skalpell ein Quadrat in die Haut, klappt den Lappen zurück. Das wächsern gewordene Fleisch darunter liegt bloß. Doch die Fortsetzung des Lochs fehlt, Muskeln und Fleisch sind intakt. Die Prozedur wird am Hals und am Oberschenkel wiederholt. Das Ergebnis ist immer das gleiche. "Jetzt können wir sicher sein..., hier sind keine Projektile eingetreten. Vermutlich ist es Käferfraß." Tatsächlich: Am nächsten Tag wird der Rechtsmediziner weitere kleine Löcher finden - über Nacht entstanden. Von Käfern, die nur in der Dunkelheit aktiv sind.
"Es spricht vieles dafür, dass der Mann sich selbst das Leben genommen hat", bilanziert Benecke. Dennoch wird er in seinem Labor noch die gefundenen Maden untersuchen. Inzwischen sitzt er im ICE auf dem Weg nach Köln. Assistentin Saskia ist bereits vor einer Stunde nach Hause gefahren. Ohne Genuss zieht Nichtraucher Benecke an einer Zigarre, pustet dicke Qualmwolken ins Raucherabteil "So übertünche ich meinen Gestank." Der Geruch der Leichenermittlungen und der Rechtsmedizin haften an seinen Kleidern. "Es riecht oft genug... nach Schweinestall."
Eine Stunde später steht der 33-Jährige am Kölner Hauptbahnhof. Er lässt sich von einem Taxi nach Hause fahren. Jetzt beginnt die Arbeit in seinem privaten Labor. Die Kanne vom Morgen steht da, wo er sie zurückgelassen hat, der Kaffee ist längst kalt. Benecke geht erst mal Duschen ...
Der Tod kennt keine Arbeitszeit. 12 Stunden nach der Leichenmeldung sitzt Mark Benecke am Labortisch. Vor ihm stehen 26 kleine
Gläschen mit den Maden in Brennspiritus. Vorsichtig schraubt er einen Deckel ab nimmt mit der Pinzette das weiße Tierchen heraus. Mit einer zweiten Pinzette greift er die Mundwerkzeuge ("Man braucht dazu eine sehr sichere Hand. Sonst zerstört man alles"), löst aus dem vorderen Ende der Made, legt das winzige Etwas auf einen Objektträger, schiebt ihn unter das Mikroskop. Ziel: Bestimmung der Madenart. "Ich bin einer der ganz wenigen Kriminal-Biologen bundesweit, der so arbeitet. Die Anderen verlassen sich auf eine DNA-Bestimmung. Aber das dauert mindestens 5 Tage. Das ist zu lang", konstatiert der Fachmann. Durch die Größe der Made und die Temperatur am Liegeort bestimmt Benecke schließlich das Alter des Tieres. "Durch diese zwei Angaben versuche ich festzustellen, ob die Made überhaupt in der näheren Umgebung des Fundorts der Leiche vorkommt. Und ob die Liegezeit des Körpers auch mit dem Alter der Made übereinstimmt."
Müde sitzt Benecke vor seinem Laptop. Die dritte Kanne des Tages steht dampfend neben ihm. Er schreibt seinen Bericht. "Die Polizisten im Nachtdienst lachen immer, wenn nachts das Fax klingelt und mein Bericht herauskommt", schmunzelt der Biologe. Doch der Vorteil liegt auf der Hand: "Bei der morgendlichen Lagebesprechung haben die Kripo-Ermittler alle Fakten bereits auf dem Tisch."
Der Leichenfund im Wäldchen bei Bochum: Alles deutet auf Suizid. "Die Fliegen, die die Maden abgelegt haben, kommen in der Umgebung vor. Die Löcher in der Haut stammen von Käferfraß." Benecke wird nie erfahren, warum sich der
Mann das Leben genommen hat. "Das gehört auch nicht zu meiner Arbeit."
Ein langer Tag geht zu Ende. Zum Glück hat Beneckes Handy nicht mehr geklingelt. "Es kommt oft genug vor, dass ich eine Untersuchung gerade abgeschlossen habe - und ich schon zum nächsten Tatort muss." Müde geht er ins Bett.
Im Nachtbericht der Kölner Polizei heißt es später: keine besonderen Vorkommnisse. Benecke schläft durch. Erst kurz vor acht meldet sich die Roboter-Stimme seines Handys wieder: "Alarm, Alarm" ...
Mit herzlichen Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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