1996 Kriminalistik: Die DNA-Beweise im Fall Simpson
Quelle: Kriminalistik, Heft 50/1996, Seiten 481 bis 483
Die DNA-Beweise im Fall Simpson
(DNA evidence in the O. J. Simpson trial)
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VON MARK BENECKE
Im Strafprozeß gegen den Ex-Footballspieler O.J. Simpson, der mit einem Freispruch endete, zeigte sich erneut die enorme Leistungsfähigkeit der DNA-Typisierung. Dennoch führten die Schwächen und Eigenheiten der amerikanischen Rechtsprechung dazu, daß die DNA-Beweise letztlich wenig Gewicht erhielten. Weil der Fall Simpson derjenige ist, auf den wir im Moment am häufigsten angesprochen werden, soll er an dieser Stelle einmal im Detail betrachtet werden. Zugleich soll eine Übersicht über den heutigen Stand der Individualidentifikation mittels DNA-Analyse gegeben werden, die zeigt, daß Verläßlichkeit und Geschwindigkeit der Diagnosestellung weiter zunehmen.
Der Prozess
Am 12. Juni 1994 wurde O.J. Simpsons geschiedene Frau Nicole Brown und deren Freund Ron Goldman zwischen 22 und 22.20 Uhr bestialisch ermordet; die Leichen lagen im Eingangsberich des Hauses von Nicole Brown Simpson. Lebende Tatzeugen gab es nicht. O.J. Simpson, der unter anderem wegen einer oft als Flucht interpretierten Autofahrt in Mordverdacht geraten war, verweigerte die Aussage.
Anklage und Verteidigung bildeten von vorneherein je ein gemischtes Team aus schwarzen und weißen Anwälten. Damit wurde der in den Vereinigten Staaten bis zum Exzeß betriebenen Diskussion um politische correctness (PC) vorgebeugt bzw. genüge getan. Die Eltern des Richters Lance Ito stammen aus Ostasien, was diesen über den möglichen Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit heraushob. Andere Prozeßteilnehmer hatten es da schwerer - so mußten sich Polizeibeamte im Gerichtssaal fragen lassen, ob sie jemals das abwertende Wort «nigger» gebraucht hätten. Der daraus abgeleitete Rassismusvorwurf kann einen Zeugen - vollkommen unabhängig von seiner Sachkompetenz - vor der Jury bereits unglaubwürdig machen. Auch die an den Nobelpreisträger und Sachverständigen Kary Mullis gerichtete Frage, ob er längere Zeit LSD genommen habe (was dieser freimütig zugesteht), zielte in diese Richtung. Man sieht, wie sehr die Grenze zwischen Tatsachen, Vermutungen und irrelevantem Gerede bewußt verwischt wurde. Aus der Sicht unseres Rechtssystemes sind diese taktischen Manöver nicht akzeptabel, zumal sich die psychische Verfassung mehrerer Geschworener im Verlaufe des monatelangen Simpson-Prozesses nicht zuletzt wegen ihrer Unterbringung in einem abgeschirmten Hotel erheblich litt. Mehrere Jurymitglieder mußten deshalb entlassen werden, so daß Mitte 1995 nur noch zwei Ersatzschöffen zur Verfügung standen; bei weniger als zwölf Schöffen aber wäre der Prozeß wegen des Einspruches von Anklage und/oder Verteidigung geplatzt. Bei gleichem Stimmverhältnis (6:6) hätte der Prozeß sogar ohne Entscheidung enden können. Da von Seiten der Anklage und der Verteidigung eine ausgesprochene Meinungspolarisierung angestrebt war, spielten die objektiven Beweise aus der DNA-Untersuchung der auf dem Grundstück von Nicole Brown Simpson gefundenen Spuren sowie eines blutbefleckten Handschuhes eine herausragende Rolle.
Prozeßbeobachter berichten, daß es den Geschworenen schwer fiel, diesem elementaren Teil der Beweisaufnahme - dem Bericht über die DNA-Typisierungsergebnisse - zu folgen. Immerhin wurde die Einführung in dieses Thema durch Dr. Robin Cotton, der Vorsitzenden der mit einigen Typisierungen beauftragten Firma Cellmark Diagnostics, als didaktischer Höhepunkt beschrieben.
Die Technik
In den letzten Jahren hat sich die 1985 von Professor Alec Jeffreys erdachte Methode der Untersuchung des Erbgutes zu Identifizierungszwecken erheblich verändert. Zwar werden nach wie vor sich wiederholende DNA-Bereiche untersucht, deren genetische Funktion bislang unbekannt ist, doch liegen diese an anderen Stellen des Erbgutfadens DNA und werden auf andere Weise sichtbargemacht. Zugleich basieren die heute errechneten Individualisierungswahrscheinlichkeiten einer Tatortspur auf anderen statistischen Methoden. Die eigentlichen «genetischen Fingerabdrücke» - diesen Namen hatte ihr geistiger Vater Jeffreys ersonnen - entstehen dadurch, daß große Mengen genomischer (das heißt aus dem Zellkern stammender, unfragmentierter) DNA mithilfe von Schneideenzymen in definierte Stücke zerkleinert und auf einem Agarosegel elektrophoretisch aufgetrennt wird. Die gesuchten, sich wiederholenden DNA-Bereiche (sogenannte variable number of tandem repeats, VNTRs) werden nun unter allen ihrer Größe bzw. Länge nach aufgetrennten DNA-Fragmenten von «Sonden» erkannt. Als Sonden dienen den VNTR-Bereichen komplementäre DNA-Stücke, die durch radioaktive oder chemolumineszente Markierung sichtbargemacht werden. Das individualspezifischen Muster der Fragmentlängen (restriction fragment length polymorphism, RFLP) erlaubt die sichere Identifizierung von Personen bzw. die Klärung von Vaterschaften.
Daß das klassische RFLP-Verfahren technisch einwandfrei ist, zeigte erst kürzlich wieder der zweimal jährlich stattfindende Ringversuch unter fast allen forensisch arbeitenden Labors aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden und anderen benachbarten Staaten. Der einzige Nachteil der RFLP-Technik in praxi ist die große Menge benötigter DNA (5-10 µg) - bei Vaterschaftsfällen kein Problem, bei winzigen Blut-, Sperma oder Speichelspuren jedoch eine nicht überwindbare Beschränkung. Daher nutzen immer mehr Labors die Methode der DNA-Vervielfältigung durch die Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR), für deren Entwicklung Kary Mullis 1993 den Nobelpreis erhielt. Durch die Wahl geeigneter DNA-Startermoleküle wird bei der PCR-Typisierung nicht das gesamte Genom zerschnitten und aufgetrennt, sondern es werden ausgewählte, polymorphe DNA-Strecken vervielfältigt und dargestellt. Daher benötigen die Labors eine wesentlich geringere Menge an Ausgangs-DNA. Von den für rechtsmedizinische Untersuchungen geeigneten, bis zu hundert DNA-Bereichen werden im täglichen Laboreinsatz etwa fünf bis zehn regelmäßig verwendet.
Weil die durch PCR vervielfältigten DNA-Bereiche wesentlich kürzer sind (max. 500 DNA-Bausteine oder Nukleotide) als beim Restriktionslängenpolymorphismus (bis ca. 20.000 Nukleotide), kann auch DNA, die durch Trockenheit, Licht oder sonstige Umwelteinflüße zerbrochen ist, noch typisiert werden. Winzige Blutspritzer auf einer Hose, Speichel an Zigarettenkippen oder einem Kaugummi sowie ausgefallene Haare sind daher heute sicher individualisierbar.
Mittlerweile trennen einzelne Labors die vervielfältigten DNA-Stücke nicht nur der Länge nach auf, sondern untersuchen sie zusätzlich Nukleotid für Nukleotid mittels der Sequenzanalyse. Auf diese Weise werden auch die kleinsten überhaupt vorhandenen Unterschiede zwischen einzelnen Individuen dargestellt.
Mit der immer gründlicheren Kenntnis der untersuchten DNA-Bereiche nimmt die Aussagekraft der DNA-Typisierung weiter zu. Interlaborielle Vergleiche garantieren nicht nur die volle Reproduzierbarkeit der Ergebnisse: Breitgefächerte Untersuchungen der Verteilung der untersuchten DNA-Bereiche (Allelfrequenzen) innerhalb verschiedener Populationen (auch Rassen) ermöglichen darüberhinaus präzise mathematische Aussagen zur Wahrscheinlichkeit, mit der eine Spur einer verdächtigen Person (oder ein Kind einem Vater) zugeordnet werden kann. Beide Verfahren - RFLP und PCR - wurdem im Fall Simpson benutzt.
Die DNA-Beweise im Prozeß
Auf dem Grundstück von Nicole Brown Simpson wurden insgesamt an sieben Stellen biologische Spuren (Blut und Fingernagelmaterial) sichergestellt. Besonders informativ waren dabei Blutstropfen auf dem Gehweg, die sowohl mit der klassischen Typisierungsmethode (RFLP) als auch mittels der neuen Methode (PCR) untersucht wurden. Die Wahrscheinlichkeit, daß die genannten Blutspuren von O.J. Simpson stammten, wurde zu 1:240.000 (PCR) und 1:170 Millionen (RFLP) errechnet.
Auch auf dem Gelände in und um O.J. Simpsons Heim wurde Blut gefunden. Wieder belasteten mehrere Spuren Simpson: Drei Blutstropfen auf Socken, die in seinem Schlafzimmer gefunden wurden, konnten mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:21 Milliarden seiner Exfrau zugeordnet werden. Allein von einem blutbefleckten Handschuh, der hinter einer Mauer von Simpsons Grundstück lag, wurden elf Materialproben anhand von insgesamt 22 RFLPs und 17 PCR-Polymorphismen untersucht. Das Blut am Handschuh stammte mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:41 Milliarden von Ron Goldmann, dem Freund von Frau Simpson.
Als verfahrenstechnische Besonderheit wurden die DNA-Beweise im Prozeß nicht in Form von Aus- oder Einschlußwahrscheinlichkeiten präsentiert. Dies sollte von vorneherein verhindern, daß die Verteidigung etwaige Zahlenwerte als zu abstrakt hinstellen würde oder daß die Medien durch lax formulierte Wahrscheinlichkeitsangaben irreführende Ergebnisse veröffentlichen würden (dennoch geschah beides). Der Jury wurde vielmehr mitgeteilt, welche der drei beteiligten Personen (Simpson, Brown Simpson, Goldmann) als Verursacher jeder einzelnen Spur nicht ausgeschlossen werden konnte. Ernste Bedenken gegen die DNA-Typisierung als Methode ließen sich zum Zeitpunkt des Simpson-Prozesses nicht mehr erbringen. Selbst Dr. Eric Lander aus Cambridge, der Ende der achziger Jahre durch ein vernichtendes Gutachten eine Kontroverse um die statistische Sicherheit der DNA-Typisierung mitausgelöst hatte, war sich mit Dr. Bruce Budowle vom FBI einig: «The DNA fingerprinting wars are over». Der einstmals heftige Streit führte im Gegenteil dazu, daß regelmäßige Laborvergleiche, computergestützte Auswertungsverfahren, bei denen in jedem Schritt die optische Darstellung der DNA-Fragmente beibehalten bleibt, sowie breitangelegte populationsgenetische Untersuchungen durchgeführt wurden; routinierte Laborteams garantieren seitdem die sichere Handhabung der DNA-Typisierung.
Die Verteidigung
Wegen der erdrückenden Beweislast der DNA-Untersuchung verlegte sich die Verteidigung Simpsons nun darauf, die Herkunft der fraglichen Blutspuren und nicht die DNA-Typisierung anzuzweifeln (zur Diskussion stand unter anderem die mögliche künstliche Spurenlegung durch einen Polizeibeamten). Betrachtet man die oben genannten Wahrscheinlichkeiten und Fundorte der Spuren, so erkennt man deutlich, daß besonders die ausgewalzte Diskussion um die Herkunft des blutigen Handschuhes viele Züge einer der Ablenkung dienenden show trug.
Sowohl die Beamten, welche die Beweise sichergestellt hatten, wurden von der Verteidigung persönlich in Mißkredit gebracht (ob zurecht oder zu Unrecht soll hier nicht beurteilt werden) als auch die Spurensicherung an sich. Von einem schlampigen («sloppy») Vorgehen der Polizisten und Wissenschaftler mit der Gefahr der Kontamination der Spuren wurde gesprochen. Die Verteidigung wußte dabei sehr wohl, daß die Verunreinigung einer Spur durch einen Beamten oder Wissenschaftler - hätte eine solche stattgefunden - die DNA-Typisierung im Fall Simpson kaum hätte stören können: Die Typisierungsmuster aller Beteiligten waren bekannt und konnten bei der Auswertung berücksichtigt werden. Dennoch gelang es den Verteidigern, darunter den in Amerika sehr bekannten Anwälte Johnnie Cochran junior und Robert Shapiro durch hauchdünne Mutmaßungen, die hieb- und stichfeste DNA-Analyse zu unterwandern.
Schlußbemerkung
Es ist anzunehmen, daß eine strenge Berücksichtigung wissenschaftlich gewonnener Tatsachen den Ausgang des Strafprozesses im Falle Simpson geändert hätte. Während deutsche Richter DNA-Beweise anfangs zögerlich verwendeten und damit wacklige Gutachten, wie sie vor zehn Jahren in den Vereinigten Staaten vorgelegt wurden, gar nicht erst ermöglichten, bewirkt die Art amerikanischer Strafprozesse mit Geschworenen, daß alle Sachbeweise - auch DNA-Typisierungsergebnisse - vollkommen willkürlich gewichtet werden können. Ob es sich wirklich um einen «Kulturschock» handelt, wenn Richter, Geschworene und Wissenschaftler im Gerichtssaal aufeinandertreffen, wie es die angesehene Wissenschaftszeitschrift «Science» vermutet, bleibt dahingestellt. Vielmehr ist zu hoffen, daß die unwürdige Schwerpunktverlagerung weg von den Tatsachen und hin zu Spekulationen nur im Einzelfall des Simpson-Prozesses dazu geführt hat, daß Sachbeweisen unverdient wenig Bedeutung beigemessen wurde.
Literatur
Lesetipps
- Mordfall Claudia Ruf
- Unvoreingenommenheit als Lebensmotto
- Stephan Harbort (2004) "Ich musste sie kaputt machen" -- Anatomie eines Jahrhundert-Mörders