2016 09 Hildesheimer Allgemeine Zeitung: Leben nach dem Tod
Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, online-Ausgabe vom 22. September 2016
Der Herr der Maden kommt nach Hildesheim
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VON THOMAS WEDIG
Die Interview-Anfrage aus Hildesheim erreicht Mark Benecke, als er gerade vor dem Postschalter in Dresden wartet. Der Herr der Maden reagiert sofort, schickt ein Selfie aus der Warteschlange. Ein etwas schräges Foto von einem schrägen Typen: Wenn es eine Steigerung von schillernd gäbe, träfe es wohl auf ihn zu, obwohl er meist eher in gruftigem Schwarz daherkommt. Benecke macht am 1. Oktober auf einer erfolgreichen Gratwanderung in Hildesheim Station: Er bringt ein todernstes Thema offenbar so unterhaltsam herüber, dass er damit fast eine Art Popstar-Status erreicht hat. Freilich nicht nur durch seine international gefragte Arbeit als einer der weltweit bekanntesten Kriminalbiologen, sondern wohl auch durch das Skurrile, das seine Persönlichkeit ergänzt: Benecke ist großflächig tätowiert und Präsident eines Tattoo-Clubs, er moderiert alle Jahre wieder das Amphi-Festival der schwarzen Szene, außerdem macht als nordrhein-westfälischer Landesvorsitzender der Partei, die sich Die PARTEI nennt, Furore. Daneben ist er Präsident einer internationalen Dracula-Gesellschaft und bekennender Anhänger des Donaldismus, also der Erforschung der Familie Duck und des Universums von Entenhausen.
Leben nach dem Tod
Sein Lieblingsthema ist allerdings das Leben nach dem Tod, wie es in einer Presseinformation zu seinem Auftritt an der Innerste heißt. Genau gesagt: Was das Leben von Maden auf Leichen über deren Todesumstände aussagt. Forensische Entomologie nennt sich die Wissenschaft, mit der Benecke weltweit Kriminalfälle aufklärt – und später darüber berichtet. Wie demnächst in Hildesheim. Die Redaktion erreicht ihn telefonisch, als er sich gerade auf einen ähnlichen Auftritt in Pirna bei Dresden vorbereitet. Was die Zuhörer in Hildesheim erwartet? Da muss Benecke erst mal in seinem Laptop kramen. „Ich mache bei den Vorträgen ja jedesmal etwas anderes“, sagt er entschuldigend mit gefühltem Schulterzucken und hat das Thema gefunden: „Bakterien, Gerüche und Leichen“, liest er vor.
Gar nicht eklig
Ist das nicht eklig? „Nein“, sagt Benecke, startet ein paar Versuche zu erklären, warum es nicht eklig ist, bricht ab und setzt einfach noch ein bisschen Nachdruck drauf: „Nein, das ist gar nicht eklig.“ Es gehe um Spurensuche, sagt der Kriminalbiologe, der sich schon daran gewöhnt hat, immer wieder fälschlicherweise als Gerichtsmediziner bezeichnet zu werden: „Um anfassbare, messbare Spuren.“ In Hildesheim begibt sich Benecke mit seinem Publikum im Audimax der Universität auf diese Spurensuche. Schließlich knüpfen seine Vorträge an die Tradition von Vorlesungen an. „Da müssen die Leute drei Stunden auf dem Stuhl sitzen“, sagt der 45-Jährige und zieht für sich daraus den Schluss: Eine Vorlesung muss einfach unterhaltsam sein. „Infotainment“ heißt das Etikett, das der Veranstalter dem Auftritt verpasst. Für Benecke ist eine solche Kategorie eigentlich überflüssig, er meint: Ein Vortrag sollte immer unterhaltsam sein.
Geruchsproben zu seinen Erläuterungen rund um die Leichen hat er übrigens nicht im Gepäck. „Das ist schon schwierig, weil ich immer viel mit dem Zug herumgurke“, meint er schmunzelnd und holt die Gerüche, um die es geht, aus Horror-Vorstellungen auf den Boden der Tatsachen zurück. „Das riecht oft gar nicht so ungewöhnlich“, sagt er, „manchmal ein fach nur nach Käse.“
Überhaupt, Benecke schafft es, dem mutmaßlichen Ekel-Thema den Schrecken zu nehmen und es trotzdem spannend zu gestalten. So hat er sich zum gefragten Gast in unterschiedlichen Fernsehsendungen entwickelt, auch in Unterhaltungsshows. In erster Linie ist er allerdings ein ernsthafter Wissenschaftler, der meist gleichzeitig an verschiedenen Fällen tüftelt, die aus der ganzen Welt an sein Labor herangetragen werden – manchmal handelt es sich dabei um Fälle, die viele Jahre zurückliegen.
Hohe Hürden vor Wiederaufnahme
In Deutschland stehen vor einer Wiederaufnahme oft hohe juristische Hürden, ist Beneckes Erfahrung. Und Betroffene, die womöglich unschuldig im Gefängnis sitzen, seien hierzulande eher zurückhaltend, wenn es darum geht, alte Fälle neu aufzurollen. „Hier glaubt man noch, dass es eine Art Gerechtigkeitsglücksfee gibt, die dafür sorgt, dass alles gut wird“, sagt Benecke.
Dass er sich eher zur Gothic-Szene der düsteren Feen hingezogen fühlt, hat nach seiner Einschätzung nichts mit einer Affinität zum Tod zu tun, dem er im Job ständig begegnet. „Ich glaube, da bin ich unter meinen Kollegen der einzige“, überlegt er und ergänzt: „Mediziner sind ja eher konservativ. Es ist vor allem auch die Art von Musik, die ich mag.“ So ist ihm natürlich auch das Hildesheimer M ́era-Luna-Festival der Schwarzgekleideten ein Begriff. Besucht hat er es indes noch nicht. Ein Grund ist auch der volle Terminkalender: Heute Pirna, morgen Hildesheim. Aus dem Labor geht es weiter ins Fernsehstudio.
„Popularität ist ein Sumpflicht“
Ob er sich vorher vorstellen konnte, dass er mit seiner Tätigkeit einmal so viel Aufmerksamkeit erregen würde? „Nö“, sagt er, „aber das ist mir auch egal. Darüber habe ich nie nachgedacht. Die Popularität ist ein Sumpflicht. Das kann im nächsten Atemzug wieder vorbei sein.“
Mit großem Dank an Thomas Wedig für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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