Kirchschlagers Curiositaeten Cabinett: Das besondere Gespraech

From Mark Benecke Forensic Wiki
Revision as of 15:34, 15 June 2020 by Nico (talk | contribs)
(diff) ← Older revision | Latest revision (diff) | Newer revision → (diff)
Jump to navigation Jump to search
Kirchschlagers logo.jpg

Quelle: KIRCHSCHLAGERS CRIMINAL- & CURIOSITÄTEN-CABINETT (2005), Seiten 164-183


Im besonderen Gespräch mit Dr. Mark Benecke, Kriminalbiologe

[Weitere Artikel von MB] [Artikel über MB]

Klick für's PDF!


Zur Person: Dr. Mark Benecke, Jg. 1970, studierte Biologie an der Universität Köln und promovierte am Institut für Rechtsmedizin auf dem Gebiet der Kriminalbiologie. Bekannt wurde der Forensiker, der in den Medien auch als »Madendoktor« bezeichnet wird, nicht nur wegen seiner speziellen kriminalistischen Untersuchungsmethoden, sondern auch aufgrund zahlreicher Fernsehsendungen und Publikationen (u. a. Mordmethoden; Lachende Wissenschaft – Aus den Geheimarchiven des Spaß-Nobelpreises; So arbeitet die moderne Kriminalbiologie).

Ich führte das Gespräch mit Dr. Mark Benecke am 7. Dezember 2005 in seiner Kölner Wohnung.


Herr Dr. Benecke, wie wird man Kriminalbiologe?

MB: Eigentlich existiert der Beruf des Kriminalbiologen in Deutschland gar nicht. Es gibt ihn nur in angloamerikanischen Ländern, weshalb man in Deutschland darunter eher eine Tätigkeitsbeschreibung versteht. Ich bin beispielsweise öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren. Bei der Polizei würde ich vermutlich bei der »Spurensicherung« (Erkennungsdienst oder Kriminaltechnik) arbeiten.

Meine großen Vorbilder als Jugendlicher waren Batman und Spiderman aus den Marvel-Comics und der Blade Runner, der humane Androiden erkennt. Wo ich gerade darüber nachdenke, bin ich auch tatsächlich ein bisschen wie alle drei geworden: Spiderman (Peter Parker) studiert Biochemie und fotografiert ewig, Batman hat einen Tick mit Ausrüstungsgegenständen, die er am Gürtel trägt, und der Blade Runner erkennt, ob ein Mensch echt oder nachgebaut ist ... und alle drei sind stur und lösen Kriminalfälle. Vielleicht bin ich deswegen unbewußt tatsächlich in die naturwissenschaftliche Kriminalistik gerutscht. Während meiner Diplomarbeit in der Rechtsmedizin schaute ich mir aus reiner Neugier die Insekten auf den Faulleichen an, denn wirbellose Tiere sind meine Lieblinge. So ging es hin und her: Auf einmal fragten mich die Polizisten, was ich an den Leichen-Insekten so spannend finde, ich besorgte mir daraufhin Veröffentlichungen zum Thema usw.

Dann kamen die ersten offiziellen Anfragen von RichterInnen und PolizistInnen ... es war also eher Zufall, Forensiker zu werden. Wenn ich nicht unten bei den Biologen im Keller der Rechtsmedizin gearbeitet hätte, wäre ich nie dazu gekommen. Wären die Polizisten nicht rübergekommen – allerdings wohl ursprünglich wegen der hübschen und intelligenten Biologinnen im Labor –, wäre ich wohl auch nie gefragt worden, ob ich für die Kriminalpolizei arbeiten würde.


Hatten Sie schon früher, vielleicht als Jugendlicher, Intentionen, sich dem Beruf des Kriminalisten zuzuwenden?

MB: Ich besaß von mir vielgeliebte Physik- und Chemie-Kästen, war aber wie viele Jungs auch kriminalistisch interessiert. Allerdings habe ich auch Staub, Schneeflocken (kann man in Lack fangen) und so weiter untersucht. Wenn mich jemand gefragt hat, habe ich aber immer gesagt, daß ich Koch werden will.


Wie paßt das zusammen?

MB: Beim Kochen ist es ja eigentlich wie im Labor: Man mischt einige Substanzen zusammen, und es kommen je nach Ausgangsbedingungen und Zubereitung verschiedene Ergebnisse heraus. Im Labor heißt das »systematische Variation«, beim Kochen Geschick.

Kochen ist für mich aber keine große Sache – ich halte mich auch nie mit komplizierten Speisen auf, sondern finde Kartoffeln, Tomaten, Möhren und Brot ein großartiges Essen. Mit teurem französischen Wein kann ich darum auch nichts anfangen, er ist mir zu versponnen.

Viel lieber trinke ich einen meinetwegen auch ruppigeren Cabernet beziehungsweise Tempranillo aus Italien oder Spanien oder ein leckeres Bier.


Können sie unseren Leser einen Tag eines Kriminalbiologen schildern, vielleicht mit ein paar Fallbeispielen? Sie sind ja immer auf Achse!

MB: Das stimmt, es ist nie langweilig. Ich habe wie alle Freiberufler keinen festen Tagesablauf. Gestern z. B. habe ich PolizeischülerInnen Fälle und Tatortbilder gezeigt – vornehmlich Insekten auf Leichen. Dann bearbeite ich Akten, wie z. B. die Wiederaufnahme eines Falles, dann rekonstruiere ich die Blutspurenverteilungen an Tatorten.

Bei den Blutspuren geht es meist darum, die letzten Sekunden einer Tat zu verstehen: Wer bewegte sich wann wo wie? Auch beantworte ich die oft gestellte Frage: Wie lange lag die Leiche da? Anhand der Maden kann ich manchmal ziemlich genau die Leichenliegezeit bestimmen. Es kommt aber wirklich immer auf die Kenntnis des Fundortes an. Wenn es irgendwie geht, versuche ich also immer, auch Jahre später, vor Ort zu gehen. Dort gibt es stets noch etwas zu entdecken, zum Beispiel, ob ein Ort im Schatten liegt oder ob die Wände Risse aus dem Krieg haben usw. Das alles beeinflusst die Bewertung meiner Spuren.

Einer verschreckten Privatperson, die meint, unter ihrer Haut leben Insekten, konnte ich die frohe Mitteilung machen, daß es sich dabei nur um Fasern handelt, die aber unter dem Vergrößerungsgerät, daß sie sich gekauft hat, wirklich wie Insekten aussehen, wenn man es sich einbilden möchte. Oft haben diese Menschen auch eine Borreliose, so daß es sie tatsächlich »unter der Haut« jucken kann.

Manchmal verbringe ich den ganzen Tag am Tatort oder stelle im Labor etwas nach. Dabei kleben wir Blutbeutel an Schweine oder Freiwillige und überprüfen dann im Experiment die Blutspurverteilung.

Vorgestern haben meine Assistentin und ich ein mumifiziertes Insekt gefunden, worauf wir eine Wette eingingen. Sie meinte, es sei eine Biene, ich sagte, es sei eine Schwebfliege.


Was war es?

MB: Eine Schwebfliege. Das war aber Glück, ich verliere natürlich genauso oft, wie ich gewinne, denn sie kennt sich mit anderen Fliegengruppen besser aus.


Ist das eine besondere Fliege?

MB: Zumindest eine besonders schöne. Offenbar kann man sie sogar mit Bienen verwechseln, wohl wegen der hübschen Färbung und dem scheinbaren Pelzchen.


Was war ihr schlimmster Fall?

MB: Für mich sind alle Fälle gleich. Sehr interessant sind Fälle, in denen Geheimdienste mitarbeiten. Da sterben natürlich Menschen, aber es ist andererseits klar, daß es Geheimdienste sind, die versuchen, an höheren, eigentlich politischen Zielen zu arbeiten. Da verschlägt es einem schon mal öfter die Sprache. Die Welt der Menschen funktioniert auf vielen Ebenen nicht so, wie es Laien meinen.

Ich finde Fälle auch nicht eklig oder furchtbar oder traurig. Das hilft mir, denn die Einordnung von Taten ist oft eine rein kulturelle. Weil ich in verschiedenen Kulturen arbeite, merke ich sehr oft, wie begrenzt ich vorher in meinen Annahmen war: Die kulturelle Vorannahme stimmt oft einfach nicht.

Ein Beispiel dafür sind Köpfungen. Wir denken meist, daß sie nur passieren, wenn Leute im Blutrausch Amok laufen oder ein politisches Symbol setzen wollen. Man muß aber weder das Symbol verstehen noch sich vom Splatter und den Horrorszenarien beeinflussen lassen. Oft ist ein Köpfung nur eine an Tieren als Schächtung ganz normal durchgeführte Handlung, die in einer bestimmten Situation nun an einem Menschen vorgenommen wurde. Das offensichtlich Grauenvolle hat aber nichts – wirklich gar nichts – mit den kriminalistisch interessanten Teilen des Falles zu tun.

Mir fällt jetzt doch ein Moment ein, in dem ich mich wirklich körperlich erschrocken habe. In einem Terrorismusfall fragte uns die Verteidigung nach dem alles entscheidenden bruchstückhaften Fingerabdruck. Ob der wirklich von der verteidigten Person stammt? Dann wäre der Mandant nämlich wirklich der Tat überführt. Wir projizierten den Haut-Abdruck mit einem Beamer riesengroß auf die Wand und drehten ihn hin und her. Erst dachten wir, daß er nicht zu den Vergleichshautleisten paßte. Doch auf einen Schlag setzten sich die Linien zusammen: Es war haargenau derselbe Fingerabdruck. Wir wußten, was der Täter gemacht hatte, kraß, der war also wirklich da, der muß es gewesen sein. Meiner Assistentin und mir blieb wörtlich der Atem stehen.


Wie treten die Auftraggeber an sie heran?

MB: Per Anruf. Mittlerweile unterteilen sich meine Auftraggeber zu etwa gleichen Teilen auf Staatsanwaltschaft und RichterInnen, ein Drittel sind Privatleute und etwa zehn Prozent Firmen, die beispielsweise die Überprüfung von Mobbingbriefen wünschen, was ich an den biologischen Spuren erkenne. Pharma- und Lebensmittelfirmen wenden sich an mich, wenn Insekten in einem Arzneimittel oder in Lebensmitteln aufgefunden werden. Hier bestimme ich dann Herkunft und Stadium des Insektes.

Auch Museen und Restauratoren zählen zu meinen Auftraggebern. Dort überprüfe ich z. B. zerfressene Skulpturen und beantworte die Frage: Wurde das Kunstwerk vor dreißig Jahren oder durch Unachtsamkeiten bei der jetzigen Ausstellung oder Lagerung von Insekten geschädigt?

Ich bin auch schon mit einer Spraydose über die Böden eines Vierfamilienhauses gerutscht und habe markiert, wie weit die Leichenflüssigkeit eines verstorbenen Mieters in den Estrich aller Etagen gelaufen ist. Das Haus mußte daraufhin zersägt werden. Ein unglaubliches, für mich wunderschönes Auftragsgemenge also, das immer auf biologischen Spuren fußt.


Sie forschen auch noch?

MB: Neben meiner Forschungsarbeit gebe ich als Gastprofessor unter anderem auch Kurse an Universitäten in sich wirtschaftlich entwickelnden Ländern, allerdings zahlen die nur einen symbolischen Betrag oder die Flugkosten. Macht aber nichts, denn ich liebe unsere verrückte Welt und sehe auf diese Art unglaubliche Dinge, ohne mich um touristischen Quatsch kümmern zu müssen. Anmerkung: Im Flur seiner Wohnung hat der Kriminalbiologe eine große Weltkarte an der Wand hängen, die über und über mit Nadeln gespickt ist. Ich sehe die bunten Nadelköpfe auf allen Kontinenten sehr zahlreich stecken, außer auf Afrika. Ich spreche Dr. Benecke darauf an.


In Afrika sind sie kaum tätig, warum?

MB: Leider stimmt die Aussage, daß Afrika ein verbrannter Kontinent ist. Es herrscht dort – natürlich auch durch Europäer bewirkt – ein derartiges Chaos, daß an konzentrierte fachlich-kriminalistische Arbeit nicht zu denken ist. Weiter als Marokko habe ich es noch nicht geschafft, und selbst dort bin ich nur gegen Zahlung einer irrwitzigen Summe wieder aus den Fängen einiger zwielichtiger Typen entkommen. Die Menschen fürchten die Polizei dort zwar, aber aus den falschen Gründen.


Sind sie Idealist?

MB: Eher verbissen. Ich will meinen Job unbedingt leben. Mein Ideal ist die Wahrheitsfindung, ganz stumpf. Ich frage mich nicht, was das alles bedeutet, sondern ich akzeptiere, daß es so ist, wie es ist. Ein Idealist hätte wohl höhere Ziele, etwa die Besserung der Menschheit oder so etwas.


Sie werden ja immer als der »Madendoktor« oder »Doktor Made« bezeichnet. Ist das Fernseh-PR, oder was steckt tatsächlich dahinter?

MB: Die Namen stammen komischerweise von Gerichtsmedizinern und Präparatoren. Denn die finden faule Leichen und erst recht Maden genauso ekelig wie alle anderen Menschen, aber durch einen Witz wird man dann der »Madendoktor« und kann mit diesen Spuren gemeinsam arbeiten. Das ist offenbar wichtig, um dem Ekel, den die KollegInnen bei der Arbeit nicht vermeiden können, einen Kanal zu geben.

Ich sehe es auch als nette Ehre an, treffende Spitznamen zu haben – besser als andere Menschen, die sich mit fies gemeinten Bezeichnungen herumärgern müssen, weil sie charakterliche Ekel sind.


Wie funktioniert das eigentlich mit den Maden? Kann man wirklich an der Größe erkennen, wie lange eine Leiche schon liegt?

MB: Die Länge der Maden verrät oft die Liegezeit der Leiche, weil die Maden um so länger sind, je älter sie sind. Natürlich muß man viele Umwelteinflüsse kennen, um hier vernünftige Aussagen zu erzielen, aber in der Praxis hat sich die Methode gut bewährt. Man kann auch Gifte in den Tieren finden, die in der nun zersetzten Leiche nicht mehr zu finden sind: Die Leichen-Insekten haben diese Substanzen mitgefressen.

Auch die Lage einer Leiche spiegelt sich manchmal in ortstypischen Insekten wider, etwa durch Ameisen, die nur selten vorkommen oder Fliegen, die nur an Waldrändern leben. Wird die Leiche danach verbracht (woanders hingetragen), so verraten die an der Leiche haftenden, ortsuntypischen Tiere die Verbringung. Sehr viele weitere Beispiele, mit Bildern, finden Sie in meinem Buch Dem Täter auf der Spur: So funktioniert die moderne Kriminalbiologie.


Im Herrenzimmer des Kriminalbiologen schlägt mein Historikerherz höher. Ein Ordner fällt mir besonders auf: Vampirismus. Ich frage meinen Gesprächspartner unumwunden: Vampire? Sind sie ein Vampirologe?

MB: Ich vertrete den klinischen Vampirismus. Wir suchen uns aus historischen Quellen alle sicheren Vampirzeichen heraus und konnten bislang noch jedes davon auf eine Fäulniserscheinung zurückführen. Es ist also kein reiner Aberglaube, wenn die Toten schmatzen oder gebläht im Sarg liegen, sondern es handelt sich um gültige, richtige Beschreibungen von faulenden Leichen. Die Schlußfolgerung, daß es sich um Vampire handeln muß, ist der einzige Fehler. Der ist aber in einer einsamen Mondnacht sicher verzeihlich.


Gibt es heute noch solche Fälle?

MB: Ja, in Südosteuropa wurde vor ungefähr eineinhalb Jahren noch eine Leiche ausgegraben. Der Tote hatte die Familie aus dem Grab heraus krank gemacht, weil er sie so liebte und vermißte. Er wollte sie daher zu sich in die Erde holen. Der Tote ist also nicht böse gewesen, sondern handelte aus Liebe und Einsamkeit! Sein Herz wurde dann auf der Straßenkreuzung verbrannt, in Wein aufgelöst und von den Verwandten getrunken. Da das Herz der Sitz der Liebe ist, waren sie nun wieder alle vereint. Die Dorfbewohner hingen die Sache zwar nicht an die große Glocke, stehen aber bis heute zur Enterdigung, obwohl sie natürlich verboten ist. Die Geschichte der Vampirismusausbreitung ist übrigens sehr interessant, meine Kollegen und ich haben alle Zeitungsausschnitte aus den letzten Jahrhunderten dazu gesammelt. Man sollte besser von Untoten sprechen; die gibt es in vielen Kulturen. In Preußen fanden sogar Gerichtsverhandlungen deswegen statt – die Angehörigen hatten die Leichen aus Mitleid geköpft. Wir sollten darüber nicht lachen. Meine Praktikantin glaubt beispielsweise fest und ernst an Geister in meiner Wohnung und geht deswegen nicht alleine in mein Herrenzimmer. Was soll’s.

Die verschiedenen Arten von Untoten sind übrigens ganz schön verwickelt. In Schottland etwa trennt man nicht die Werwölfe von den Vampiren. In Filmen aus dieser Gegend können sie sich teils auch vereinen oder stammen von gemeinsamen Vorfahren ab, wie zuletzt im Film »Underworld«. In den USA höre ich von Jüngeren hingegen oft, daß es Vampire erst seit dem Kinofilm »Interview mit einem Vampir«, also seit 1994, geben soll. Daß es dazu auch eine Romanvorlage und abgesehen davon eine jahrhunderte-, sogar jahrtausendalte Überlieferung gibt, verschweige ich dann gerne, um nicht als Spielverderber und Kauz dazustehen. Schließlich feiern die heutigen Vampire schöne Partys, die ich nicht missen möchte.

Einer der berühmtesten Werwölfe, der Bauer Peter Stubbe aus Epprath, stammt übrigens ganz hier aus der Nähe. Er wurde 1591 in Bedburg beim weltweit bekanntesten Werwolf-Prozeß verurteilt und dann gerädert.


Haben sie neben den Vampiren noch andere, sagen wir einmal, richtige Hobbys?

MB: Ich lese und sammle historische Kriminalfälle (Pitavals) und natürlich auch Kirchschlager-Bücher (der Verleger dankt Dr. Benecke für die Werbung), aber keine Romane.

Das Bücherschreiben betrachte ich nicht als Hobby, sondern als Teil meines Berufes. Brückenkonstruktionen interessieren mich noch, genauer gesagt Bücher über Brücken und deren Bau. Ich besitze einige seltene Werke darüber, beispielsweise aus China. Ein irres Geschleppe im Flugzeug war das. Vielleicht ist es so, psychologisch unbewußt, daß ich selbst auch dauernd Brücken schaffen muß: zwischen Journalisten und Polizisten, Kulturwissenschaftlern und Naturwissenschaftlern und zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten.


Wenn sie auf Reisen gehen, was haben sie an »Instrumenten« dabei?

MB: In meiner um die Ecke maßgefertigten Ledertasche, am Gürtel, sind Dumont- und Federstahl-Pinzetten, ein SD-Speicherchip, Kompaß, Kopfhörersplitter, ein Edelstahl-Reise-Locher, faltbar (mein Lieblingsgadget), Pfeifenstopfer, ein Zeiss-Monokular, das ich sowohl als Mikroskop als auch, um in die Ferne zu gucken, benutze, eine militärische Blendlampe, die ich aber als Taschenlampe verwende, Maßstäbe, eine Digitalkamera mit Metallgehäuse, Feuerzeug, ein Vampirerkennungsring (das Erkennungszeichen für New Yorker Vampire), Taschenspiegel, USB-Kabel, Ersatzbatterien, ein Swisstool und ein Korkenzieher – immer am Mann!

Im großen Tatortkoffer habe ich noch ein Laservermessungsgerät, einen Datalogger für Temperatur usw., aber es ist alles echt recht klein und robust und oft aus Läden für Handwerker-Bedarf.

Spachtel benutze ich nicht, ich sammle alles mit Pinzetten auf. Hier sind noch Tigerbalsam (aus Vietnam – Pfefferminze) und Nasen- klammern, das ist aber nur für KollegInnen, und hier noch Ohrstöpsel, ein Paar für 20 dB Dämpfung und ein anderes für Total- Dämpfung.


Was ist ihr nächster Auftrag?

MB: Schwer zu sagen. Vorhin habe ich noch an einem Serientäterfall gearbeitet mit über 300 Opfern: 8–13jährigen Jungs; der Täter heißt Garavito, ich muß aber jedesmal nach Kolumbien, wenn wir sprechen wollen. Ich bin der einzige, der seit Jahren mit ihm redet, mit allen anderen Menschen überwirft er sich dauernd. Vielleicht hilft es, daß wir uns beide als Fachleute sehen, er mich als Kriminalist, ich ihn sozusagen als Fachmann für Serientaten. Mit den Angehörigen der Opfer spreche ich allerdings nicht, das wäre nicht zu verkraften. Es geht uns nur um die Tatabläufe, also den technischen Teil.


Wann wurde er gefaßt? Ist er ein moderner Gilles de Rais?

MB: Ich denke, daß keiner der Täter ein historisches Vorbild hat. Es fällt nur auf, daß ihre Taten sich so stark ähneln, daß man sie eigentlich als krank definieren müßte. Während wir bei der Bathory trotz der in Deutschland ordentlichen Dokumentation durch Herrn Farin nicht wissen, ob sie pädophil war oder doch nur eine Sadistin im Jugendwahn, liegen bei den homosexuellen pädophilen Sadisten drei mit unserer heutigen Heilkunde nicht veränderbare Wesenszüge vor.

Diese Züge ähneln sich so, wie sich auch ein Schnupfen dem anderen ähnelt – aber die Gesellschaft tut sich mit unheilbaren, scheinbar rein psychischen Krankheiten natürlich immer schwer und möchte die Täter lieber als Bestie sehen. Ich kann das gut verstehen, es führt die Forschung aber keinen Millimeter weiter.


Oft werden Serienmörder mit Massenmördern verwechselt. Worin besteht der Unterschied?

MB: Paraphile Serienmörder besitzen eine Zielphantasie, Garavito und Bartsch beispielsweise das langsame Totfoltern. Der tote Körper an sich ist dabei egal, der Charakter und das Aussehen der noch lebenden Opfer aber nicht. Die Opfer werden daher sorgfältig ausgewählt und müssen zur Phantasie passen, das geht bis zur Weichheit von Haaren oder der Hauttönung.

Dem Massenmörder ist das alles wurscht, er bringt auf einen Schlag viele Menschen um, die im besten Fall grob ausgewählt, in der Regel aber rein zufällig sind. Er führt und lebt auch nicht gründlich eine Zielphantasie aus, sondern legt es aufs haßerfüllte Blutvergießen an.


Sie haben sich schon mit einem echten, wahrscheinlich dem größten, Massenmörder der Weltgeschichte – Hitler – beschäftigt. Wie und warum Hitler?

MB: Tja, das frag ich mich bis heute. Vielleicht haben sie mich beauftragt, weil ich so einen schicken deutschen Akzent habe (ernst gemeint, das US-Fernsehen hatte seine Finger im Spiel) oder weil sie wissen, daß ich auch Dinge untersuche, an die sich sonst kaum wer rantraut. Ich bin politisch wohl auch unverdächtig, weil ich in so vielen Ländern arbeite.

Die Identifizierung haben wir über unabhängige Beweise vorgenommen, also Röntgenbilder des lebenden Hitler von 1944 (netterweise vom englischen Geheimdienst besorgt; mittlerweile habe ich auch die Originale in Costa Rica aufgetrieben), dann die Aussagen von Hitlers Zahnarzt und die Reflektionswinkel der Sonne an seinen Zähnen in Leni-Riefenstahl-Filmen. Das konnten wir dann mit den echten Zähnen beim KGB (heute FSB) vergleichen.

Ich habe auch mit den Übersetzern von damals gesprochen, sowohl der 5. Armee als auch der SMERSCH (militärischer Geheimdienst). Die beiden waren schon sehr alt und tüdelig, ich denke, es war das letzte Interview, das sie überhaupt noch führen konnten.

Was die meisten Menschen nicht wissen, ist, daß Hitler bis 1970 in Magdeburg begraben war. Er wurde erst auf Befehl von Andropov (als er noch KGB-Chef war) enterdigt und völlig verbrannt. Die Asche wurde in Deutschland in einen Fluß gekippt. Jedenfalls habe ich nun die zweifelhafte Ehre, als einziger Mensch hochauflösende Farbfotos von Hitlers Schädelresten und Zähnen zu haben, und im Tresor liegt auch ein Abrieb vom Sofa, auf dem er und Eva Hitler gestorben sind.

Im Grunde ist mir der Mann egal. Ich finde strukturelle Fragen viel spannender als die Frage, welcher Politiker wann wen warum wie erschossen hat. Derzeit beschäftige ich mich zum Beispiel mit dem schlechten Verhältnis von Nebe (Chef der Kripo) zu Müller (Chef der Gestapo). Gestern habe ich das erstemal mit den Polizisten auf der Fachhochschule darüber gesprochen, sie haben aber nix weiter gesagt.

Auch den kurzen, im Knast von ihm selbst geschriebenen Lebenslauf von Rudolf Hess fand ich sehr unerwartet und aufschussreich. Man sollte sich nicht scheuen, diese Texte zu lesen. Wer davon verführt wird, muß wirklich sehr ungebildet und grenzenlos naiv sein. Ich sehe da keine Gefahr.

Ich habe für das Buch So arbeitet die moderne Kriminalbiologie auch mal rausgesucht, welche Wissenschaftler wieso an den Quatsch der Rassenlehre glaubten. Leider habe ich festgestellt, daß die falsche Grundannahme doch eine harte Nuß ist, auf die auch heute noch fast jeder, einschließlich der meisten ForscherInnen, reinfallen würde.


Haben sie zur Zeit noch andere spektakuläre Fälle in Bearbeitung?

MB: Für mich und mein Team ist jeder Fall gleich spektakulär und gleich interessant. Manche Fälle werden von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen, etwa Sexualverbrechen, Gewaltverbrechen, Kuriositäten und Charakterbrüche (ein Priester, der seine Frau umbringt), und, wenn es geht, eine Tabuverletzung mit kulturell abweichendem Verhalten, am besten etwas Sexuelles. Da macht dann einer stellvertretend etwas, was man selber gerne machen oder zumindest mal anschauen würde. Ein Fiesling wird vorgeführt oder einer, der sich für superschlau hält, oder der, der mit der Kalaschnikow seinen tyrannischen Chef erschießt. Im letzten Fall identifiziert man sich mit dem Täter, in den anderen Fällen mit den Verfolgern.

Die Zuschauer im Gerichtssaal sind manchmal gruseliger als die Täter. Nehmen sie zum Beispiel die Zuschauerin »Erna P. aus Wuppertal«. Was hat Hausfrau Erna mit der verhandelten Tötung der beiden Kinder zu tun? Sie steht jeden Tag schon morgens um halb sieben vor dem Gericht, worin wurzelt das? Warum muß ich mir von 8–15 Uhr einen ausgewiesenen Kindermörder ansehen?

Warum am Leid von Schwächeren weiden? Denn das macht sie doch: Sie weidet sich am Täter und an den Taten, zieht sich das Sperma, das Blut und den Schweiß rein, so nah wie möglich, sie muß auch noch persönlich im selben Raum sitzen!


Es ist in diesem Zusammenhang eine Platitüde, aber warum sehen sich Leute die Nachrichten im Fernsehen an?

MB: Dort werden so viele Horrorgeschichten mit Bildern beschrieben, was soll das? Eine Schweizer Freundin, Claudia Rindler, die Horror-Make-ups und -Props herstellt, hat mir gerade eine DVD gegeben, auf der ein von ihren Freunden produzierter Film zu sehen ist, der eine Riesenwelle in der Schweiz geschlagen hat, weil er so gewalttätig sein soll. In haargenau derselben Nachrichtensendung (selber Tag, selber Sender, selbe Zeit), in der die angebliche Abscheu vor dem fiktionalen Film verkündet wird, werden die allergrauenhaftesten Ereignisse aus aller Welt gezeigt – und dabei fließt echtes statt Kunstblut.


Gibt es einen Fall, der sie privat »verfolgt« hat?

MB: Nein. Ich habe mich aber an einem meiner Geburtstage – die ich nie feiere – einmal gefreut. Da las ich, daß ein gefühlskalter, sehr junger Täter endlich zugegeben hatte, daß er eine gute Freundin umgebracht hatte. Der war wirklich so richtig rotzig, ich habe ihn später vor Gericht erlebt, als ich mein Gutachten vertreten habe. Das war das einzige Mal, das mich ein Fall berührt hat. Ich bin aber deswegen kein harter Knochen, sondern finde »Titanic« und alle möglichen anderen Filme ebenso rührend oder traurig wie alle anderen auch.


Sie teilen also die »Meinung« vieler Gerichtsmediziner, man sollte für diese Arbeit ein festes Weltbild besitzen?

MB: Keine Ahnung. Man darf sich meiner Meinung nach nur für Wahrheit interessieren, nicht für Gut und Böse oder die Gerechtigkeit. Ich habe überhaupt kein Weltbild. Ich arbeite in so vielen Kulturen und sozialen Umgebungen, da verliert sich das mit dem festgefügten Weltbild. Transparenz und Wahrheit scheinen mit die besten beruflichen Leitbilder zu sein. Privat kommen natürlich noch Glaube, Liebe und Hoffnung hinzu.

Muß man, wenn man sich mit solchen Dingen beschäftigt, im Kopf ein bißchen anders sein? Ich ziehe mir als Autor diese Jacke genauso an, denn sonst wäre die Frage wohl etwas frech. (Dr. Benecke nickt sofort zustimmend.) Wir beschäftigen uns ja mit Dingen, die am Rand des Randes liegen. Man muß sich dazu trauen, geistig und körperlich. Der »Normale« traut sich nicht an die Ränder und Grenzen.


Also verfolgen sie die Maden nicht des Nachts?

MB: Nein, überhaupt nicht. Ich mag die Maden. Es sind sehr interessante Tiere. Ich sehe das biologisch und schätze sie als sehr gut konstruierte Lebewesen mit interessanten Eigenschaften. Ich finde die Metamorphose super, mich fasziniert, wie aus der Larve ein völlig anderes Tier wird. Die Metamorphose fand ja auch schon Goethe super. Sie steht auch als Symbol, das sich das Leben vollkommen ändern kann. Ich finde aber auch erwachsene Fliegen interessant, die sich ja nicht mehr umwandeln.

Wenn ich durch die Gegend laufe, sehe oder beachte ich eh nur kleine Dinge: Im Hafen sehe ich keine Segeljacht oder in der Einkaufzone eine schlecht gekleidete Teenagerin, sondern die Mauerbiene oder Schmeißfliege, die drum herum summen. Ich bin ein schlechter Zeuge, wenn mal wirklich was passiert ...

Was ich übrigens nicht mag, sind Spinnen. Die muß meine Gattin wegsaugen, ich traue mich noch nicht mal mit dem Staubsauger in deren Nähe.


Jetzt folgt eine plumpe Frage: Haben sie eine Madensammlung?

MB: Jein. Die Tiere sind ja Beweismittel und müssen aufbewahrt werden. Allerdings lagere ich die Fälle in Einheitsgläschen, in Alkohol, numeriert und sortiert, das sieht recht langweilig aus. Der ganze Schrank ist voll. Aber ich bin kein Insektensammler. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Insekt aufgespießt – außer es war schon längst tot, und ich mußte es mit Hilfe einer Nadel unter dem Vergrößerungsgerät hin- und herdrehen.


Was haben sie für Pläne?

MB: Egal, oder wie Kathi Witt vorgestern gesagt hat: scheißegal. Ich habe noch nie Pläne gemacht, es ist also kein böses »Egal«, sondern das gelebte kölsche Grundgesetz: »Et kütt wie et kütt« (es kommt, wie es kommt), »et hätt noch immer jot jejange« (es ist noch immer gut gegan- gen), »et blievv nix, wie et wor« (es bleibt nichts, wie es war), »jede Jeck is anders« (jeder Mensch ist so, wie er ist) und »watt soll dä Quatsch?« (was soll der Quatsch?).

Die internationalen StudentInnen müssen diese Regeln in meinem Kurs übrigens können, wenn sie den Abschlußtest bestehen wollen – meine Art des Kultur-Transfers ...

Auf ihrem Fachschabenterrarium sah ich einen Aufkleber mit dem Spruch: Etwas Kultur muß sein. Sind sie etwa auch ein »Rammsteiner«? Mehr als das: Ich bin so überzeugt von Rammstein, daß es so ziemlich die einzige Band ist, bei denen ich mir die ansonsten schwer verhaßten E-Gitarren anhöre. Ich war seit der ersten Tour auf den Konzerten, letztesmal in Berlin, weil ich bei den näher an Köln gelegenen Terminen schon irgendwo war. Ich habe jedes einzelne Lied von Rammstein, einschließlich denen auf der neuesten Scheibe, mindestens hundertmal gehört. Eher öfter.


Geben sie eine Einschätzung, eine kurze Bewertung zu Rammstein.

MB: Sicher eine der mit Abstand weltbesten Bands. Die meisten Menschen wissen – glaube ich – gar nicht, wie weit vorne deren Musik und Performance ist, egal, ob der Gesang nun perfekt ist oder nicht.

Ich muß noch heute über den Auftritt von Rammstein beim »Family Values«-Konzert in den USA lachen. Zu dieser Zeit habe ich an der Rechtsmedizin in Manhattan gearbeitet und wunderte mich immer darüber, warum alle Deutschen dort als tough, aber merkwürdig galten. Nach dem Konzert wußte ich, warum. Erste Sahne!

Dank übrigens an meine kleine Schwester, die mir damals die erste Kassette (!) von »Herzeleid« zukommen ließ. Als ich sie meinen Freunden vorspielte, die schon einiges von mir gewohnt waren, wurden selbst die blaß und urteilten einstimmig: »Zu kraß, viel zu kraß!« Heute wissen wir: Überhaupt nicht zu kraß – Rammstein war einfach drei Jahre der Zeit voraus.


Was hören Sie ansonsten an Musik?

MB: EBM (Electronic Body Music) und Industrial, früher auch Gothic und Dark Wave. Vieles davon kommt aus den neuen Bundesländern. Der einzige »Sender«, den ich höre, ist beispielsweise EBM Radio aus Leipzig, der aber nur auf dem Rechner läuft.

Hier im Rhein-Ruhr-Gebiet sind wir glücklicherweise mit reichlich Industriebauten und einem schicken, wenngleich gefakten Schloß (in Duisburg an einem alten Rangierbahnhof) gesegnet, so daß viele gute Bands auch hier spielen.


Da Sie keine eigene Frage beantworten möchten, haben Sie für uns noch einen Rat?

MB: Vielleicht diesen: An alle, die etwas Ungewöhnliches studieren oder sein wollen: Träumt und labert nicht, sondern macht es – don’t dream it, be it! Kann man gar nicht oft genug sagen: Geh deinen Weg, und nimm den Arsch vom Sessel!


Herr Dr. Benecke, ich danke Ihnen für das Gespräch.


Mit herzlichem Dank an Verleger Michael Kirchschlager für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.


Lesetipps


Dr. rer. medic. Mark Benecke · Diplombiologe (verliehen in Deutschland) · Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für kriminaltechnische Sicherung, Untersuchung u. Auswertung von biologischen Spuren (IHK Köln) · Landsberg-Str. 16, 50678 Köln, Deutschland, E-Mail: forensic@benecke.com · www.benecke.com · Umsatzsteueridentifikationsnummer: ID: DE212749258 · Aufsichtsbehörde: Industrie- und Handelskammer zu Köln, Unter Sachsenhausen 10-26, 50667 Köln, Deutschland · Fallbearbeitung und Termine nur auf echtem Papier. Absprachen per E-mail sind nur vorläufige Gedanken und nicht bindend. 🗺 Dr. Mark Benecke, M. Sc., Ph.D. · Certified & Sworn In Forensic Biologist · International Forensic Research & Consulting · Postfach 250411 · 50520 Cologne · Germany · Text SMS in criminalistic emergencies (never call me): +49.171.177.1273 · Anonymous calls & suppressed numbers will never be answered. · Dies ist eine Notfall-Nummer für SMS in aktuellen, kriminalistischen Notfällen). · Rufen Sie niemals an. · If it is not an actual emergency, send an e-mail. · If it is an actual emergency, send a text message (SMS) · Never call. · Facebook Fan Site · Benecke Homepage · Instagram Fan Page · Datenschutz-Erklärung · Impressum · Archive Page · Kein Kontakt über soziale Netzwerke. · Never contact me via social networks since I never read messages & comments there.