2011 Top Magazin Köln: Dem Verbrechen auf der Spur
Quelle: TOP MAGAZIN Köln - Ausgabe Winter 2011
Dem Verbrechen auf der Spur
Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke
[Weitere Artikel von MB] [Artikel über MB]
VON MARTINA HORROBIN
Seine Spitznamen sind „Maden-Mark“ oder „Dr. Schmeißfliege“. Doch das Ermittlungsspektrum von Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke umfasst mehr als die Todeszeitbestimmung anhand von Leichenbesiedlung durch Insekten. Die Arbeit des Kölner Wissenschaftlers beginnt, wo Rechtsmediziner und Polizei am Ende sind. Und erscheint oft erst Jahre nach dem eigentlichen Verbrechen am Tatort.
Wo ist die Flasche 85er Beaujolais Le Chat-Botté, die der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Uwe Barschel, im Spionage-Hotel Beau Rivage in Genf noch kurz vor seinem mysteriösen Tod 1987 orderte? Dr. Mark Benecke hat eine ziemlich sichere
Ahnung. „Na, wer war als Erster im Hotelzimmer?“, stellt der bekannte Kriminalbiologe die Gegenfrage und zieht dabei die linke Augenbraue verschwörerisch hoch. Lässig sitzt der schlaksige, schwarz gekleidete Mann an seinem dunklen Schreibtisch, auf einem schwarzen, thronähnlichem Sessel mit mystischen Drachenköpfen. In seinem etwa 20 Quadratmeter großen Arbeitszimmer reihen sich in bunt zusammengestellten Regalen einige Aktenordner und vor allem unzählige Bücher aneinander. Und auch wenn Außenstehende beim ersten
Blick Chaos vermuten, der studierte und ziemlich tätowierte Biologe weiß genau, in welcher Regalreihe er die Literatur zum Vampirismus, die gesammelten Werke der letzten Henker oder den „Esoterik-Klimbim“ seiner Frau findet, den sie „als skeptische Psychologin sammelt
und auswertet“.
Dr. Benecke, der laut Aussage seiner
Oma schon im Alter von vier Jahren Regenwürmer
und Spinnen in seiner Hosentasche
sammelte, ist wohl der ungewöhnlichste
Dr. rerum medicinalium, den die
Welt zurate zieht. Nicht etwa, weil er gar
kein Doktor der Medizinwissenschaften
ist. „Köln ist eine der wenigen Universitäten
in Deutschland, wo man als Naturwissenschaftler
in einem medizinischen
Fach promovieren kann“, erklärt der Spezialist für forensische Entomologie, der
seine Dissertation in der Rechtsmedizin
über den genetischen Fingerabdruck von
Fadenwürmern schrieb. Benecke ist Entertainer.
Und die Kurse und Gastvorträge,
die der Schnellredner an den Universitäten
und Polizeiakademien rund um
den Globus hält, sind immer bis auf den
letzten Platz besetzt. Denn wenn der
41-Jährige zum Beispiel über den einseitigen
Madenbefall einer teilverwesten
Leiche spricht, oder darüber, warum
bei einer spontanen Selbstentzündung
(SHC) der menschliche Oberkörper samt
Stuhllehne komplett verbrennt, die Beine
aber noch unversehrt vor dem unterem
Stuhlteil stehen, dann ist das spannender
als jeder Krimi und jede CSIFolge.
„14 Jahre haben wir
gebraucht und die Unterlagen der letzten 400 Jahre
gewälzt, um hinter das SHCPhänomen
zu kommen“, erinnert sich
Deutschlands einziger von der IHK öffentlich
bestellter und vereidigter Sachverständiger
für biologische Spuren.
„Die Opfer sind praktisch immer rauchende
Frauen. Es fällt ihnen die Zigarette
runter, weil sie einschlafen oder
betrunken sind. Durch die Hitze verflüssigt
sich das Unterhautfettgewebe und
verbrennt wie das Wachs bei einer Kerze
nach oben“, erklärt er. Mit toten, auf
Stühlen sitzenden Schweinen hat er die
Situation nachgestellt. „Ich wollte das
einfach sehen – so wie ein Kind, das wissen
will, was passiert, wenn es an der
Tischdecke zieht“, beschreibt der Wissenschaftler,
der schon als kleiner Junge
lieber mit Chemie- und Physikbaukästen
tüftelte, als auf dem Bolzplatz zu kicken,
seine unbefangene Neugier.
Verfahrene Verfahren
Bekannt wurde Dr. Made, wie Benecke
wegen seines Spezialgebietes „wirbellose Tiere auf toten Menschen“
auch genannt wird, 1998 durch
den Fall „Klaus Geyer“. Der Pastor wurde
damals des Mordes an seiner Ehefrau angeklagt.
Anhand von drei Maden an ihrer
Leiche ermittelte Dr. Benecke den genauen
Todeszeitpunkt. Die Methode, mithilfe
der Altersbestimmung der Insekten –
ob nun Made, Puppe, Käfer bzw. Fliege –
die Liegezeit der Leiche zu bestimmen,
ist ziemlich präzise und erlaubt die Eingrenzung
bis auf wenige Stunden. Weil
Geyer für den Todeszeitpunkt seiner Gattin
kein Alibi hatte, wurde er wegen Mordes
verurteilt.
Seit diesem Prozess gilt Dr. Benecke
als Experte und mittlerweile wird er
weltweit als Sachverständiger für Insektenkunde,
DNA und Blutspuranalyse
herangezogen. Zum Beispiel vom damaligen
russischen Geheimdienst KGB
(heute FSB), wo Dr. Benecke, der unter
anderem an der New Yorker FBI-Akademie
ausgebildet wurde, den Tod von
Adolf Hitler noch einmal rekonstruierte.
Eine sicherlich bedeutende Arbeit von
weltgeschichtlichem Format. Für den
Kölner aber nicht spannender als andere
Fälle, für die sich sonst keiner interessiert.
Entweder, weil das Verbrechen
im hintersten Ort Deutschlands verübt
wurde, der Täter eh schon vorbestraft
war oder die Akte längst geschlossen ist.
„Meist sind es schwierige Wiederaufnahmen
und Verfahren, die an die Wand gefahren
wurden, für die ich herangezogen
werde.“
Oft kommt Dr. Benecke dann erst
mehrere Jahre nach dem eigentlichen
Verbrechen an den Tatort, um auf Spurensuche
zu gehen. Wie im Fall einer
Frau, die wegen Mordes im Gefängnis
einsitzt. Noch – denn es gibt mittlerweile
Zweifel am Urteil. „Es war so ein geschlossenes
Raumszenario: Ein Haus,
zwei Personen. Eine wird niedergemetzelt,
die andere sagt, sie habe die ganze
Nacht geschlafen“, beschreibt er den
Fall. Mit dem ersten Beweisstück, das die
Polizei fand, schien der Fall gelöst. Als Dr. Benecke sechs Jahre später
den Raum des Verbrechens
inspiziert, führen ihn von Fliegen
verschleppte winzige Blutspuren
zu einer Tür, hinter der
sich eine Art Zwischenzimmer versteckt.
Dort findet er einen blutigen Handschuh.
„Dieses Kämmerchen ist vorher anscheinend
nie entdeckt worden. Es wird nirgends
erwähnt. Nicht vor Gericht und
in keiner Akte“, so Dr. Benecke. Ein Ermittlungsfehler,
der kein Einzelfall zu
sein scheint. Im Fall der US-Amerikanerin
Amanda Knox, die
beschuldigt wurde, ihre
englische Mitbewohnerin
getötet zu haben, „ist der
blutbeschmierte BH zwar
auf den Beweisfotos zu
sehen, er wurde aber erst
Wochen später von der
Polizei eingesammelt. So etwas darf
natürlich nicht passieren“, meint der
freiberufliche Kriminologe, der nicht
nur durch die Veröffentlichung zahlreicher
Bücher, sondern auch als Experte
in Rundfunk und TV wissenschaftliche
Stellung bezieht.
Auch bei den Barschel-Untersuchungen
war die Herangehensweise nach Auffassung
Beneckes nicht ganz korrekt.
„Die wohl häufigste Todesursache, mit
denen Ermittler konfrontiert werden,
sind vereinsamte Schizophrene und Suizidenten.
Und dann liegt vor ihnen ein
Politiker, der stark unter Druck stand,
in einer komischen Situation
in einem Spionage-
Hotel. Ich glaube,
da hat man eher versucht zu ermitteln, als nach Spuren
zu suchen. Eigentlich hätte man den Laden
dichtmachen müssen“, ist sich Dr.
Benecke sicher.
Archäologische Akribik
Ein anderes Beispiel ist Sittensen, wo
2007 mehrere Menschen in einem Chinarestaurant
erschossen wurden.
„Der örtliche Ermittler
schaltete damals sofort das
BKA und das LK ein. Das war
super vorbildlich“, ist Dr. Benecke
begeistert. Und eine große
Serie von Autoeinbrüchen
in Köln konnte geklärt werden,
weil „der Dezernatsleiter an den richtigen
Stellen DNA-Proben entnehmen
lassen hat“. Viele Vergehen ließen sich
durch eine bessere Förderung der spurenkundlichen
Untersuchungen schneller
aufklären, glaubt der Träger der Silbernen
Ehrennadel des Bund Deutscher
Kriminalbeamter. Doch er glaubt auch,
dass das gar nicht immer so gewünscht
sei. „Ein Kollege hat mal 11 000 Leichen
aus einem Krankenhaus, die eines natürlichen
Todes gestorben sind, untersucht
und festgestellt, dass ungefähr
jede zehnte von ihnen zu Lebzeiten fehlernährt
und völlig falsch gebettet war.
Das Ergebnis wollte er natürlich öffentlich
machen. Er bekam daraufhin einen
Anruf vom Ministerium: ,Noch ein Wort,
dann Job los‘.“
Benecke lässt sich nicht
unter Druck setzen. Von
niemandem. „Das funktioniert
auch gar nicht“, sagt er, „weil ich nichts
habe, was man mir wegnehmen kann.“
Kein Auto, keinen Fernseher, keine Eigentumswohnung.
Nichts. „Nicht mal eine
Mitgliedschaft im Karnevalsverein“, beschreibt
der Forensiker seine unabhängige
Lage.
Wer ihn engagiert, muss nur eins wollen:
objektive Aufklärung. „Jede Partei
versucht natürlich ihre Interessen
durchzuboxen“, erzählt
Dr. Benecke. „Mit allen Mitteln.“
Können sie auch, aber
ohne ihn. „Ein Auge zudrücken
zum Vorteil des Auftraggebers
und dann das Geld einstecken,
gibt es bei uns nicht.
Wer so etwas verlangt, fliegt kommentarlos
raus “, versichert er und greift in
eine schwarze Ausrüstungstasche, die
zusammen mit Schlüsseln, Karabinerhaken
und einer Vorhängekette an seinem
Gürtel befestigt ist. Er zieht ein kleines
Stück Papier heraus und liest vor: „Hochmut,
Geiz, Maßlosigkeit, Neid, Eifersucht,
Faulheit, Ignoranz – das sind die Grundlagen
der Todsünden.“ Und fügt an: „Die
gelten für alle Menschen, leider manchmal
auch in der Spurensicherung.“
Früher wurde Dr. Benecke
noch öfter direkt zum Leichenfundort
gerufen. Aus
dieser Zeit stammt noch sein Faible für
Polyester-Kleidung. „Der unheimliche
Gestank des Todes ist aus Wolle oder
Baumwolle fast nicht herauszubekommen
und dringt sogar bis zur Unterwäsche
durch“, sagt der Mann mit dem
– zugegeben – ziemlich gewöhnungsbedürftigen
Beruf. Heute besteht sein Job
hauptsächlich darin, „wie ein Archäologe
wäschekörbeweise die letzten
Reste einzusammeln“, so
der Forscher. Denn anders als
beim frühen Spurenkundler,
der den Ort des Verbrechens
noch antrifft, kommt Benecke
meist, wenn der Tatort schon
längst untergegangen ist. Aber
„es sind oft noch Spuren zu finden, von
denen keiner ahnt, dass man sie fälschen
oder verschwinden lassen müsste“, verrät
er. Vielleicht sogar auch im besagten
Zimmer im Hotel Beau Rivage, in
dem Uwe Barschel vor mehr als 20 Jahren
den Tod fand. Ein Fall übrigens, für
den sich Dr. Benecke – sollte er von offizieller
Seite beauftragt werden – gerne
auf die Spurensuche begeben würde. Wo
sich die Flasche 85er Beaujolais Le Chat-
Botté versteckt, weiß er ja schon.
Mit herzlichem Dank an Martina Horrobin und die Redaktion für die Erlaubnis zur Verwendung.
Lesetipps