2012-12-17 Spektrum: Sehen und gesehen werden
Quelle: Spektrum - Die Woche, 51. KW 2012, Seiten 4 bis 5
Mumienforschung
Sehen und gesehen werden
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TEXT: JAN DÖNGENS
Das Kapuzinerkloster von Palermo beherbergt tausende Mumien. Doch es droht der Verfall, sagt der Archäologe Jörg Scheidt. Im Gespräch mit „spektrum.de“ erzählt er, wie er mit einem Team die Katakomben untersuchte.
Herr Scheidt, Sie haben in diesem Jahr eine systematische Bestandsaufnahme der Mumien in der Kapuzinergruft von Palermo vorgenommen. Da muss ich Ihnen zunächst einmal zu Ihrem Wagemut gratulieren! Sie konnten dort nur nachts arbeiten. War Ihnen nicht mulmig?
Ich muss zugeben, wenn man das erste Mal hinabsteigt, ist das wirklich ein komisches Gefühl. Wir haben mit der Arbeit angefangen, als die Besucher weg waren. Und dann steht man auf einmal bis Mitternacht zwischen mehreren tausend Leichen. Wenn man noch nicht viel mit Mumien zu tun hatte, kann man durchaus mal richtig Schiss bekommen.
Die Menschen früher waren offenbar weniger empfindlich: Dem Vernehmen nach haben sie ihre eigenen Angehörigen regelmäßig besucht und umgekleidet.
Das war gängige Praxis. Manche gingen alljährlich hinunter und zogen dem eigenen Vater, der Mutter oder auch den Kindern neue Kleidung an. Sie sollten für die anderen Besucher ja möglichst repräsentativ aussehen. Es war eine bewusste Entscheidung, den Verstorbenen dort auszustellen. Damit zeigte man, dass man einer privilegierten Oberschicht angehörte..
Heute machen viele der Mumien einen ziemlich verfallenen Eindruck. Waren die Leichname damals wenigstens in einem besseren Zustand?
Die Standardmethode der Mumifizierung war lange Zeit die einfache Trocknung in speziellen Mumifizierungsräumen, den Colatoi. Bei unseren Untersuchungen haben wir gesehen, dass es in vielen Fällen schon dort zu deutlichen Verwesungserscheinungen gekommen ist. Wir haben beispielsweise Fälle von Fettwachsbildung entdeckt, was auf eine fortgeschrittene Verwesung hindeutet. In andere Leichen hatten Fliegen Eier abgelegt, deren Maden sich dann von den Körpern ernährt haben.
Von einer schnellen Mumifizierung kann also keine Rede sein?
Nein, die Leichen sind ganz langsam ausgetrocknet, was in vielen Fällen zu Fehlern oder Beschädigungen geführt hat. So wie die Mumien heute aussehen, sahen sie zu einem großen Teil auch schon aus, als sie aus dem Mumifizierungsraum herauskamen. Erst später hat man dann auch andere Mumifizierungsverfahren angewendet.
Die letzten Jahrhunderte konnten den Leichnamen nicht viel anhaben. Jetzt aber hat sich das offenbar geändert. Stimmt es, dass sich mittlerweile ein geändertes Mikroklima bemerkbar macht?
Das stimmt. In den letzten beiden Jahrzehnten hatte das Kloster zwei katastrophale Wasserrohrbrüche hinnehmen müssen. Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach mit dafür verantwortlich, dass die Luftfeuchtigkeit stark gestiegen ist. Wir haben enorm hohe Werte von 82 Prozent bis maximal 89 Prozent gemessen. In den Katakomben ist es teilweise richtig feucht. Wurzelwerk dringt durch die Decke, und in einem der Mumifizierungsräume kriechen madenartige Tiere über den Boden. Vor allem aber breitet sich mittlerweile massiv Schimmel aus.
Sind die Mumien dadurch in Gefahr?
Nun, ich würde sagen, dass sie zumindest gefährdet sind. Anders als in den vergangenen Jahrhunderten liegen sie nicht mehr permanent trocken. Bei einer der Mumien, der ältesten des Klosters aus dem Jahr 1599, konnten wir in der rechten Augenhöhle eindeutige Schimmelspuren feststellen. Das heißt: Sollte jetzt der Schimmel auf die Mumien überspringen, kann man davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren auch größere Beschädigungen auftauchen.
Warum wird dieser Prozess nicht gestoppt?
Das Problem sind zunächst einmal Forschungsgelder: Bevor man an die Sanierung geht, muss geklärt werden, wie das am besten gelingen könnte. Hinzu kommt, dass ein Umbau unheimlich teuer würde. Das Geld für eine komplette Belüftungsanlage kann im Moment niemand einfach locker machen. Investoren und Sponsoren wären gefragt, zumal auch das Kloster langsam bauliche Probleme bekommt, wenn die Gebäudesubstanz weiter Schaden nimmt.
Die EURAC (die Europäische Akademie Bozen, an der unter anderem "Ötzi" erforscht wird, d. Red.) arbeitet seit 2007 daran, Finanzierungspartner zu gewinnen, und konnte jetzt immerhin die berühmte Rosalia Lombardo in eine Art gläsernen Spezialsarkophag legen. Zumindest diese Mumie ist nun geschützt.
Die Katakomben sind eine regelrechte Touristenattraktion. Treiben die Besucher nicht ebenfalls die Luftfeuchtigkeit nach oben?
Die Schwankungen in der Luftfeuchtigkeit waren erstaunlicherweise unabhängig von den Besucherzahlen. Zum Problem werden Besucher, wenn sie sich nicht benehmen können. Manchen Mumien wurde Kaugummi an die Backe geklebt oder Namen auf die Haut gekritzelt. Man findet im Netz auch Andenkenfotos, auf denen Touristen mit den Mumien posieren und sie antatschen. Ganz schlimm war es wohl im Zweiten Weltkrieg. Ein Granatentreffer hat damals zum Beispiel einer Mumie den halben Kopf weggerissen. Und auch die GIs sind nicht gerade zimperlich gewesen. Viele Mumien hatten früher Glasaugen. Die liegen jetzt in den USA in irgendwelchen Schränkchen.
Wachen die Mönche nicht über einen pietätvollen Umgang mit den Leichnamen?
Doch, schon. Seit ein paar Jahren gibt es unter anderem Metallgitter, die die Besucher von den Mumien trennen. Wir hatten ebenfalls strenge Auflagen, es war immer ein Wächter anwesend, und wir durften die Mumien nicht entkleiden, von der Wand entfernen oder gar Gewebeproben nehmen. Den Mönchen war sehr wichtig, dass uns bewusst ist, dass wir uns auf einem Friedhof befinden. Das halte ich auch für richtig so.
Mumienforschung steht immer im Konflikt zwischen der Wahrung der Totenruhe und normalen Forschungsinteressen. Bekommen Sie oft den Vorwurf zu hören, aus persönlicher Neugier die Würde der Verstorbenen zu verletzen?
Nein, eigentlich nicht. Obwohl ich es durchaus nachvollziehen könnte. Man hat es hier mit verstorbenen Menschen zu tun, die einen respektvollen Umgang verdienen. Bei unseren Untersuchungen ging es aber erstens ausschließlich darum, die Mumien zu betrachten, zu erfassen und letztlich auch für ihren Schutz zu sorgen. Und zweitens liegt der Fall gerade in Palermo anders. Denn wie gesagt: Wer sich dort bestatten ließ, wusste, dass er ausgestellt werden würde, und wollte das auch. Insofern habe ich auch keine prinzipiellen Bedenken dagegen, dass Besucher dort zugelassen sind.
Allerdings gab es den Vorwurf, dass Sie und Ihre Kollegen in der Gruft gar nicht hätten forschen dürfen. Die EURAC habe von der zuständigen Behörde die exklusive Forschungsgenehmigung erhalten. Wie stehen Sie dazu?
Die Mönche sehen sich als die Eigentümer der Gruft, und nach unseren Informationen können sie solche Forschungen wie unsere genehmigen. Wir haben nicht nur die Erlaubnis vom Abt erhalten, sondern wurden von ihm zu den Untersuchungen ermuntert. Ich gehe also davon aus, dass das alles rechtmäßig war.
Zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Neubestattungen dort verboten. Glauben Sie, dass sich daran etwas ändern könnte? Werden irgendwann wieder mumifizierte Verstorbene dort ausgestellt?
Das kann ich mir nicht vorstellen, auch wenn man es natürlich nicht ausschließen kann. Bestattungssitten wandeln sich im Lauf der Zeit. So gesehen könnte es auch ganz anders kommen: In der Bibel gibt es diese Stelle "Aus der Erde sind wir genommen, zu Erde sollen wir wieder werden". Das heißt, eine Mumifizierung ist von der Kirche eigentlich gar nicht vorgesehen. In anderen Mumienklöstern auf Sizilien gibt es daher immer mal wieder den Ruf nach einer endgültigen Bestattung der Toten. Im Kapuzinerkloster von Palermo selbst sieht man das natürlich anders – zumindest derzeit noch.
Mit herzlichem Dank an Jörg Scheidt, Jan Döngens und die Redaktion des Spektrum-Verlages für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
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