2012-10-29 Giessener Anzeiger: Da weht einem ganz schön das Höllenfeuer um die Ohren
Quelle: Gießener Anzeiger, Kultur lokal, 29. Okt. 2012, Seite 6
Da weht einem ganz schön das Höllenfeuer um die Ohren
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VON INGO BERGDÖRFER
GIESSEN. Das muss man sich mal vorstellen. Da drängen sich die Menschen in der voll besetzten Kongresshalle, um dort mit eher abseitigen Bereichen der menschlichen Seele konfrontiert zu werden, die selbst Krimi -Vieifressem eher selten auf den Teller kommen wie Kannibalismus, Häutungen, Serienmörder - und immer wieder goutiert die Menge die Ausführungen des Kriminalbiologen Mark Benecke [...] mit Szenenapplaus und manchmal gar Gelächter. Gleichwohl waren die Ausführungen der Beneckes weder morbide noch misantroph und auch nicht freiwillig oder unfreiwillig komisch. Am Ende zweier mit Informationen prall gefüllter Vorträgen stand die Erkenntnis, dass es durchaus sinnvoll ist, in die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken und diese selbst in ihren von der Norm am weitesten ver-rückten Spielarten zu verstehen - wenn man denn robust genug ist, diesen Anblick zu ertragen.
Madendoktor, Multitalent und subkultureller Tausendsassa - Mark Benecke ist der unumstrittene Star der kriminalistischen Forensik, einer Disziplin der Kriminalermittlung, die vor allem der Erfolg der CSI-Serien aus der Abgeschiedenheit der Labore ins Rampenlicht gestoßen hat. Und auch wenn Benecke nicht müde wird, auf die Unterschiede zwischen Hollywood und Kriminalalltag hinzuweisen, profitiert er natürlich vom medialen Boom und zeigt sich dabei als durchaus cleverer Geschäftsmann. Die Angebotspalette seines Merchandising-Stands reicht von Kinderbüchern und Experimentierkästen über ein Dutzend Bücher über Serienkiller, Vampire und Tätowierungen bis hin zu Miniatursärgen. Dass Benecke es gleichwohl geschafft hat, seine Natürlichkeit, Offenheit und vor allem einen neugierigen Blick auf spannende Entdeckungen hinter der nur scheinbar banalen Fassade des Alltags zu bewahren, ist wohl das Geheimnis seines Erfolgs, ob nun als Kriminalbiologe oder Referent mit Entertainer-Qualitäten.
So hielt er in Gießen auch keinen Vortrag von der Stange, sondern zeigte den Zuschauern erst einmal eine ganze Bilderserie, die er kurz zuvor bei seiner Anreise mit dem Zug am Gießener Bahnhof aufgenommen hatte. Das geschulte Auge des Spurensuchers entdeckt da nicht nur seltsame Faserreste am Lebensmittelautomaten, die dort nicht hingehöre~? sondern auch die ganz eigene "Knast-Asthetik" der Stadt, gefolgt von ein paar Anmerkungen zur "Abzockermentalität" hiesiger Taxifahrer und einem comedyreifen Briefwechsel mit der Gießener Stadtverwaltung.
Nach diesem lichten Einstieg wird es düster und bleibt es auch bis zum Ende des dreistündigen Vortrags. Zum Auftakt befasst sich Benecke mit einem spektakulären Fall aus der Region, dem "Kannibalen von Rotenburg". Armin Meiwes ist für Benecke kein Beispiel für einen klassischen Serienkiller, da er gerade keine Freude am Töten seines Opfers empfunden habe. Die Frage bleibt, ob Meiwes nicht besser gleich in einer Psychiatrie untergebracht worden wäre, statt im Gefängnis. Benecke weiß, wie schwer es Menschen fällt, angesichts solcher Taten, wie des "einvernehmlichen Kannibalismus" Meiwes' und seines Opfers, emotionslos und nüchtern zu bleiben.
Für den Naturwissenschaftler Benecke bleibt die vorurteilslose und wertungsfreie Suche nach der Wahrheit aber die einzig sinnvolle Reaktion auf ungeheuerliche Verbrechen. Wie jeder von vorschnellen Urteilen geprägt ist, zeigt er anhand der im "Stern" veröffentlichten Bilder vom Tatort. In Meiwes' Elternhaus. Was auf den ersten Blick die "typische" Anmutung einer Messie-Behausung hat, kann nämlich auch das Chaos sein, das Ermittier nach einer Tatortuntersuchung zurückgelassen haben. Ein echter Soziopath und Serienmörder ist für Benecke dagegen der Kindermörder Jürgen Bartsch, dessen Fall er im Anschluss schildert. Immer wieder betont er, dass sich Ermittler von Gefühlen, wie Mitgefühl für die Opfer und Wut auf die Täter bei ihrer Arbeit freimachen müssen. "Das Einzige, das es gibt, ist die Wahrheit" lautet Beneckes Credo [...].
Eine beunruhigende Gemeinsamkeit, die Jürgen Bartsch mit den [...] im zweiten Teil des Abends vorgestellten Serienmördern gemein hat, ist deren offensichtliche Unauffälligkeit. Gerade Serienmörder seien oft nach außen gut angepasste, unauffällige und freundliche Menschen, und weil ihr Verhalten nach außen hin den sozialen Normen entspreche, könnten sie ihre Verbrechen oft jahrelang begehen. Das Fazit des Ermittlerehepaars: Es lohnt sich vorurteilsfrei mit den Tätern zu reden und zu versuchen, sie zu verstehen, nicht (nur) weil man an die Möglichkeit einer Therapierung glaubt, sondern weil man nur so die Datenbank füttern kann, um andere Täter zu finden. Voraussetzung für diese Arbeit ist ein strapazierfähiges Nervenkostüm, denn so einer der letzten Sätze Mark Beneckes in der Kongresshalle: "Da weht einem schon ganz schön das Höllenfeuer um die Ohren."
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