2012-01-06 The European: Die meisten Massenmörder sind merkwürdig
Quelle: The European (online), Rubrik Gespräche, vom 6. Januar 2012
„Die meisten Massenmörder sind merkwürdig“
Er arbeitet mit Maden, Blut, Sperma und Kot und hat den Schädel von Adolf Hitler untersucht. Alexandra Schade sprach mit dem Kriminalbiologen Mark Benecke über seine spannendsten Fälle, die Frage des freien Willens und seine mögliche Karriere in der Politik.
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VON ALEXANDRA SCHADE
The European: Sie sind heute der bekannteste Kriminalbiologe der Welt. Was wollten Sie denn werden, als Sie klein waren?
Benecke: Ich wollte Koch werden.
Und wie sind Sie dann Biologe geworden?
Als ich mit der Schule fertig war, habe ich mich an der Uni einfach in alle Fächer eingeschrieben, die ich lustig fand. Die Biologen waren dann die Nettesten und haben auch als Erste eine Party gemacht. Die anderen waren alle total bräsig und lahm. Und da bin ich dann bei den Biologen geblieben.
Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg? Sie nehmen kein Blatt vor den Mund und erzählen ganz offen über Ihre Arbeit mit Maden, Blut, Sperma und Kot. Das dürften die meisten Menschen ziemlich eklig finden.
Viele Menschen interessieren sich eher dafür, als dass es sie ekelt. Das kommt wahrscheinlich daher, dass die meisten Menschen gerne Rätsel lösen und wir lösen ja Rätsel. Das ist sicher einer der Hauptgründe. Das Zweite ist, dass man über die modernen Methoden einen Draht zu den ansonsten sehr geschmähten Naturwissenschaften finden kann. Es ist ja cool, Naturwissenschaften scheiße zu finden. Wenn man in der Schule sagt, dass man Mathe und Physik doof findet oder nicht versteht, dann ist man der Coole. Aber das ist jetzt eine Möglichkeit, sich den Naturwissenschaften wieder zu nähern, von denen jeder weiß, dass sie unser postmodernes Leben erst ermöglichen.
„Alle Taten sind einzigartig“
Wie einzigartig ist denn jedes Verbrechen?
Aus meiner Sicht sind alle Taten völlig einzigartig. Manche Dinge sind aber trotzdem statistisch auswertbar. Beispielsweise sind Blutspuren bei jeder Tat einmalig; sie folgen aber trotzdem einem bestimmten Prinzip. Man kann anhand von Experimenten, die eine allgemeine Regel in sich bergen, ausrechnen, wie sie sich in diesem Spezialfall verteilt haben; ob sie von schräg oben gekommen sind oder welche Menge das war. Trotzdem ist der Fall einzigartig. Es gibt viele Leute, die der Meinung sind, sie könnten die Charakteristika eines Falles sehr schnell durch Erfahrung oder durch den Vergleich mit anderen Fällen klären, aber das finde ich eigentlich Quatsch. Ich glaube nicht, dass das so einfach ist.
Sie sagen, dass Sie die Spuren mehr interessieren als die psychologischen Aspekte. Sie haben den Schädel von Adolf Hitler untersucht. Das stellen sich die meisten Menschen bestimmt sehr aufregend vor. Aber aus der biologischen, wissenschaftlichen Sicht – was war Ihr spannendster Fall bislang?
Eigentlich sind die spannendsten Fälle scheinbar sehr simple Blutspurenfälle. Die Ausgangslage ist folgende: Wir wissen zwar nicht, wer der Täter ist, aber wir wissen trotzdem ungefähr, was passiert ist. Und wenn man sich dann die Blutspuren anguckt, stellt sich der Verlauf doch häufig detaillierter dar, als man das vorher wahrgenommen hat und man bekommt den kompletten Ablauf minutiös hin. Das ist schon jedes Mal sehr spannend. Wir haben aber auch gerade den Mageninhalt einer Leiche untersucht. Wir wussten nicht, worum es da ging. Bestimmte Lebensmittel waren noch erkennbar und andere nicht mehr. Wir haben das dann später abgeglichen mit dem, was man darüber wusste, was derjenige vorher gegessen hat. Das war auch sehr spannend und verblüffend. Solche Sachen sind interessanter als die scheinbar spektakulären Fälle.
Sie haben gerade zusammen mit Ihrer Frau das Buch „Aus der Dunkelkammer des Bösen“ verfasst. Dort wird ausführlich auch das frühere Leben der jeweiligen Täter beschrieben und wie es zu den späteren Verbrechen kam. Oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einiges hätte verhindert werden können, hätte man nur einmal genauer hingeschaut. Kann man schwere Straftaten also verhindern?
Das könnte man auf jeden Fall, wenn man rechtzeitig anfangen würde, sehr intensiv mit denjenigen zu arbeiten oder wahrzunehmen, was er äußert und tut. Es ist ja nicht so, dass das nicht auffällt. Die meisten Serientäter oder Massenmörder sind eigentlich schon sehr merkwürdig. Sie lernen aber auch, sich gut zu tarnen. Ich weiß nicht, ob man so etwas im Einzelfall immer verhindern kann. Man könnte es zumindest versuchen. Es würde sich lohnen, da viel früher genauer hinzuschauen.
„Politiker machen einen Drecksjob“
Werden Sie und Ihre Frau von der Politik um Rat gefragt?
Sicher, aber es ist recht sinnlos. Ich habe Hintergrundgespräche mit Parteien geführt, als es darum ging, DNA-Datenbanken aufzubauen. Die Politiker haben sehr nett und sehr vernünftig mit einem gesprochen, letztlich ist aber nichts dabei herumgekommen, weil sie ja eh die Parteilinie vertreten müssen. Etwas anderes ist es in der Arbeit mit Studenten oder Polizisten. Die haben eine höhere Motivation, etwas zu verändern. Ein Politiker verfolgt immer andere, nämlich politische Interessen. Die sind natürlich nicht immer sachorientiert. Ich habe in all den Jahren von Politikern noch nie etwas Vernünftiges erlebt als direktes Ergebnis von fachlichen Beratungen. Aber ich nehme denen das nicht übel, denn ihnen sind die Hände gebunden. Die machen einen Drecksjob und wissen das auch. Sie wollen aber auch wiedergewählt werden und müssen deshalb die ganze Zeit herumlavieren.
Das ist sicher richtig, aber dann gibt es Fälle wie die Neonazi-Mordserie. Alle sind schockiert und es taucht immer wieder die Frage auf, ob man so etwas nicht hätte verhindern können.
Das ist aber ein Sonderfall. Hier ist es ja so gewesen, dass der Verfassungsschutz das Ganze erst ermöglicht hat. Die normalen Politiker haben keinen Einfluss darauf, was der Verfassungsschutz oder die Geheimdienste machen und wenn das dort einfach total inkompetente Vollidioten sind – was soll man da machen? Ein System, das nicht kontrollierbar ist, ist eben nicht kontrollierbar. Wenn Sie jemanden loswerden wollen und dem Täter 10.000 Dollar dafür geben, dass er jemanden beseitigt und der das dann tut, dann können Sie hinterher auch nichts mehr machen. Da nützt es auch nichts mit Psychologen, Priestern oder der Zeitung zu reden. Dann ist es passiert.
Die Frage des freien Willens und der individuellen Schuldfähigkeit taucht bei Verbrechen auch immer wieder auf. Als Biologe und als jemand, der schon viel gesehen hat – gibt es den freien Willen?
Biologistisch gesehen gibt es das natürlich nicht, dass man die persönlichen Grundzüge des Lebens komplett so frei gestaltet, wie die Leute das immer meinen. Aber man muss zwischen den verschiedenen Ebenen, auf denen so ein menschliches Leben stattfindet, unterscheiden. Es kann sein, dass ich auf Toilette oder mich kratzen muss – das ist die eine Sache. Das kann man nicht ohne Weiteres ändern. Aber man darf das nicht verwechseln mit dem, was jemand tut, der hungrig vor einem Gemüseladen steht und sich fragt, ob er jetzt etwas stehlen soll oder nicht. Da würde ich sagen, ist schon eine andere Ebene erreicht. Die nächste Ebene wären dann die sehr schweren Delikte, das, was wir so grauenhaft finden. Also Leute, die andere umbringen, sehr kaltblütig sind oder nichts einsehen. Da haben die Beteiligten selbstverständlich die Entscheidungsfreiheit, das sein zu lassen. Etwas anderes ist es bei Menschen, die verrückt sind; die ihre Sinne verloren haben. Aber von denen spreche ich jetzt nicht. Es kommt natürlich auch immer darauf an, wen Sie fragen. Biologen oder Kriminalisten stehen dazu ganz anders als ein Psychologe oder ein Priester. Ein Jurist hat ein Rüstwerkzeug, ein Gerüst, an dem er sich langhangeln kann. Wir Biologen haben nur den menschlichen Körper, den wir sehen. Und da gibt es auf der hohen Ebene immer Entscheidungsfreiheit, aber auf der unteren Ebene gibt es keine Entscheidungsfreiheit. Man kann die Frage des freien Willens also sehr gut beantworten, muss sich aber auf eine Ebene einigen.
„Juristische Arbeit ist immer eine Krücke“
Aber gerade in Bezug auf die juristische Seite hat man oft das Gefühl, dass es sich um ein Hilfsmittel handelt.
Juristische Arbeit ist immer eine Krücke. Der Jurist hat den beschissensten Job der Welt. Der Vorsitzende Richter hat zwei große Probleme. Erstens weiß er nicht, wer ihn anlügt und wer nicht. Er muss aber trotzdem eine Entscheidung treffen. Und zwar eine Entscheidung, die sich aus Zeugenaussagen, manchmal, wenn man Glück hat, aus objektiven Sachbeweisen, die von Sachverständigen aber auch falsch dargestellt werden können, und aus diesem ganzen Lügengelaber zusammensetzt. In dem Moment, wo Sie Menschen haben, die Interessen verfolgen – ein Angeklagter, der es nicht gewesen sein will oder es wirklich nicht war, ein Staatsanwalt, der dicke Eier hat und den Fall seines Lebens daraus machen will, ein Psychologe, der selber pädophil ist und der Meinung ist, er muss alle Pädophilen unter seine Fittiche nehmen – aus diesem ganzen menschlichen Scheißdreck müssen Sie jetzt eine scheinbar objektive, vernünftige Entscheidung treffen. Das kann überhaupt nicht funktionieren. Das ist völlig unmöglich, aber wir haben nichts Besseres.
Sie sind ja ein echter Tausendsassa – häufig im Fernsehen zu sehen, jeden Samstag im Radio zu hören, Vorsitzender der deutschen Dracula-Gesellschaft, Mitglied des Komitees des Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen. Ist Ihnen Ihr eigentlicher Job zu langweilig?
Nein, aber man verdient da nichts.
Sie sind aber z.B. auch Landesvorsitzender der PARTEI in Nordrhein-Westfalen und waren Spitzenkandidat bei der letzten Landtagswahl. Da verdient man ja vermutlich auch nichts.
Das ist richtig. Ich mache für mich persönlich gern Dinge, die auf einer falschen Grundannahme beruhen, und führe die zu Ende. Ich bin deswegen auch Donaldist. Da ist die Grundannahme, dass alles, was in Entenhausen von Carl Barks, also nur einem Zeichner, gezeichnet wurde, und alles, was von Erika Fuchs, also nur einer Übersetzerin, übersetzt wurde – dass nur das wahr ist. Und so wie bei der Bibel, dem Koran oder der Thora muss man das danach auslegen und stimmig machen. Das ist bei der PARTEI genauso. Hier machen wir die Grundannahme, dass politische Mittel eine Wirkung haben, die in irgendeiner Form überschaubar ist. Das ist natürlich Quatsch. Politik ist genauso irrational wie Börsenkurse. Das hat mit Vernunft überhaupt nichts zu tun. Das ist eine sehr gute Übung. Man lernt, was passiert, wenn man eine falsche Grundannahme die ganze Zeit beibehält und ein wunderschönes blühendes Gebäude darauf aufbaut. Das ist für sich genommen völlig schlüssig, fußt aber leider auf einer falschen Grundannahme. Jeden Tag haben wir im Gerichtssaal oder unter dem Mikroskop genau das Problem. Wir untersuchen einen Sachverhalt, in den bereits eine Grundannahme eingeführt wurde. Durch diese geistigen Übungen kann man lernen, wie man sich von der falschen Grundannahme befreit.
Das heißt, Sie streben jetzt keine Karriere in der Politik an?
Das höchste Ergebnis, was wir jemals hatten, war knapp 1 Prozent und das war in Berlin. Ich glaube nicht, dass es dafür reicht, dass ich in NRW Ministerpräsident werde. Aber falls es jemals passieren sollte – kein Problem. Dann nehmen wir gerne die SPD oder die CDU als Koalitionspartner, wenn die sich dann sicher anschleimen und dann kann es losgehen.
Mit großem Dank an Alexandra Schade und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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