1998 10 Die Zeit: Spinne im Spinat
Quelle: Die Zeit (darin: "Wissen"), Ausgabe 44/1998 vom 22. Oktober 1998
Spinne im Spinat
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VON MARK BENECKE
Insekten sind nahrhaft, eiweißreich und preisgünstig. Drei Kochbücher helfen bei ihrer Zubereitung.
Mit dem Lieblingsrezept unserer Großmutter - "eine Tasse Mehl, eine Tasse Milch, eine Tasse Zucker, fertig ist der Sandkuchen" - kann ich heute leider nur noch meinen puristischen Bruder und mich selbst erfreuen. Warum also nicht eine Heuschreckentorte mit Schokolade, wie sie Lou Sorkin vom New Yorker Naturkundemuseum zum hundertjährigen Bestehen der örtlichen Insektenkundlervereinigung gebacken hat?
"Bewußtseinserweiternd war es schon, das Bankett", erinnert sich der Reporter des Scientific American. "Die gebackenen Grillen konnte ich geschmacklich kaum von Erdnüssen unterscheiden, aber die Riesenwasserkäfer an Kresseblättern habe ich nicht angerührt - sie erinnerten mich irgendwie an Küchenschaben."
Unsinn, seufzen Gliedertierkundler; Riesenwasserkäfer und Küchenschaben haben nicht das geringste miteinander zu tun. Für Einsteiger bei der Zubereitung von edible insects empfiehlt sich dennoch einfacheres, etwa eine durchpürierte Grashüpfersuppe oder ein Wolfsspinnen-Spinatauflauf. "Ich persönlich bevorzuge dafür die Nordwestliche Wolfsspinne Pardosa vancouveri mit schwarzen Beinen", erklärt Kochbuchautor David Gordon, "aber es gibt über hundert andere Arten, die sich genausogut dafür eignen." Und los geht's: 2 TL Olivenöl, 1 kleine Zwiebel, 1 Knoblauchzehe, 1 Pfund Spinat, 3 Eier, Feta, Oregano, Petersilie, Pfeffer, Butter und 24 mittelgroße Wolfsspinnen. Zwischen Blätterteiglagen füllen, 35 Minuten backen, in Quadrate schneiden - und fertig ist ein nahrhaftes Gericht für vier Personen.
Alternativ bietet Insektenkoch Gordon süß-saure Seidenraupen, Termitenstew oder Kakerlaken in Sherrysauce. Kakerlaken? "Aber sicher. Der Jazzmusiker Louis Armstrong hat mit Kakerlakensud sogar seine Erkältungen auskuriert", schmunzelt Gordon. "Man darf nur eines nicht vergessen: die äußere Wachsschicht der Tiere vor dem Kochen mit Zitronensaft aufzulösen."
Daß die meisten westlichen Menschen die eiweißreichen Krabbler nicht anrühren, könnte daran liegen, daß Insekten als unsauber gelten. "Durch die richtige Auswahl und Zubereitung der Tiere kann überhaupt nichts schiefgehen", weiß Professor Julieta Ramos-Elorduy von der Unabhängigen Universität in Mexiko, die seit Jahrzehnten als weltbeste Kennerin eßbarer Insekten gilt. "Abgesehen davon sind Hummer und Krabben, die noch dazu viel teurer sind, die nahverwandten Vettern der Insekten.
Es gäbe weniger Hunger auf der Welt, wenn wir unsere ignorante Insektenfurcht ablegten." Daß Menschen im Grunde gerne auf alternative Nahrungsquellen zurückgreifen, beweist die europaweite Vorliebe für Weinbergschnecken - im Gegensatz zu Insekten eher schleimige Kreaturen. Auch Tintenfischringe werden gerne verspeist, obwohl dies Weichtierkennern so vorkommt, als würde man die Familienkatze verzehren. Schließlich sind die Meeresbewohner liebevoll-verspielt und hoch intelligent. Müßig auch zu erwähnen, daß die industrielle Fleischproduktion unser Bild von der friedlichen Schnitzelmahlzeit längst pervertiert hat - allein, die falsche Abscheu vor den gesunden Insekten ist mit Worten kaum zu überwinden.
Das gilt auch für die Vereinigten Staaten, wo eigentlich alles, was kriecht und kleiner als zehn Zentimeter ist, als bug, als Ungeziefer, identifiziert und sofort zermalmt wird. Dennoch sind dort - neben dem schon älteren Original Guide to Insect Cookery - gleich zwei neue Gliedertierkochbücher erschienen: The Eat-A-Bug Cookbook und Creepy Crawly Cuisine. Vielleicht liegt es daran, daß das Interesse des US-Publikums an Insekten allgemein stark wächst - von den zahlreichen Büchern über die Gliedertiere bis hin zu Rezeptesammlungen ist es offenbar nicht weit. Die Entscheidung, sich die Käfer und Spinnen wirklich einzuverleiben, mag eine überschießende Reaktion auf den rapiden Naturverlust und Hygienewahn sein oder aber schlicht einer der zahllosen amerikanischen Großstadttrends; in Deutschland beschränkt sich die Mode zur Zeit noch auf Überlebenskünstler und einige wagemutige Zoologen.
Wie auch immer, verwunderlich ist, daß die Kochbücher wirklich brauchbar sind. Während der Original Guide bereits vergriffen ist, bedient die Creepy Crawly Cuisine mit wissenschaftlicher Information und bodenständigen Rezepten wie scharfen Ameisenlarven, Bienenbonbons und einer Stinkwanzenpate eher aufrechte Esser. Das modernere Cookbook kommt gar mit raffinierten kleinen Skorpionsnacks, Riesentausendfüßlern an Rosenkohlsprößchen und einem Grillen-Partyknabbermix daher.
Abgesehen von den Insekten braucht man praktisch keine exotischen Zutaten (Schmeißfliegen allerdings haben alle Autoren in ihren Rezepten ausgeklammert), und alle Gerichte sind von den Autoren oder von traditionellen Volksküchen eingehend erprobt und für gut befunden worden. Die Kochbücher sind reich bebildert und enthalten darüber hinaus einen Serviceteil mit weiterführender Literatur und Bezugsquellen für eßbare Insekten. So müssen Novizen nicht erst Stunden damit verbringen, Libellen und Mehlwürmer für das Abendessen einzufangen.
Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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