2001 10 FAZ: Das sind nicht Sachen sondern Menschen
Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS; darin: 'Wissenschaft'), Nr. 42 vom 21. Oktober 2001, Seite 65
Das sind nicht Sachen, sondern Menschen
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VON MARK BENECKE
Professionelle Distanz ist für Kriminalbiologen eine zwingende Notwendigkeit. Bei den Gerichtsmedizinern von Manhattan bricht dieser Abwehrmechanismus zusammen.
NEW YORK. In einem Penthouse am Washington Square, auf der Mittelachse Manhattans und gerade noch weit genug von den Twin Towers entfernt, wohnt meine Freundin Jeanne. Sie muß um die neunzig Jahre alt sein, denn in einem ihrer Buchregale stehen zwei Oscars, die ihr verstorbener Ehemann 1950 und 1951 gewonnen hat.
Als das zweite Flugzeug in das World Trade Center raste, kam gerade Jeannes Zahnarzt zu Besuch. Die beiden gingen auf die Terrasse und blickten erst einmal in die falsche Richtung, nach Uptown. "Ich war fest davon überzeugt", erklärt Jeanne mit komisch schwankender Stimme, "dass als nächstes das Empire State dran sein würde. Wäre doch logisch gewesen, oder?" Das stimmt. In einer Stadt, die in Kino und Comics seit 1997 ununterbrochen von Sauriern, Flutwellen, Kometen, Erdbeben, Bomben und dem Klimawandel verschluckt wurde, wäre das logisch gewesen.
Wo Großstadtneurotiker wie meine Freundin ins Fürchten, Hadern und Spekulieren kommen, ziehen sich Wissenschaftler normalerweise in die Welt der Daten und Fakten zurück.
Aber in diesen Wochen ist nichts mehr normal.
Auch nicht im Institut für Rechtsmedizin der Stadt New York. Es wird derzeit von den State Troopers, der Staatspolizei New Yorks, bewacht. Obwohl kaum jemand weiß, dass hier der Knotenpunkt aller kriminalbiologischen Untersuchungen liegt, ziehen die Herren in anachronistisch bekrempten Hüten die bewährte No-nonsense-Methode durch und lassen sogar die Mitarbeiter des Institutes nur dann jenseits des gelben Plastikbandes, wenn sie ihren Lichtbildausweis vorzeigen.
Was genau sie da so streng bewachen, wissen die Vorschriftenhüter wohl auch nicht, denn außer ein paar bunten Zelten mit Ausrüstung und einem Essensausgabestand der Heilsarmee gäbe es auf der dahinterliegenden Straße nicht viel zu sehen. Vielleicht wollen die State Troopers den Schrecken aussperren.
Uns Kriminalbiologen fällt es meist leicht, den Horror fernzuhalten, denn Gewebestücke und andere biologische Spuren gelangen stets in neutralen Plastikgefäßen auf den Arbeitstisch. Abgesehen von einer mit wasserfestem Faserschreiber vergebenen Nummer tragen die Spuren keine Informationen zum Fall. Und die wissenschaftliche Untersuchung verwandelt auch den letzten Rest des Geweblichen in anonyme Zahlengruppen und Linien (siehe Grafik).
Bei der Herstellung genetischer Fingerabdrücke wird das biologische Material sogar absichtlich so stark zersetzt, dass nur noch der reine Informationsspeicher, die Erbsubstanz DNA, übrigbleibt. Der Rest wird weggegossen.
So auf das Wesentliche reduziert, werden die Gewebeproben mit Referenzmaterialien — beispielsweise Haaren aus einem Kamm der vermissten Person oder Speichel von deren Eltern — in Form von DNA-Strichcodes im Virtuellen verglichen.
Noch nicht einmal der Geruch erinnert dann noch an das Schicksal der Menschen, die hinter den Fallnummern steckten. In New York haben sich die Untersucher darauf geeinigt, dass ein Gewebestück von Ground Zero mindestens so groß wie ein Penny sein muß, um verarbeitet zu werden. Mit technischer Raffinesse gelänge es zwar, auch für das Auge nicht mehr sichtbare Mengen biologischen Materials auszuwerten. Doch die Anzahl der möglichen Spuren soll nicht ins sinnfreie vergrößert werden.
Es ist ohnehin klar, dass die meisten Opfer des Anschlags nicht durch biologische Beweise identifiziert werden können: Vor allem die mechanische Gewalt des Gebäudezusammensturzes, aber auch Staub, Sonne, Wind und Regen haben vielen Toten selbst diese kleinsten Spuren ihrer Körper geraubt.
Die sichergestellten Spuren werden in den kriminalbiologischen Laboren zu einem organisierbaren Untersuchungsgut, das sich in Computernetze abspeichern und versenden lässt. So schmilzt ein monströses Attentat mit Hunderttausenden Gewebefetzen zu einer Serie von genetischen Fingerabdrücken zusammen, die zuletzt auf eine einzige PCMCIA*-Festplatte passen werden, die so klein ist, wie drei aufeinandergelegte Sparkassenkarten.
Die Erfahrung zeigt, dass sich diejenigen Kollegen, die biologische Spuren auch am Tatort (das heißt: nicht nur im Labor) bearbeiten, oft eine verdächtig freundlich-professionelle Kommunikationsfassade zulegen. Dieses verhalten hilft ihnen, Details jenseits des Wissenschaftlichen zu überhören.
Solche Informationen, die oft das Schicksal der Opfer betreffen, haben schon manchen Untersucher ungewollt bedrängt. Denn jede psychische Abschirmung gegen den Unsinn des Bösen kann nur so lange funktionieren, wie der Zufall keine versteckte Saite des Untersuchers anzupft.
Einen befreundeten Polizisten erwischte es beispielsweise bei einem Zugunglück. Die Arbeit am Fundort warf ihn für mehrere Monate derart aus dem Gleichgewicht, dass ihn sein Arzt für ein halbes Jahr aus dem Berufsleben zog. Der gestandene Mordermittler hatte bis dahin die blutigen Reste nahezu jeder vorstellbaren Todesart mit angesehen. Doch zweierlei war bei dem Zugunglück für ihn anders: Im Gegensatz zu den bisherigen Fällen hatte es viele Opfer gemeinsam und aus heiterem Himmel getroffen. Zudem überlebten einige den MassenunfalI mit schweren Verletzungen und lagen unter den Trümmern. Es waren wohl diese unvorhergesehen einstürmenden Gefühle der Lebenden, die mein Kollege mehr fürchtete als den Anblick von Erschossenen und Hängenden. Ähnlich geht es den Helfern in Manhattan. Fast alle von ihnen hatten live durch ihre Fenster gesehen, wie das World Trade Center einstürzte, und fast jeder Manhattanee kennt jemanden, dessen Freund oder Verwandter im Schuttberg starb.
Ausgerechnet vor dem Eingang des Bellevue-Krankenhauses, in dem eine der zentralen DNA-Typisierungsstellen liegt, haben die New Yorker außerdem Hunderte von bebilderten Suchbotschaften an einen riesigen Bauzaun gepinnt. Jeden Morgen, Mittag und Abend müssen die Ärzte des Krankenhauses und die Kriminalbiologen des Institutes für Rechtsmedizin nun an dieser Wall of Prayers entlanglaufen. Sie sehen nicht nur die oft sinnleeren Beschreibungen der Vermißten ("blond, ein Meter siebzig") samt den erschütterten Angehörigen, die gleich davorstehen, sondern auch die Gesichter derer, die sie als Gewebe im Reagiergefäß hatten oder vielleicht haben werden.
Entsprechend sind ihre Reaktionen. Einer der Helfer redete sich abends bei mir länger Mut an, bis er plötzlich unerwartet verkündete, er werde die Stadt für immer verlassen. Ein anderer lehnte sich in einer Bar zurück und bestellte wie gewohnt eine Erdbeer-Margherita. Als er sich darüber beugte, um aus dem Strohhalm zu trinken, traten ihm die Tränen in die Augen. Es wäre wohl ausnahmsweise eine Pina Colada angezeigt gewesen: Sie hätte meinen Kollegen nicht an die täglich bis zu zwölf Stunden lang an ihm vorbeiziehenden Gewebestücke erinnert.
Nicht umsonst gilt bei forensischen Einsätzen die Regel, dass die Leichenuntersucher niemals Ermittlungen unter den Lebenden führen dürfen. Deshalb stellen zum Beispiel Einsätze in Kriegsgebieten die aus sterilen Labors kommenden Untersucher oft vor eine harte Probe, in deren Verlauf sich ihre Persönlichkeit auffallend verändert. Nicht selten werden sie toleranter und aufgeklärter, manchmal aber auch menschenscheu.
Weil sich Seelisches durch Fallarbeit zum Guten wie zum Schlechten entwickeln kann, verordnet das FBI seinen Helfern grundsätzlich sogenannte Debriefings, eine oft kollegiale Form der Gesprächstherapie. Was dabei zutage tritt, ist erstaunlich. Vor gut einem Jahr habe ich erlebt, wie ein Kurs mit erfahrenen Spezialagenten in der FBI-Academy innerhalb einer Stunde zu einem butterweich debrieften Plenum wurde. Der Karohemd tragende Psvcholologe, sonst Experte für Schwerverbrecher, war eine Woche lang neben uns hergetappt und wurde skeptisch belächelt. Trotzdem schütteten die harten Kerls aus allen U.S.-Bundesstaaten ihm in einer abendlichen Zwangs-Gruppensitzung das Herz aus, ohne dass er auch nur eine Frage stellte. Die Kollegen schimpften über die Einsatzbedingungen, mangelnde Anerkennung und darüber, dass ihre heile Welt durch die Fallarbeit an den unmöglichsten Stellen bricht.
Das einzige, was der Psychologe am Ende sagte, war erfrischend frei von Freudscher Vergeistigung: "Sehen Sie, das hat Ihnen allen gutgetan. Einen Tip habe ich noch für Sie, wenn Sie sich mal wieder überfordert fühlen. Gehen Sie eine halbe Stunde vor die Tür — spazieren." Gelacht hat niemand.
Der Autor ist einer der führenden deutschen Sachverständigen für die kriminaltechnisch-forensische Sicherung, Untersuchung und Auswertung biologischer Spuren an Tatorten. Er arbeitet international und war früher als Kriminalbiologe in der Rechtsmedizin in Manhattan angestellt.
Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
(*) Ergänzung 2016: PCMCIA: Eine Art Speicherkarte, die 2001 verbreitet war.
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