Blutegel
Quelle: Stefan Schorn & Mark Benecke: 'Blutegel' (erscheint 2019 im eygennutz Verlag)
Vorwort von Mark Benecke
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VON MARK BENECKE
Ich finde es richtig cool, dass Stephan Schorn eine aktuelle und umfassende Darstellung über Blutegel geschrieben hat. Jahrzehntelang war es selbstverständlich, dass Monografien über jedes nur erdenkliche “Thier” geschrieben wurden, vom Löwen bis zur Weinbergschnecke. Bis in die 1970er Jahre gab es eine ganze Literaturgattung dazu, die heute nur noch wie ein Märchen bekannt ist und doch massenhaft verbreitet und geliebt war, beispielsweise die Tierbücher von Brehm (ab 1864), der es eher mit Wirbeltieren hatte und die damals als “niederen” Tiere bezeichneten Lebewesen seinem Co-Autor, dem hervorragenden Kerbtierkundler Ernst Ludwig Taschenberg, überliess, sowie Jean-Henri Fabre, der seit seiner Kindheit die Krabbeltiere liebte (“Souvenirs Entomologiques”, ab 1891). All diese Werke lesen sich bis heute sehr gut und noch nicht mal altertümlich. In jedem Internet-Bücherantiquariat sind sie für wenig Geld zu haben. Es lohnt sich, die Texte als papiernes Buch zu besorgen -- versprochen.
Meine erste Blutegel-Zucht legte ich, ganz karohemdtragender Kauz, während des Biologie-Studiums mit Tieren aus der Apotheke an. Im zoologischen Großpraktikum gab es zum Glück einen älteren Forscher, der einige Tricks zur Fütterung kannte: Parafilm mit Achsel-Schweiß (ohne Deo) bestreichen, das Futter-Blut vorher erwärmen, einen Finger ein wenig ins Wasser tupfen. Leider starben trotzdem regelmäßig Tiere, wenn wir aufgetautes Blut vom Metzger verfütterten — lag es an den Zusätzen dort (Salz, EDTA) oder doch an Bakterien wegen der nicht häufigen Wasserwechsel im Aquarium? Die — übrigens sehr schönen — Tiere blieben uns rätselhaft, natürlich auch wegen ihrer nicht vorhandenen Mimik.
Bei einem mehrmonatigen Psychologie-Praktikum auf einer sehr einsamen Insel in Irland gab mir der dort lebende Psychologie-Professor dann eine entscheidende Idee, um herauszufinden, was die “niederen” Tiere wirklich können. Er hatte in den 1960er Jahren mit Affen gearbeitet, die für Raumfahrt-Missionen eingesetzt werden sollten, später dann mit Fischen und nun mit Schnecken und Tintenfischen, und kannte viele Tricks, mit denen man sich auch evolutionär weiter entfernten Lebewesen nähern kann. Einer davon ist das so genannte Vermeidungslernen. Denn dass relativ hart verdrahtete Tiere ohne echtes Gehirn (wie Blutegel) im eigentlichen Sinn viel begreifen können, ist vielleicht weniger wahrscheinlich, als dass sie Dinge vermeiden lernen. Die irischen Salzwasserschnecken lernten beispielsweise, bestimmte Zeiten lang ruhig zu halten, andernfalls wurden sie mit einem kalten Stück Metall am Fuß angetupft. Das mochten sie nicht, und einige Tage konnten sie sich tatsächlich merken, sich auf unserer Versuchs-Oberfläche aus Glas möglichst nicht zu rühren.
Heimgekehrt, versuchte ich mit einer Salatschüssel, einem Holz-Stiel aus einem “Braunen Bär” sowie einem Edding, den Blutegeln beizubringen, nicht über eine für sie unsichtbare Höhen-Linie zu kriechen. Zu meiner Verblüffung lernten die hübschen Racker dieses kleine Kunststück. Allerdings vergaßen sie es auch recht schnell wieder... Immerhin — ich hatte begriffen, dass man erst einmal erproben muss, was ein Lebewesen überhaupt können kann, bevor man sich ein Urteil über seine Fähigkeiten bildet. Diesem Grundsatz bin ich bis heute treu geblieben, obwohl ich nun mit komplizierten und vertrackten Kriminalfällen arbeite. Das geistige Erbe der Blutegel-Versuche wende ich aber immer noch gerne und streng an: Nicht denken -- erst recht nicht für andere -- sondern lieber ausprobieren.
Ach ja, noch was, auch wenn es nervt. Unsere Welt ist ein riesiges Netz fein verwobener Lebens-Beziehungen. Es lohnt sich, auch die merkwürdigen und ekeligen Lebewesen anzuschauen und zu verstehen, denn erstens sind sie nicht ohne Grund hunderttausende oder Millionen von Jahren länger auf der Erde als wir Menschen (sie sind sehr gut angepasst), und zweitens kracht ohne sie auch unsere Lebensgrundlage zusammen — garantiert. Oder können Sie Stickstoff fixieren, Algen filtrieren oder sich von Blut ernähren? Eben.
Damit viel Spaß beim Lesen. Wirbellose Lebewesen rocken.
Köln, Juni 2010 Mark Benecke
Kriminalbiologe
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