2012 09 Greatest Berlin: Woher sollen Kinder Plutonium bekommen
Quelle: Greatest Berlin, 09/2012, Seiten 26 bis 29
Dr. Mark Benecke
Woher sollen Kinder Plutonium bekommen?
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VON TOBIAS SCHAPER
Er ist Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe. Dr. Mark Benecke gibt nicht nur den Forensik-Experten in Talkshows, sondern füllt mit Lesungen und Vorträgen die Veranstaltungssäle. Der 41-jährige Kölner gastiert am 29. September im Babylon. Dort stellt er sein Kinderbuch „Das knallt dem Frosch die Locken weg“ in einer anar- chischen Experimentiershow vor. Wir sprachen mit ihm über mozartgläubige Eltern, eine unterirdische Kirche voller schwarzer Gestalten und die neuronalen Verschaltungen, die man für EBM braucht.
Du hast ein Experimentierbuch für Kinder geschrieben. Hättest du dir als Kind so etwas gewünscht?
MB: Als ich Kind war, gab es so was leider nicht. Dafür gab es damals noch alle Dinge, die man für die Experimente braucht, problemlos in der Apotheke. Heute schieben die totale Paranoia; die glauben wohl, dass heute jeder ein potentieller Terrorist ist. Ich besitze alte Experimentierbücher, in denen Eisen schmelzen als „ungefährliches Experiment“ empfohlen wird. Wenn man sich eine sichere Stelle sucht und verantwortlich vorgeht, kann man Blechdosen zerschmelzen. Sowas traut man den Jugendlichen heute gar nicht mehr zu. Im Buch „Das haut dem Frosch die Locken weg“ hatte ich ursprünglich noch die Synthese von LSD und den Bau einer Atombombe drin, aber das hat der Verlag rausgestrichen. Ich finde das völlig lächerlich – wo sollen die Kinder denn Plutonium herbekommen?
Wie hat man sich eine deiner Lesungen für Kinder vorzustellen?
MB: Wir machen es so, wie es die Kinder lustig finden. Das kündigen wir vorher auch so an, damit sich hinterher die Erwachsene nicht beschweren, es sei total unstrukturiert gewesen. Wir packen eine riesige Kiste mit Kram ein, zeigen, was man damit machen kann. Kinder interessieren sich kein bisschen für die Erklärungen, die wollen vor allem staunen. Zehn Jahre später können sie sich ja immer noch informieren, was da genau passiert ist. Außerdem zeige ich Bilder von meiner Arbeit im Labor, weil es die Kinder interessiert, was ein Forscher eigentlich macht. Auf Pädagogik scheiße ich dabei komplett, es soll Spaß machen!.
Aber wollen nicht auch Erwachsene staunen?
MB: Die deutschen Eltern wollen vor allem, dass Mozart und Beethoven vorkommen. Man muss den Leuten die Möglichkeit geben, staunen zu dürfen. Bei Kindern funktioniert das sehr gut über das Tempo und das Chaos. Für die Erwachsenen muss man Gags einbauen und ihnen vermitteln, dass sie nicht immer Schopenhauer zitieren müssen, sondern sich einfach auch mal gehen lassen können.
Wo arbeitest du lieber – im stillen Labor oder auf öffentlichen Bühnen?
MB: Ich war gerade eine Woche bei den Mumien in Palermo. Ich habe mein Mikroskop eingepackt und bin wie Indiana Jones in den Mumienkeller gestiegen, während auch noch NTV da herumgekrochen ist. Die Forschungsarbeit findet also nicht nur in der Stille des Labors statt. Das ist nur bei sehr diffizilen Aufgaben der Fall, wenn ich zum Beispiel den Mageninhalt eines Verstorbenen untersuchen muss. Ich gebe auch Kurse für Studenten, wo ich zum Beispiel schon mein ganzes Wohnzimmer in Blut getränkt habe. Eine Studentin war das Opfer, die haben wir durch die Wohnung gezogen und dann die Blutspuren verfolgt und aufgenommen. Die Grenzen zwischen Arbeit und Spaß, Labor und Bühne sind bei mir absolut fließend.
Hast du so etwas wie eine Botschaft?
MB: Die Eltern sollen den Kindern Freiraum lassen rumzubasteln und bei komischen Fragen nicht abwinken, sondern zu versuchen, Antworten zu finden. Meine Eltern haben nie verstanden, was ich als Kind so getrieben habe. Aber sie haben eingesehen, dass sie mich machen lassen sollten. Man muss Freiraum für Querschläger, Querdenker und spontane Ideen lassen. Nach kurzer Zeit gewinnt ein Kind so Einblick in viele ganz unterschiedliche, aber verwandte Dinge. Viele Entdeckungen sind ja zufällig gemacht worden, weil Menschen verschiedene Dinge ausprobiert haben.
Du hinterfragst auch parawissenschaftliche Phänomene. Bist du selbst ein komplett rationaler Typ?
MB: Ich bin Rationalist, weil ich bewusste Entscheidungen anhand klar messbarer Bedingungen fälle. Da bin ich ganz Naturwissenschaftler. Auf der anderen Seite bin ich bei ganz banalen Sachen furchtbar abergläubisch. Man darf zum Beispiel in meiner Nähe nicht fünfmal „Candyman“ sagen, weil ich Angst habe, dass dann der Bösewicht aus dem gleichnamigen Film erscheint.
Gibt es übernatürliche Phänomene, für die du keine wissenschaftliche Erklärung parat hast?
MB: Immer wenn die Datenlage schlecht ist. Wir behandeln gerade einen Fall eines angeblichen Riesen, von dem es katastrophal schlechte Fotos und nur mündliche Berichte gibt. Ich würde mir dann nicht herausnehmen zu sagen, dass das nicht echt ist. Ich gestehe mir zu, es einfach nicht wissen zu können, solange es keinen Gegenbeweis gibt. Es lässt sich zum Beispiel nicht nachweisen, ob unser Gehirn nicht doch von übernatürlichen Wesen abgetastet und gesteuert wird. Das ist ein grundlegender Konflikt mit und zwischen den Religionen. Sie reden über Glaubensinhalte, die sich nie auf objektive Befunde stützen. Ich habe schon verschiedene theologische Phänomene wie das Blutwunder von Neapel oder das Wunderwasser der Heiligen Walburga untersucht. Wenn man mit den Theologen spricht, sagen die immer, es sei doch egal, ob etwas echt ist oder nicht, wichtig ist nur, ob die Leute das glauben. Das ist der Punkt, an dem ich nicht mehr streite. Dann mache ich mir mit denen ein Bier auf und belasse es bei den unterschiedlichen Standpunkten. Das ist wie Musikgeschmack, der ja auch nur eine Reaktion auf neuronale Verschaltungen ist, die wiederum auf bestimmten Erlebnissen in unserem Leben beruhen. So findet jeder etwas anderes musikalisch anregend oder beruhigend. Wie soll man darüber diskutieren?.
Wie steht es denn mit dem Respekt vor den Toten? Darf man in der Leichenhalle schon mal das Pausenbrot auspacken?
MB: Ich esse tagsüber nix. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich tagsüber oft bakterienreiche oder geruchsstarke Flüssigkeiten oder Teilchen an Händen, Haaren oder Klamotten habe... so gesehen kein Problem. Ich selbst habe auch noch nie jemanden am Tatort essen sehen, weil man dadurch ja erstens Spuren legen würde und sich zweitens auch auf die Arbeit konzentrieren soll. Ein Stahlkocher wird wohl auch nicht neben dem Hochofen sein Ei-Brötchen auspacken.
Deine Nervenverschaltung reagiert ja fast ausschließlich auf EBM .
MB: Eigentlich sogar noch härter. Dark Electro, Harsh EBM und Aggro-Tech ist mein Ding. Ausnahmen gibt es wenige, zum Beispiel Pulp oder Nick Cave. Ganz fröhlich mag ich einfach nicht. Ich schaue eben in die Abgründe: psychopathische Mörder, Sexualdelikte, zu Unrecht lebenslang verurteilte Leute, Schizophrene, die zu Hause verhungern. Wenn man damit immer zu tun hat, muss man sich trauen, in die Hölle zu schauen, auch musikalisch. Wenn ich mal in den Himmel schauen will, dann hör ich „The Power of Love“ von Frankie Goes To Hollywood, das gefällt mir auch. Die Musik, die ich überwiegend höre, finde ich auch deshalb so interessant, weil sie im Grunde ein Widerspruch ist: Sie ist böse und traurig, und trotzdem tanzen Menschen dazu, was ja etwas Lebensbejahendes ist.
Du verbringst rund ein Viertel des Jahres in Berlin. Hast du hier einen Lieblingsort?
MB: Mein absoluter Lieblingsort ist der Alexanderplatz, weil der so offen, schmutzig und vielgestaltig ist und dort die Touristen neben den Straßenkindern rumhängen. Den Rosa-Luxemburg-Platz mag ich auch, die ganzen bizarren Läden dort wie den Sexshop mit Fremdgehzimmer, die alles dominierende Volksbühne, das Babylon, die ganzen Yuppie-Läden, dazu die Zentrale der Linken. Dann gab es ja mal diesen Nazi-Laden – das ist schon eine kranke Mischung. Was Ausgehmöglichkeiten anbetrifft, mag ich das Last Cathedral neben dem White Trash. Das sieht aus wie eine unterirdische Kirche voller schwarzer Gestalten, in die immer mal wieder Horden von Pub-Crawlern einbrechen. Sehr bizarr.
Mit herzlichem Dank an Tobias Schaper für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
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