Yvonne Pannewitz: Jack the Ripper
Von Yvonne Pannewitz, Abschlussarbeit zum Fall „Jack the Ripper“
Ließe sich „Jack the Ripper“ heutzutage überführen?
MB im Interview zu den Möglichkeiten moderner Ermittlungsmethoden
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Yvonne:
Ich bin Schülerin und besuche die neunte Klasse. Als Thema für meine Abschlussprüfung habe ich mir die Methoden des 19. und 21. Jahrhunderts, die der Aufklärung eines Mordfalles dienen, am Beispiel des Falles „Jack the Ripper“ ausgesucht.
Der Fall „Jack the Ripper“, der sich im Jahre 1888 im Londoner Stadtteil Whitechapel zugetragen hat und sich aus damaliger Sicht mit einer Mordserie an fünf Prostituierten beschäftigt, ist bis heute nicht lückenlos und eindeutig aufgeklärt. In unserem Interview möchte ich unter anderem gerne herausfinden, ob man mit den Ermittlungsmethoden im Jahr 1888 den Täter überhaupt hätte finden können und ob man den Täter gefunden hätte, wenn man über die Ermittlungsmethoden des 21. Jahrhunderts verfügt hätte.
Im Folgenden fasse ich einige wichtige Hintergrundinformationen über Sie zusammen, die ich recherchiert habe und die erklären weshalb ich Sie als Experte hinzuziehe:
Dr. Mark Benecke, Sie sind „Certified and Sworn In Forensic Biologist“ und bieten „International Forensic Research & Consulting“.
Sie sind der bekannteste forensische Biologe der Welt und insbesondere für eines Ihrer Spezialgebiete bekannt, die sogenannte Entomologie. Hier wird anhand von Insekten, die tote Lebewesen besiedeln, der Todeszeitpunkt eingegrenzt. Daher werden Sie häufig als der „Maden-Mann“ bezeichnet. Sie werden als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger oftmals von mutmaßlichen Tätern oder deren Angehörigen oder Angehörigen von Opfern sowie von der Staatsanwaltschaft beauftragt, um ungeklärte Mordfälle zu untersuchen. Oft handelt es sich dabei um Fälle die bereits einige Jahre zurückliegen und die wiederaufgenommen werden.
Sie haben Biologie, Zoologie und Psychologie in Köln studiert, Ihre Doktorarbeit in Medizinwissenschaften über genetische Fingerabdrücke von Menschen, bzw. genauer gesagt über genetische Fingerabdrücke forensischer biologischer Spuren wie Urin und Haare geschrieben und in den USA und Kanada weitere Kenntnisse zur Mordaufklärung erworben. Unter anderem über Blutspurenspritzmuster an Tatorten und deren Analyse, die Sicherung von Beweisen bei Vergewaltigungsopfern und Insekten und deren Rolle an Schauplätzen des Verbrechens.
Sie wurden von einem internationalen Team (Geheimdienst) damit beauftragt Hitlers Schädel auf Echtheit zu untersuchen und Sie haben mit einem bekannten kolumbianischen Serienmörder Luis Alfredo Garavito Cubillos gesprochen, um festzustellen um was für eine Art Mensch es sich bei ihm handelt.
Darüber hinaus unterrichten sie an deutschen Polizeischulen und unter anderem auch beim amerikanischen FBI (Federal Bureau of Investigation), halten weltweit Vorträge und sind Mitglied diverser forensischer Gesellschaften.
Im Privaten lieben sie komplexe Aufgabenstellungen und das korrekte Sortieren von Bluerays. Sie ekeln sich vor Leberwurst und essen stattdessen vegetarisch, haben ein wenig Angst vor Spinnen, aber lieben Insekten, besitzen keinen Fernseher, verehren Sherlock Holmes, rauchen Pfeife, spielen Querflöte, sind verheiratet, haben Kinder, ein weißes Kaninchen, Schaben die fauchen können, gehören einer Partei an, die einen Dinosaurier als Bundespräsidenten anbieten möchte und wohnen in Köln, wenn Sie nicht gerade irgendwo auf der Welt unterwegs sind.
Y.P.: Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?
M.B: Passt schon ;)
Y.P.: Welche Tätigkeiten umfasst das Aufgabenfeld eines Forensikers bei der Ermittlung in Gewaltverbrechen?
M.B: Ich mache zwei Sachen. Zum einen bin ich als Spurenkundler tätig und gucke mir biologische Spuren bei vermuteten Gewaltverbrechen an. Mein Spezialgebiet ist die forensische Entomologie, das macht weltweit leider kaum jemand, obwohl einige Kolleg/innen und ich international Trainings anbieten. „Forensik“ nennt man die Aufklärung eines Kriminalfalls mit einer Mischung aus polizeilichen und naturwissenschaftlichen Techniken, durch Polizei und Rechtsmedizin,
Entomologie heißt die Insektenkunde. Als Insektenforscher untersuche ich unter anderem Fliegen, Käfer und ihre Larven auf Leichen.
Die Leichenbesiedelung durch Insekten gibt Hinweise auf die Leichenliegezeit, Todesursache und Todesumstände. Auch bei lebendigen Lebewesen, Lebensmitteln und Gebäuden können Insekten Rückschlüsse zu bestimmten Umständen bieten.
Ich schaue mir also die Insekten an. Dann kann ich manchmal beispielsweise sagen, dass ein Insekt fünf Tage auf der Leiche gelebt hat, oder dass eine Leiche mit Sicherheit längere Zeit in einem Haus gelegen hat und nicht an der Stelle, wo sie gefunden wurde.
Ich suche und untersuche auch andere Spuren von Tatorten, also Blut, Haare, Sperma, Urin, Kot und Speichel.
Daraus ziehe ich dann Schlüsse über Tatzeit, Tatort und Tathergang. Der Rest des Falles ist mir dabei vollkommen egal.
Wenn es aber um mein zweites Aufgabengebiet, die Tatortrekonstruktion geht, hole ich mir alle möglichen Infos heran und rede mit jedem, der irgendetwas wissen könnte, um herauszukriegen, welche Spuren es noch geben könnte. Ich untersuche Fälle die Privatleute oder staatliche Stellen und andere sehr merkwürdig oder schräg finden und die in irgendeiner Sackgasse gelandet sind. Wir sehen uns Akten und Spuren an und versuchen, mit Leuten zu reden, die noch irgendetwas wissen.
Meist habe ich kniffelige Einzelfälle zu lösen. Da muss ich herumtüfteln und winzigen Spuren nachgehen: Wie lag der Tote da? Wie lange ist er schon tot? Ist der Fundort auch der Tatort? Wenn wir uns mit Spuren beschäftigen, schauen wir wo Spuren sein könnten, und stellen Fragen: Wo hat sich wer, wann, wie lange aufgehalten? Wie war sein Weg? Hat es geregnet? Laufen viele Menschen durch? Man muss vor Ort ein Bild bekommen.
Dann versuchen wir zusammenzuführen, was da passiert sein könnte, welche Alternativen möglich wären und so den Tathergang zu rekonstruieren.
Y.P.: Machen Sie auch Experimente um einen Tathergang nachzustellen und ihn sich besser erklären zu können?
M.B: So oft es geht -- das finde ich sehr wichtig. Erst dann kriegt man ein Gespür für die Abläufe: Kann man sich wirklich hinter dieser Tür verstecken, ohne gesehen zu werden? Was ganz genau sieht man, wenn man hinter diesem Stapel Kartons liegt und passt das zu dem, was das Opfer sagt und was die Blutspuren sozusagen erzählen?
Y.P.: Sind bestimmte Charaktereigenschaften wichtig für den Beruf des forensischen Biologen?
M.B: Man muss Details mögen. Also eine größere Vorliebe für das Spezielle haben als für das Allgemeine. Aber mögen reicht da nicht, man muss auch ein Auge dafür haben.
Y.P.: Kann man das lernen?
M.B: Ich glaube nicht! So wie ich das bisher beobachtet habe - bei Kollegen, Studierenden und bei mir - ist das eher so: Entweder man kann das von vornherein oder eben nicht. Entweder findet man Details langweilig oder interessant, dazwischen gibt es nix. Das ist so wie bei einer Schwangerschaft. Ein bisschen schwanger geht nicht...
Es ist ein unheimlich komplizierter Job.
Fälle durch Querdenken, verschiedene Techniken und Experimentieren fundiert und gerichtlich nachvollziehbar lösen. Das ist traumhaft. Aber für normale Leute ist dieses verwurschtelte Denken, das zu einer supereinfachen Lösung führen muss, oft ätzend.
Y.P.: Wie sieht das Vorgehen an einem Tatort genau aus?
M.B: Im Normalfall kommen zuerst die Leute, die Fingerabdrücke suchen. Danach die DNA-Spuren-Sicherer. Manchmal finden die Fingerabdruck-Spezialisten aber bereits einen blutigen Abdruck, dann melden die sich schnell bei den DNA-Leuten. Das ist natürlich sehr sexy für einen Ermittler: ein Fingerabdruck vom Täter mit Blut vom Opfer. Der kann jedenfalls nicht behaupten, zur Tatzeit nicht da gewesen zu sein. Ein Fingerabdruck allein kann ja auch zu einer anderen Zeit entstanden sein.
Ich gehe mit den Ermittlern zum Tatort und suche nach Insekten, die sich auf der Leiche angesiedelt haben. Aus der Größe und dem Entwicklungsstadium kann man zum Beispiel schließen, wie lange die Leiche schon liegt. Oder man findet in den Larven Gifte, die in der Leiche selbst schon nicht mehr nachweisbar sind. Ein anderes wichtiges Gebiet ist die Vernachlässigung von alten Leuten und Kleinkindern. Es gibt Insekten, die gehen nur auf Kot und Urin. Und wenn ich die in einer Windel finde, lässt sich errechnen, wie lange jemand vernachlässigt wurde. Bei Blutspuren geht es meist um die Verteilung des Blutes und wie sich die Personen bewegt haben, die blutig waren.
Erst einmal registriere ich alles, schreibe auf, fotografiere, notiere, beschrifte, katalogisiere, kartiere. Und wenn es dann um die Einordnung geht, was das alles für den Fall bedeutet, lautet die Regel: Ich glaube erst einmal gar nichts. Ich glaube auch nicht mir selbst. Schlechte Sachverständige denken, dass es eine Person auf der Welt gibt, auf die sie sich verlassen können: sie selbst. Aber das stimmt nicht. Erfahrungsgemäß macht man viele Denkfehler und steht sich selbst im Weg.
Die wichtigste Regel beim „Begehen“ eines vermuteten Tatortes lautet: bloß nichts anfassen! Zuerst muss man alles fotografieren. Das Zweitwichtigste ist, dass sich die Spezialisten vor Ort absprechen. Sonst verändert der Mensch mit dem Klebeband, der Faserspuren sammelt, vielleicht die Anordnung von Spuren. Oder die DNA-Spezialisten bewegen die Leiche, wenn sie Körpersekrete suchen, und verbringen Fliegenmaden an eine andere Körperstelle. Manchmal wird eine Leiche so schnell wie möglich weggebracht, damit die Presse keine Hinweise erhält und der Täter gewarnt wird, oder sonst was schief geht. Aber gerade der eilige Abtransport kann ein Problem sein. Manchmal werden auch aus Angst vor dem sagenumwobenen Leichengift, das es nicht gibt – sonst dürften die Leute auch keine Wurst und keine Schnitzel mehr essen, die Kleider und Gegenstände aller Toten schnell in eine große Biohazard-Tonne geworfen. Da können dann schon mal die wichtigen Beweismittel verloren gehen oder verwechselt werden.
Y.P.: Welche Ausrüstungsgegenstände nutzen Sie für die Untersuchung eines potentiellen Tatortes und in Ihrem Labor?
M.B: Lupe, Taschenlampe, Tatort-Aufkleber, Packpapier, Pinzette, Rechner, iPhone, Kamera, Ladekabel und Laserpointer.
Am wichtigsten ist zunächst mein iPhone! Im Ernst, wir fotografieren zunehmend mit dem iPhone durch unsere Mikroskope, die Bilder haben eine tolle Makroauflösung durch den Tubus. Aber das ist natürlich nicht alles. Um Proben zu untersuchen, benötigen wir zum einen Vergrößerungsgeräte, in den meisten Fällen analoge Lichtmikroskope. Dazu gehören aber auch UV-Licht und monochromatische Lichtquellen, mit denen wir die Proben beleuchten und Sekretspuren erkennen können, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Für das Spurensammeln am Tatort habe ich meine LEICA-Kamera mit dabei und meine Taschenlampe – laut Hersteller kann ich mich damit sogar gegen Feinde verteidigen. Für mich wichtig ist allerdings, dass sie ein wirklich, wirklich helles Licht macht, mit dem ich den Tatort untersuchen kann.
In meinem Labor ist es ziemlich leer! In der Mitte steht ein großer Tisch, auf dem die Proben ausgebreitet werden. In Schränken bewahren wir die Lichtquellen und Mikroskope auf, die nach Bedarf hervorgeholt werden. Das ganze Labor passt in große, stabile Metallkisten, und wir haben es schon mal nach Bukarest und Palermo verschifft.
Y.P.: Ich habe recherchiert, dass den Ermittlern im Jahre 1888 aus heutiger Sicht dürftige Ermittlungsmethoden zur Verfügung standen und es auch weitere Schwierigkeiten gab. Verbrechensverhütung fand durch nächtliche Polizeistreifen statt. Verfolgungsjagden waren schwierig, weil nur sehr wenige Haustüren abschließbar waren und die Täter über Hinterhöfe entkommen oder sich in Häusern verstecken konnten. Die Ermittlungsarbeit bestand im Wesentlichen aus der Sicherung des Tatortes, dem Verhör von Zeugen, der Fotographie der Leichen, der Anfertigung von Tatortskizzen und dem Schreiben eines Berichtes.
Fingerabdruckanalyse kam in London 1888 nicht zur Anwendung, aber eine Identifikation der Opfer anhand der Augen und Ohren. Es wurde aus den gesammelten Informationen ein Täterprofil erstellt und anhand des Profils Verdächtige gesucht und verhört. Welche Ermittlungsmethoden aus dem 21. Jahrhundert hätten vor 126 Jahren in London bei der Ermittlung geholfen?
M.B: Der „ genetischen Fingerabdruck“. Da untersucht man in Körperzellen wie Haaren, Haut, Speichel oder Blut die DNA, also die Erbsubstanz. Der „Fingerabdruck“ der DNA ist für jeden Menschen einzigartig. Die Methode nützt besonders bei der Identifizierung des Täters, wenn man Vergleichsproben von Verdächtigen hat. Man kann sogar aus blutsaugenden Stechmücken am Tatort die DNA eines Täters ermitteln. Richtig durchgeführt, ist der „genetische Fingerabdruck“ die sicherste Methode überhaupt.
Der genetische Fingerabdruck hat in den letzten 20 Jahren einen steilen Aufschwung in die Aufklärungsrate gebracht. Er nützt besonders bei der Täteridentifizierung, wenn man Vergleichsproben von Verdächtigen hat. Aber aus einer Spur ein Täterbild zu zeichnen, gelingt momentan noch nicht. Lediglich das Geschlecht und bestimmte Erbkrankheiten kann man sehen. Aussagen über Augen- und Haarfarbe aus einem Blutstropfen oder Speichelrest zu machen, ist technisch noch nicht gut möglich. Man kann bisher nur ausschließen, dass ein Täter genetisch rote Haare hat.
Richtig durchgeführt ist der genetische Fingerabdruck wie das Flugzeug bei den Verkehrsmitteln wie gesagt: die sicherste Methode überhaupt. Aber Vorsicht: Die Rechtsprechung sagt, man darf nicht allein aufgrund einer DNA-Probe verurteilt werden. Um einer Person eine Tat zuzuordnen, muss es ein Motiv geben, einen möglichen zeitlichen und räumlichen Ablauf und jemanden, der davon profitiert.
Y.P.: Bei meinen Recherchen zu der Mordserie von 1888 bin ich auf Schwierigkeiten der Ermittler gestoßen, wie zum Beispiel, dass es nur Schwarz-Weiß-Fotographie mit sperrigen, schlecht beweglichen Fotogeräten gab und dass trotz einem schriftlichen Hinweis auf die Möglichkeiten der Fingerabdruckanalyse, die Polizei nicht darauf reagiert hat. Außerdem dass die Polizisten nur über unzureichende Beleuchtungsmöglichkeiten mit schwachen Gaslampen verfügt haben und es keine Gerichtsmedizin im heutigen Sinne gab? Sehen Sie noch weitere Schwierigkeiten?
M.B: Also, in diesem speziellen Fall würde ich nicht groß schimpfen, es war halt damals so, wie es war. Wenn das heute passieren würde, dann würde ich aber in der Tat sagen: Wir könnten uns viel Gelaber sparen und ganz viele Fälle aufklären, wenn die Spuren häufiger angesehen und besser gesichert würden. Allein die Fotos vom Tatort! Früher gab es dafür professionelle Fotografen. Heute müssen es die Polizisten oft selbst machen. Die können es aber meistens nicht. Wie oft ich es schon erlebt habe, dass die Fotos vom Tatort verwackelt sind, total unbrauchbar. Wenn es ganz schlimm kommt, bleibt der Fall deswegen unaufgeklärt.
Y.P.: Können bei der Untersuchung des Tatortes auch Spuren zerstört werden?
M.B: Ja, das passiert unweigerlich, denn anders kann man einen Tatort nicht abarbeiten. Die naturwissenschaftliche Kriminalistik ist eine analytische Technik. Da zergliedern wir und zerstören. Darum muss man sich zuerst entscheiden, wonach gesucht wird. Eine heikle Entscheidung. Solange sich die Experten gegenseitig respektieren, geht es. Aber die Ermittler müssen natürlich wissen, welchen Sachverständigen sie brauchen. Nicht alle wissen aber, wann es einen Geologen oder einen Psychologen am Tatort braucht. Dazu gehört manchmal auch so eine Art ermittlerische Intuition und gelegentlich einfach die richtige Telefonnummer im Handy, weil man mal zusammen eine Limo getrunken hat.
Y.P.: Ergeben sich Schwierigkeiten durch Spuren die sich an einem Tatort befinden und die eigentlich nichts mit dem Fall zu tun haben?
M.B: Ja, Sekundärübertragungen nennt man das: Einer hat dem anderen eine Zeitung gegeben, der gibt die weiter, und wenn der dann tot ist, ist die Spur vom Ersten dran, den der Dritte gar nicht kannte. Genau darüber schreibe ich Gutachten. Wir ergänzen das in der naturwissenschaftlichen Kriminalistik wie gesagt durch experimentelle Serien.
Y.P.: Worauf sollte man heute noch achten, wenn man einen Tathergang untersucht?
M.B: Man darf nie Annahmen machen, sonst verstellt man sich den Blick auf die Lösung. Wenn man beispielsweise denkt: «Ah, da ist Sperma in der Vagina der weiblichen Leiche, dann handelt es sich also um ein Sexualdelikt» – das muss nicht stimmen. Das kann auch noch vom Vortag sein oder außerhalb in kalt gewaschener Bettwäsche zurückgeblieben sein. Oder man sucht nur nach Spuren am Boden, dabei ist es ein Blutspritzer an der Zimmerdecke, der zeigt, in welchem Winkel ein Messer aus der Person gezogen wurde.
Ein Beispiel: Eine Leiche mit Perücke auf dem Kopf, die Schuhe fein säuberlich parallel daneben. Merkwürdig, oder? Aus den Hosentaschen ziehen mein Team und ich Wasserschnecken. Da ist aber weit und breit kein Wasser! Erst von einem Jäger aus der Gegend erfahren wir, dass der Fundort einmal im Jahr überschwemmt wird. Also kannten wir schon mal den Tatzeitpunkt. War den Strafverfolgern aber alles egal. Die wussten, dass dort in der Gegend Junkies ihr Heroin verstecken. Und damit war klar: Der Tote ist uninteressant, die Sache wurde nicht weiter verfolgt. Warum die Frau eine Perücke trug? Die Polizisten sagten, das weise auf Prostitution hin oder auf Karneval (lacht).
Y.P.: Wäre eine Aufklärung der Mordserie von 1888 möglich gewesen, wenn man damals die kriminaltechnischen Ermittlungsmethoden des 21. Jhdts. gekannt und genutzt hätte?
M.B: Ja, hundert Prozent, weil es nur eine eingeschränkte Anzahl von Verdächtigen gab. Daher wäre die DNA-Auswertung einfach gewesen. Spuren vom Täter waren auch massenhaft an den Leichen: Sperma, Hautzellen, Speichel, Haare...
Y.P.: Ein Nachweis von Spuren an einem Tatort ist auch nach Jahren noch möglich, ist dies auch im Fall Jack the Ripper noch denkbar?
M.B: Ja, die Spuren an sich halten sich gut, besonders im Trockenen. Das geht also auch nach Jahren noch problemlos. Blut zum Beispiel. Wenn es gute Fotos gibt, ist da auch Jahre später noch Einiges möglich, Rekonstruktionen der Tatabläufe zum Beispiel.
Allerdings gibt es verschiedene Arten von „laufender“ Spurenzerstörung. Was man in unserem Bereich unter „laufend“ zusammenfassen könnte, wäre beispielsweise der „Regenwäscht-Blut-weg“-Effekt. Und es gibt noch weitere, zum Beispiel die Alterung von Fingerspuren. Werden Hautleistenabdrücke – also die Linien in der Haut – übertragen, altern sie und werden schlechter. Was sich hingegen sehr gut hält, ist DNA. Allerdings kann auch sie unter bestimmten Einflüssen kaputtgehen, beispielsweise bei einem bestimmten Licht oder bakteriellem Befall. Natürlich kann sie auch einfach weggewischt oder auf andere Art und Weise unbrauchbar werden. Demzufolge kämpfen auch wir mit Vergänglichkeit.
Y.P.: Würden Sie den Fall „Jack the Ripper“ als unlösbar bezeichnen?
M.B: Nee, er ist recht einfach lösbar, wenn man von den bisherigen, wenigen Verdächtigen Vergleichsproben besorgt (was teils gehen könnte; in Archiven liegen teils z.b. Briefe eines Malers, der in Verdacht ist) und noch irgendeinen Originalgegenstand der Opfer findet, auf dem Blut oder Sperma oder Haare des Täters sind. Unlösbar ist anders.
Ob es überhaupt unlösbare Fälle gibt, wissen wir nicht, denn die Besonderheit in meinem Job ist: Etwas, das ich nicht rauskriege, erfahre ich auch nicht. Ich kann nur beschreiben, was da ist oder was offensichtlich weggenommen wurde. Wenn zum Beispiel ein Täter in einer staubigen Wohnung noch die Geldbörse des Opfers klaut, dann erkennt man anhand der Stelle, wo kein Staub ist, dass dort etwas weggenommen wurde. Aber es kann auch etwas weggenommen werden und nichts weist darauf hin, dass es mal da war. Was wir also nicht sehen, das sind Spuren, von denen man gar nicht weiß, ob sie jemals da waren.
Y.P.: Was halten Sie von den Erkenntnissen des amerikanischen Unternehmers und Autors Russell Edwards, der ein Halstuch des vierten Opfers, das aus den Archiven von Scotland Yard stammt käuflich erworben hat und von dem die Beauftragten Experten anhand von DNA-Analyse herausgefunden haben, dass sich darauf DNA des im Jahr 1888 verdächtigen jüdischen Friseurs Aaron Kosminki befunden hat? Glauben Sie damit ist der Fall aufgeklärt, oder ist die Beweislage zu dürftig?
M.B: Die Idee mit dem Schal war super.
Man dachte ja auch kurz, der Fall sei durch DNA gelöst, aber der Kollege hat sich leider ein bisschen vertan. Genauer gesagt hat er die genetische Übereinstimmung der DNA auf dem Schal mit der DNA des Opfers geprüft, aber er hatte natürlich keine „reinen“ Vergleichsspuren des Opfers und des Rippers und der Menschen, die den Schal sonst so angefasst haben. Sein Ergebnis wurde daher kürzlich von anderen Experten im Bereich DNA angezweifelt. Die DNA-Spur ist jedoch nicht das einzige Indiz, das für Aaron Kosminski als Täter spricht. Und so wird er von Ripperologen immer noch als möglicher Täter angesehen.
Y.P.: Sie haben in einem Interview einmal gesagt, dass man als gutsituierter Mensch, der über Einfluss und Macht verfügt auch mit Mord davonkommen kann und dass Morde an einkommensschwachen Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen mit weniger Akribie aufgeklärt werden als die an überspitzt gesagt „wichtigen Menschen“. War das auch 1888 in London der Fall, oder arbeitete das Ermittlerteam aus Ihrer Expertensicht von Anfang an akribisch an der Aufklärung der Prostituiertenmorde?
M.B: Der Staatsanwaltschaft hat eben nur eine bestimmte Summe für Ermittlungen zur Verfügung und muss eine Ermittlung immer begründen. Und dann untersucht man eben eher den Mord an einem respektierten Bürger als den an einem Alki, der tot im Park liegt. Und die meisten Leichen sind nun einmal die von Armen, Alkoholikern, Schizophrenen oder Drogenabhängigen. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben.
Y.P.: Aus Ihrer Sicht gibt es den perfekten Mord entweder indem man einen professionellen Killer beauftragt oder indem man sehr wenig plant. Wenn man die Spuren nicht verstehen kann, kann nicht nachvollzogen werden was passiert ist. Würden Sie die Tatsache, dass der Fall „Jack the Ripper“ bis heute nicht lückenlos und eindeutig aufgeklärt werden konnte auf „mangelnde Planung“ des Täters zurückführen?
M.B: Ja, durchaus. Das war eine wilde, verrückte, hauruckartige Tatserie, die wie eine Naturgewalt in die Gesellschaft brach.
Jede Tat, bei der man die Spuren nicht versteht wäre ein perfekter Mord. Je blöder die Tat, desto schwerer ist es meistens zu verstehen, was passiert ist. Aber generell würde ich sagen, man sollte einfach niemanden umbringen.
Y.P.: Nachdem Sie mit einem berüchtigten Serienmörder unserer Zeit gesprochen haben sind Sie zu dem Schluss gekommen, dass das armselige und langweilige Menschen sind, die in ihren Lügengespinsten und Zwängen gefangen sind. War Jack the Ripper vermutlich auch ein „armseliger Langweiler“?
M.B: Für mich schon.
Menschen, die kein ausgeglichen glückliches Leben — natürlich nach ihrem eigenen Geschmack — führen können, sind für mich Gefangene ihrer Zwänge. Ist auch kein Wunder, dass ich noch nie Täter getroffen habe, die sich selbst irgendwie cool fanden, wenn sie Taten begangen haben.
Serientäter sind zutiefst langweilig. Das, was man an ihnen in Filmen so spannend findet, ist überhaupt nicht vorhanden. Ich habe beispielsweise Luis Alfredo Garavito in einem Gefängnis in Kolumbien getroffen. Der Mann hat über 300 Jungs totgefoltert. Und was macht der? Will mir erzählen, dass er jetzt ein besserer Mensch sei und solche Dinge nicht mehr tun würde. Ich sagte nur: „Das glaubt Ihnen doch kein Mensch.“ Er meinte: „Doch, das war ein Dämon, und der ist jetzt verschwunden.“ Garavito ist der Inbegriff eines paraphilen, antisozialen Täters: er hat keinerlei Emotionen gegenüber seinen Opfern und kann sich an jede einzelne Tat erinnern, ohne jemals eine Aufzeichnung gemacht zu haben. Er kennt das Alter der Kinder, weiß, wo sie begraben sind – alle Details. Im Grunde ist das eine stinknormale Serientäter-Geschichte: Der Vater war Säufer, schon als Kind hat Garavito sexuelle Übergriffe erlebt – das ganze Programm eben. Die genetischen Einflüsse kennen wir nicht. Er ist jedenfalls antisozial, was aber keiner gemerkt hatte. Weil das Land so groß ist und dort solch ein Chaos herrscht, kam es zu dieser hohen Opferzahl.
Y.P.: Sie haben gemeinsam mit Ihrer ehemaligen Frau [...] das Buch „Die Dunkelkammer des Bösen“ geschrieben. Gibt es aus Ihrer Sicht böse Menschen? Sind sie von Geburt an böse oder wie kommt es dazu, dass Menschen wie der unter dem Pseudonym mordende „Jack the Ripper“ solche schrecklichen Taten begehen? Würde man heute als Ermittler beim Verhör eines Verdächtigen sofort erkennen, dass es sich um einen bösen Menschen handelt?
M.B: Ist Ansichtssache. Ich denke, wenn sich jemand klar unsozial verhält, es weiß und nix drauf gibt, dann ist er böse.
Das wirklich Böse sind Menschen, denen andere völlig egal sind. Antisoziale, psychopathische Menschen, die anderen Leid zufügen. Aber genaugenommen ist das Böse die unsoziale Tat an sich – nicht der Mensch.
Es sind genetische Faktoren und die Umwelt, die einen Menschen böse werden lassen. Wenn eine Veranlagung da ist, können etwa auch Traumata gewisse Entwicklungen auslösen. Es handelt sich hierbei nicht um ein Gen, sondern um eine unbekannte genetische Ausstattung oder einen von vielen erblichen Einflüssen. Schon seit langem ist der psychiatrischen Forschung bekannt, dass der Ursprung oft auch im Erbgut liegen muss. Wir werden da in den kommenden Jahren noch sehr viel lernen, weil sich zeigt, dass das Gehirn doch plastischer ist, als wir alle dachten.
Dass „die Gesellschaft“ daran schuld ist, ist immer ein wenig zu pauschal ausgedrückt. Natürlich werden Menschen aber durch ihr näheres Umfeld geformt. Es ist eine Mischung aus genetischer Voraussetzung und Beeinflussung durch das nähere Umfeld oder sonstige Taumata, die dazu führt, dass die Veranlagung tatsächlich ausgelöst wird.
Y.P.: Vielen Dank für das Interview Herr Dr. Benecke.
M.B: Sehr gerne, danke für deine Geduld bei meinen superlangsamen Antworten per Mail.
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