2015 05 Maerkische Allgemeine: Ungeziefer ist ein Steinzeitwort
Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung, Neuruppin, 8. Mai 2015, Seite 14
Ungeziefer ist ein Steinzeitwort
Mark Benecke über Sympathie mit Lokführern und Insekten
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VON CHRISTIAN SCHMETTOW
Mark Benecke (44) ist Kriminalbiologe und lebt in Köln. Der freischaffende Forensiker ist unter anderem Spezialist für die Bestimmung von Todeszeitpunkten. Dabei helfen ihm die Maden verschiedener Insektenarten. An deren Entwicklungsstadien, verbunden mit klimatischen Gegebenheiten, kann Benecke feststellen, wie lange ein Mensch schon tot ist - was wichtig sein kann für das Alibi eines Täters. Darüber hält Mark Benecke auch Vorträge. Die sind oft nichts für empfindliche Mägen. Am Sonnabend spricht der "Madenmann" um 20 Uhr im Neuruppiner Kulturhaus Stadtgarten.
MAZ: Herr Benecke, Sie fahren ja viel
mit der Bahn. Die streikt heute. Wo
stecken Sie gerade fest?
Mark Benecke: „Am Bahnhof Zoo in
Berlin. Bis jetzt gibt es einen Notfallfahrplan,
der gut funktioniert.
Ich habe dadurch viele interessante
Orte kennengelernt, an die
ich sonst nie gekommen wäre.
Orte wie "Fangschleuse" oder
"Briesen (Mark)" .“
MAZ: Wie kommen Sie denn am Sonnabend
nach Neuruppin?
Mark Benecke: Das weiß kein Mensch.
Notfalls per Anhalter.
MAZ: Haben Sie Sympathie für streikende
Lokführer?
Mark Benecke: Die Hauptforderungen
der GDL sind richtig und nachvollziehbar
- weniger Überstunden,
mehr Lohn. Ich versteh' das - falls
die angegebenen Gründe auch
die wirklichen Gründe sind.
MAZ: Sie waren schon etliche Male in
Neuruppin. Was können Sie Ihren
Fans denn am Sonnabend noch
Neues erzählen?
Mark Benecke: Die Neuruppiner können
sich selbst ein Thema wählen und
in der Pause Fragen stellen, die ich
danach alle beantworte. Ich habe
15 Vorträge zur Auswahl.
MAZ: Sie sind Wissenschaftler, Entertainer
und Ermittler zugleich. Wie
lässt sich das vereinbaren? Mörderhalten
sich doch selten an Tourneetermine.
Mark Benecke: Ich arbeite heute eher in
der Nachbereitung von Verbrechen,
am Tatort bin ich inzwischen
fast nicht mehr. Ich schule Polizisten.
Da werde ich selbst nicht
mehr sofort gebraucht.
MAZ: Waren Sie auch schon mal dienstlich
als Forensiker in Neuruppin
oder Umgebung?
Mark Benecke: Das weiß ich nicht mehrbei
mehr als 1000 Fällen.
MAZ: Glauben Sie, dass sich die Leute Fotos von verwesenden Leichen
wirklich aus wissenschaftlichem
Interesse anschauen? Oder geht
es den meisten doch darum, Dinge
zu sehen, die einem sonst verboten
sind? Oder um den Schauer,
dass es nicht mich erwischt hat,
sondern jemand anderen?
Mark Benecke: Ich zeige gar nicht viele
Tatortbilder, eher welche
von wissenschaftlichen
Geländen. Es gibt
auch Vorträge ganz
ohne Leichen - die werden vom
Publikum übrigens
am häufigsten gewählt.
Und ich versuche
diejenigen, die aus
Neugier gekommen
sind, mit meinem Vortrag auf die
wissenschaftliche Seite zu ziehen.
MAZ: Wie vertragen sich so tiefe Einblicke
in polizeiliche Ermittlungen
mit dem Persönlichkeitsschutz der
Opfer? Haben Sie mal Probleme
mit Angehörigen bekommen?
Mark Benecke: Nein. Das Einzige, was je
vorgekommen ist: Ich hatte mal
ein Schwarz-Weiß-Foto von einem
Sexualdelikt aus einem sehr alten
Lehrbuch in einem Vortrag. Daran
hat sich jemand gestört. Das habe
ich dann herausgenommen.
MAZ: Gibt es Dinge, die Sie nicht zeigen
würden? Wo ist die
Grenze?
Mark Benecke: Dinge, die
Menschen negativ beeinflussen.
Es gibt zum
Beispiel ein Foto von einer
Erhängung. Da
rate ich vorher allen,
die persönlich schon
einmal mit so etwas zu
tun hatten, solange die Augen zu
schließen.
MAZ: Sie wollen ja eigentlich nicht unterhalten,
sondern den Menschen etwas
beibringen. Was ist Ihnen
wichtig?
Mark Benecke: Wie man Dinge prüft. Die Leute sollen nicht glauben, hoffen,
wünschen, wollen, denken das
kann man sich alles sparen,
wenn man richtig prüft. Wichtig ist
mir, die Leute ernst zu nehmen.
Viele kommen in der Pause mit
Fragen zu mir, zum Beispiel,
weil sie selbst einen
Todesfall in der Familie
hatten.
MAZ: Nachprüfen kostet
Zeit. Bekommen Sie
bei Ihrer Arbeit noch
die Zeit, die Sie brauchen?
Mark Benecke: Wir investieren
immer mehr Zeit,
als wir bezahlt bekommen. Manche
Fälle sind auch nicht mehr
nachzuprüfen. Ich habe einen
Fall, da gibt es nur noch ein Foto
von 1960. Selbst der Raum, in dem
es aufgenommen wurde, ist heute
nicht mehr da.
MAZ: Leichenschauen kosten Geld, das sich mancher Landkreis gern
spart. Wie groß stehen die Chancen,
dass in Deutschland ein Mord
unentdeckt bleibt?
Mark Benecke: Das ist unbekannt. Dafür
gibt es keine Messtechnik. Die
meisten rätselhaften
Fälle kommen aber aus
einem schwachen sozioökonomischem Umfeld.
MAZ: Das heißt, Morde an
Reichen werden eher
aufgeklärt?
Mark Benecke: Sie werden öfter
untersucht und entsprechend
öfter aufgeklärt.
Es sei denn, sie sterben im
Ausland.
MAZ: Eigentlich haben Sie Biologie studiert.
In die Verbrechensaufklärung
sind Sie durch Zufall hineingerutscht.
Könnten Sie heute auch
ganz woanders arbeiten? Beispielsweise
Insektenvernichtungsmittel für einen Chemiekonzern
entwickeln?
Mark Benecke: Ich würde Insekten nicht
bekämpfen. Ich wäre wohl eher in
Kolumbien und würde sie beobachten.
MAZ: Was fällt Ihnen zu dem schönen
deutschen Wort" Ungeziefer" ein?
Mark Benecke: Ein Wort aus der Steinzeit.
Aberes gibt auch positive Beispiele:
Ich war gerade in Zeschdorf
(Märkisch Oderland). Da haben
sie drei Ameisenhaufen nicht
bekämpft, sondern umgesiedelt.
MAZ: Wenn man so viel mit dem Tod zu
tun hat wie Sie, verändert das die
eigene Einstellung zum Leben?
Mark Benecke: Ich habe viel Respekt gewonnen
vor Leuten, die mit bösen
Erfahrungen durchs Leben gehen,
ganz ohne zu jammern.
MAZ: Gibt es einen "schönen" Tod?
Mark Benecke: Jeden natürlichen Tod,
wenn man alt und müde ist. Und
wenn man mit seinem Leben im
Reinen ist.
MAZ: Bedeutet unser Tod nicht Leben
für andere - für Millionen von Bakterien,
Maden, Regenwürmer?
Mark Benecke: Ja. Und auch für andere
Menschen. Wie sollen die Ressourcen
für alle auf der Welt reichen,
wenn alte Menschen nicht sterben?
MAZ: Ekeln Sie sich wirklich vor nichts
mehr? Nicht mal vor Zugtoiletten?
Mark Benecke: Nee, ich habe im Zug immer
4711 dabei. Ich ekle mich vor
Fleisch und Wurst - wegen der Gewalt,
die Tieren dafür angetan
wurde.
MAZ: Höre ich da Schleichwerbung?
Wird der"Madenmann " von" Kölnisch
Wasser" gesponsert?
Mark Benecke: Nein. Denen ist das,
glaube ich, auch gar nicht recht.
Es hat sich bisher auch noch nie
ein Sponsor für meine Arbeit gefunden.
MAZ: Was verbinden Sie mit Neuruppin?
Mark Benecke: Jede Menge Spuren: Fasern,
Krümelchen, Steinchen. Die
zeige ich als Einleitung bei meinem Vortrag.
Ich mache vorher immer
am Ort ein paar skurrile Fotos.
MAZ: Sie sind Pfeifenraucher. Wussten
Sie, dass es in Neuruppin einen bekannten
Pfeifenmacher gibt?
Mark Benecke: Nein. Aber ich rauche
jetzt auch E-Pfeile. Ich würde mir
gern eine richtig schöne E-Pfeile
bauen lassen. Die Elektronik
würde ich selbst mitbringen,
wenn der Pfeilenmacher sich darauf
einlässt.
Mit herzlichem Dank an Christian Schmettow und die MAZ-Redaktion für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
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