Rechtsmedizin 2011: 8. Interdisziplinäres Fachforum Rechtsmedizin
Quelle: Rechtsmedizin, Heft 21 (2011), Seiten 60 bis 84
8. Interdisziplinäres Fachforum Rechtsmedizin
Bremen, 21.-22.10.2010: Der Fall Michelle
[Weitere Artikel von MB] [Artikel über MB]
VON K. BAUMJOHANN, S. REIBE, L. BENECKE
Das Symposium "Todesermittlungen VIII" des Interdisziplinären Fachforums Rechtsmedizin beschäftigte sich diesmal mit dem Mordfall an der 8-jährigen
Michelle aus Leipzig im Jahr 2008. Am 18. August 2008 verschwand das Mädchen auf dem Heimweg, ihre Leiche wurde zwei Tage später in einem Ententeich gefunden. Der 19-jährige Täter stellte sich unter erheblichem Ermittlungsdruck nach acht Monaten der Polizei.
Alle an diesen Ermittlungen beteiligten Instanzen berichteten vor dem Fachpublikum, das überwiegend aus Kriminalbeamten aus ganz Deutschland bestand, von ihrer Arbeit. Dazu zählten neben den Ermittlungsansätzen auch die Schwierigkeiten und Stolpersteine, die sie während der Gesamtermittlungszeit überwinden mussten. Die Vortragenden waren dabei äußerst selbstkritisch und legten Fehler und Mängel offen dar. Der Leiter der Sonderkommission und ein Kriminaldirektor sowie ein Kriminalhauptkommissar betonten die enorme Größe der einberufenen Soko zu Beginn der Ermittlungen und die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten - von logistischen Problemen bei der Unterkunft der Beamten bis zu Kommunikationslücken zwischen den einzelnen Beteiligten.
Während der gesamten Ermittlungen scheuten sich weder die Leiter der Soko noch die leitende Oberstaatsanwältin davor, ungewöhnliche bis kostspielige Methoden einzusetzen: Vom Akustik-Spezialisten über das Erstellen eines Opferprofils (das indirekt auch Hinweise auf den Täter liefert) bis zum Einsatz von Mantrailing-Hunden wurde ein deutlich erweitertes kriminalistisches Methodenspektrum eingesetzt.
Im Fall Michelle wurde insgesamt rund zwanzigtausend Hinweisen nachgegangen, es wurden zehntausend Befragungen durchgeführt, sodass fünfzig Regalmeter
Akten entstanden. Die Einrichtung eines eigens dafür vorgesehen Raumes war besonders wichtig, um alle Informationen an einem Ort zusammenlaufen
und besprechen zu können. Die ausgedehnte Dokumentation war aber auch beispielsweise für den Vater des toten Mädchens sehr wichtig; er konnte sehen,
was bereits getan wurde, um den Mörder seiner Tochter zu finden. Auch die Einweisung neuer Fall-BearbeiterInnen gelang mittels des zentralen Arbeits-Raumes schneller.
Ein Rechtsmediziner zeigte, dass die zeitlichen Abläufe der Tat ebenso wie die Lagerposition und die Lagerungsbedingungen der Leiche
sehr präzise festgestellt werden konnten. Diese Erkenntnisse flossen sowohl in die Arbeit der OFA - dargestellt von zwei Kriminalhauptkommissaren -, als auch in das von einer Psychologin erstellte Opferprofil ein. Der Schlüssel zum Fall lag in den Augen der Oberstaatsanwältin nicht in einzelnen objektiven Spuren, sondern in den gebündelten Erkenntnissen von OFA, Opferprofil-Erstellung und des Mantrailings. Diese Methoden waren allerdings zunächst von vielen Polizeikollegen
mit Skepsis betrachtet worden. Die voneinander unabhängigen Ergebnisse deuteten dann aber alle in eine Richtung: Der Täter lebte in der Nähe des Opfer, und der Tatbereich war recht eingegrenzt.
Psychologisch war besonders interessant, wie stark die Vorhersagen zu Opfer, Täter und Tatablauf untereinander (und dann auch mit der Realität) übereinstimmten. Die betreffenden Aussagen hatten OFA und die Diplompsychologin unabhängig voneinander entwickelt. Sowohl die Hintergründe der einzelnen Methoden als auch die Anwendung im Fall Michelle wurden dabei umfassend und gut verständlich erklärt.
Obwohl am Opfer keine eindeutig dem Täter zugehörigen DNA-Spuren vorlagen, begann in dem deutlich eingegrenzten Gebiet rund um Michelles Elternhaus
eine DNA-Massenuntersuchung. Die Ermittler näherten sich dem Täter dabei räumlich immer mehr. Auf Empfehlung der OFA wurden die Ermittler angewiesen, bei den Befragungen besonders intensive Fragen zu stellen, um den Druck auf den Täter maximal zu erhöhen. Genau das führte schließlich dazu, dass sich der Täter, ein unmittelbarer Nachbar von Michelle, der Polizei stellte.
Die Veranstaltung des Interdisziplinären Fachforums Rechtsmedizin ist für alle kriminalistisch Interessierten sehr empfehlenswert. Uns als Kriminalbiologinnen und Psychologin beeindruckte besonders die intensive und nicht selbstverständliche Auseinandersetzung mit den Mängeln und Fehlern seitens der Ermittler. Noch beeindruckender waren aber die positiven Ergebnisse der in diesem Fall vorbildlichen interdisziplinären Zusammenarbeit. Sie zeigen, wie wichtig der offene Austausch zwischen vielen verschiedenen Fachleuten auch im kriminalistischen Alltag ist und sein sollte. Sämtliche Vortragenden zeigten sich lernfreudig und aufgeschlossen. Sie überdachten ihre Ergebnisse ausgiebig, sodass die ZuhörerInnen intensiv und vielschichtig an den Ermittlungen teilhaben konnten. Solch eine Veranstaltung sollte es häufiger geben.
Lesetipps