2010 Rechtsmedizin: Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences

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Quelle: Rechtsmedizin, 3 / 2010, Seite 239

Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences (AAFS)

Seattle, 22.02.–27.02.2010

VON MARK BENECKE

[Alle Artikel von MB in der Rechtsmedizin]

Die Tagung im reichen Seattle im Nordwesten der USA bot wie von AAFS-Tagungen gewohnt einen sehr stark gefächerten Themenstrauß mit jeweils sechs gleichzeitig stattfinden Sessions. Der Berichterstatter beleuchtet daher im folgenden nur schlaglichtartig, was geboten wurde.

Die in den USA unbeliebten Fallberichte, die von den Redner-Innen mehr oder weniger in die Vorträge eingeschmuggelt wurden, lieferten durch die kulturell erzwungene Kopplung an statistische Daten verblüffende Einsichten, beispielsweise zur Art der Verbrechen, die von Frauen begangen werden. Entgegen der Vermutung (oder europäischen, alten Beobachtung), dass Frauen in der Regel eher durch Gift oder „Tratsch“ töten, erbrachte eine Auswertung von 1976 bis 1997, dass erstens fast sechzigtausend Tötungen in den gesamten Vereinigten Staaten durch Frauen begangen wurden, und dies zweitens in 53 % der Fälle mit Schusswaffen und 31 % der Fälle mit Messern – keine Spur von „milden“ Tötungsmitteln und sanften Täterinnen also. Auch waren die Opfer der Frauen nicht vorwiegend die Lebenspartner (28 %), sondern in einem Drittel der Fälle soeben geknüpfte Bekanntschaften oder Fremde. Tötungen dieser Art werden in den USA daher von der Polizei öfters falsch ermittelt, weil die Waffengewalt den durchaus erkennbaren, aber eben weiblichen Verdächtigen schlichtweg nicht zugetraut wird.

Zum Problem falscher Grund-Annahmen passte die aufwändige deutsche Studie der psychologischen Kollegin Wawrzyniak, die viel Aufmerksamkeit anzog und zeigte, dass fast alle auto-erotischen Erstickungen - die wegen des Todes des Schauspielers David Carradine in den USA so massiv beachtetet werden, dass die AAFS explizit um Beiträge zu diesem Thema bat - nur unter allein praktizierenden männlichen Masochisten ohne Szene-Einbettung geschehen und überhaupt nichts mit den Delikten durch Sadisten mit Impulskontrollstörungen zu tun haben. Diese Tatsache ist in der Praxis immer dann ein Problem, wenn die Opfer unter bizarren Umständen, oft gefesselt, angetroffen werden und weiblich sind. Da die Anzahl der allein praktizierenden Masochistinnen verschwindend ist, sind fast alle (99,1%) Opfer männlich. Männer finden entweder keine Partnerinnen für diese Aktivitäten und/oder verwenden die autoerotische Betätigung, anders als Frauen, gerne zu reinen Entspannungs-Zwecken und eben nicht vorwiegend als Element sozialer Interaktion. Daher wird in den sehr wenigen Fällen, in denen Masochistinnen alleine verunfallen, zu Unrecht fast immer ein Tötungsdelikt vermutet, während bei Männern viel schneller an einen Unfall gedacht wird.

Ein weiterer Themen-Schwerpunkt lag auf der hohen Rate von Sexualdelikten gegen die wachsende Anzahl alter Menschen (knapp zwei Prozent der Opfer angezeigter Sexualdelikte sind über 65 Jahre alt) sowie den großen Schwierigkeiten, die in U.S.-Gefängnissen durch die Verabreichung von aufputschenden Medikamten wie Ritalin gegen ADHS herrschen. Diese Medikamente werden nicht eingenommen, sondern von anderen Insassen gestohlen, diesen abgepresst oder schlichtweg gehandelt. In Kalifornien, dem Staat mit dem größten Gefängnissystem, sind weit über drei Viertel der Insassen substanzabhängig und bemühen sich daher, über die Diagnose ADHS in den Besitz der Amphetamine zu gelangen. Da die Diagnose nach Meinung der auf dem Kongress anwesenden Psychiater aber nur lebensgeschichtlich objektiviert werden kann, dies aber mangels Unterlagen meist unmöglich ist (gefordert wäre beispielsweise die Befragung der früheren Lehrer des Antragstellers), mussten die Medikamente in mehreren JVAs grundsätzlich verboten werden, da der Handel und die Erpressungen anders nicht mehr zu unterbinden waren.

Der ungewöhnlichste Fallbericht stammte aus Kolumbien, wo der serologische Kollege Yunis einen tetragametischen Chimärismus-Fall beobachtet hatte: Laut seinem eigenen DNA-Gutachten schienen die drei Kinder einer Frau nicht ihre genetischen Nachkommen zu sein, obwohl sogar die bei der Geburt anwesenden Ärzte dies unter Eid bestätigten. Als die Mutter Jahre später (nach der Scheidung vom genetischen Vater) wegen Sozialversicherungs-Betrug mit den auch im neuen DNA-Test nicht mit ihr verwandten und also scheinbar geliehenen Kindern angeklagt wurde, grub der Verteidiger der Frau die bereits veröffentlichte, ursprünglich als reine Kuriosität der Vaterschaftsbegutachtung berichtete Chimärismus-Studie des Kollegen zu genau diesem Fall aus und konnte seine Klientin so vor der scheinbar durch DNA einwandfrei objektivierten Betrugs-Anschuldigung bewahren.

Der in den USA sehr bekannte forensische Anthropologe Bill Rodriguez beschrieb einen Fall, in dem ein Pizzabäcker eine Leiche zerstückelte und in den bekannten, runden Pizza-Blechen im Pizza-Ofen einäschern wollte. Durch das austretende Fett und die lange Branddauer erhöhte sich die Temperatur im Ofen aber so stark, dass es zu sehr starker Rauchentwicklung kam und ein dadurch ausgelöster, unvorhergesehener Feuerwehreinsatz den Fall ins Rollen brachte. Auffällig wurde in diesem Jahr auch, dass ein bedeutender, vielleicht sogar überwiegender Anteil der Täter in Fällen häuslicher Tötungen (Intimate Partner Violence) starke Übereinstimmungen mit Borderline-Persönlichkeits-Störungen aufwiesen. Sowohl die von forensischen Krankenschwestern, Soziologinnen als auch Kriminalisten berichteten Fälle und deren anhand von Liebesbriefen in Phasen aufteilbaren Zuspitzungen zeichneten dieses Bild deutlich. Solche Betrachtungen rangen den polizeilichen Kollegen allerdings nur ein Lächeln ab: Nach offizieller und bei einem Breakfast-Meeting vorgetragener Definition des FBI begehen beispielsweise Serientäter ihre Taten vor allem darum, weil sie sich dafür entscheiden - eine ins Bizarre spielende Auslegung des U.S.-amerikanischen Prinzips, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei.

Die starken Kulturunterschiede zwischen forensischen versus klinischen Psychologen, zwischen polizeilicher und pflegerischer Betrachtung eines Täters oder zwischen juristischer versus spurenkundlich-rechtsmedizinischer (in den USA: “Path/Bio”) Betrachtung eines Geschehens- Ablaufes waren erneut die größte Stärke der Tagung. Durch die Nähe der Räume im modernen Kongresszentrum sowie eine gute Zeit-Disziplin in den Sessions und die wie immer riesige Industrie-Ausstellung gelang es der AAFS daher, einen aktuellen und wirklich fast alle Facetten der Forensik abdeckenden Überblick über unser Feld zu gestalten.


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