2010-02-07 Die Presse am Sonntag: Ich tüftle gern wie Sherlock Holmes
Quelle: Die Presse am Sonntag, Österreich, 7. Februar 2010, Seite 10
Ich tüftle gern wie Sherlock Holmes
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VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH
Zum Interview im Landtmann bringt er Schaben mit, und auch sonst ist er eher unkonventionell:
Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe, Mark Benecke, über Ekel, österreichische Ermittlungen und "postmortales Rumgklugscheißern.
Sie haben gerade Schmarrn zum Frühstück bestellt. Sind Sie Vegetarier?
Mark Benecke: Ja, wegen so eines Falles, den ich mal hatte. Das war ein Blutspurenfall bei einem polnischen Mädchen, einer Prostituierten. Es war überall Blut, es war eklig, nein, erschütternd. Es brannten noch die kleinen Kerzen, die sie angemacht hatte für den Kunden. Aber ich hatte schon vorher wenig Fleisch gegessen.
Das heißt, es gibt doch noch Dinge, die Sie erschüttern?
Total. Bei dem Fall, an dem wir gerade dran sind, hat sich der Sohn den Kopf aus Versehen weggeschossen. Es ist traurig, mit dem Vater zu reden.
Was ist da passiert?
Der Vater ist der Meinung, dass die Polizei nicht ausreichend geklärt hat, dass es ein Jagdunfall war - dass sie nicht ausreichend untersucht hat, wie der Abzug betätigt wurde. Das Gewehr stand hochkant, und es ist an der Grenze zum Unmöglichen, den Abzug zu tätigen. Jetzt ist aber eine Besonderheit bei Jagdgewehren, dass der Abzug sehr sehr leicht geht. Da mussten wir dazulernen, dass es vielleicht schon reicht, wenn man mit Textilien ankommt. Dann hat er noch viele andere Fragen. Einer der Zeugen will den Schuss nicht gehört haben. In dem Moment ist aber auch ein landwirtschaftliches Gerät vorbeigefahren. Das heißt, da machen wir Experimente, wie laut ein Schuss im Vergleich zu dem Gerät ist. Ganz im Hintergrund steht die Frage, ob nicht doch jemand anders den Auslöser betätigt hat.
Das hat aber wenig mit den Insekten zu tun, auf die Sie spezialisiert sind?
Diese Fälle sind weit weg von dem, was wir ursprünglich machen. So etwas kommt immer mehr, weil wir die einzigen sind, die das als Freiberufler machen. Sonst ist ja niemand zuständig, die Polizei nicht - und auch die Richter nicht. Dieses Sherlock-Holmes-mäßige Tüfteln macht mir Spaß. Ich habe auch eine andere Sichtweise auf die Fälle, weil ich mehr auf die Spuren achte. Die sozialen Zusammenhänge raffe ich nicht: A hat gesagt, dass B gesagt hat, dass C einmal das gemacht hat. Das ist mir zu kompliziert, ich verstehe auch keinen Kinofilm, in dem mehr als drei Personen vorkommen.
Warum machen Sie immer mehr Tatortermittlungen?
Das Problem ist: In Deutschland gibt es keine Möglichkeit für die Leute nachzufragen. Ihr in Österreich habt hier wenigstens noch Berufsdetektive, mit Ausbildung und Zertifikat. Aber bei uns ist jeder, der will, Berufsdetektiv. Deshalb mache ich in komplizierten Fällen auch Beratungen. Neulich wollte ich bei einem Fall noch ein paar Details nachfragen - und dann saß der Vater von dem getöteten Kind da mit einer komischen Lippe. Und hat gesagt: "Ja, ich hab keine Zähne mehr, die sind mir nach dem Tötungsdelikt alle ausgefallen." Das war psychosomatisch.
Das geht?
Klar, so wie Leute auch kreisrunden Haarausfall haben können, oder Gelenkschmerzen. Alles stressbedingt. Aber darum geht es ja gar nicht, weil den Leuten ja etwas tausendmal Schlimmeres passiert ist. Das relativiert sich so, dass etwas, was in unserer Welt schon das Krasseste wäre, was einem so im Alltag passieren kann, überhaupt keine Rolle mehr spielt.
Wie kommen Sie an die Fälle?
Ein typischer Fall, wie wir ihn in letzter Zeit oft haben, ist, dass wir Akten kriegen, und dann sagt entweder der Angehörige oder der Staatsanwalt oder der Polizist oder Journalist: Guck mal, hier stimmt etwas nicht. Was, wissen wir nicht. Und dann gehen wir die Akten komplett durch. Da kamen zum Beispiel Leute mit Fußbodenbrettern an und sagten, die Ermittlungen in Österreich seien schlampig gelaufen.
Was war da los?
Ein Junge aus Deutschland ist im Winter nach Österreich gegangen, um als Saisonarbeiter bei einem Skilift zu arbeiten, und hat mit seinem Kumpel bei der Anlage gewohnt. Eines Tages war er weg. Sein Mitbewohner hat erklärt, er sei mit einer Frau verabredet gewesen, wahrscheinlich wäre er durchgebrannt. Dann ist ein halbes Jahr später, als der Schnee geschmolzen ist, in einem Bachbett unter einer Brücke die Leiche gefunden worden. Dann hieß es, er sei besoffen aus seiner Bude raus und von der Brücke gefallen - noch dazu barfuß und mit seiner Matratze. Die Eltern waren einfach nicht damit zufrieden und sind auf eigene Faust dort hin. Haben in dem Raum, in dem der Sohn mit seinem Kollegen gewohnt hat, auf dem Boden Spuren gefunden und wollten wissen, ob es Blutspuren sind. Und haben dann eigenhändig die Dielen - der Lift sollte ohnehin abgerissen werden - mitgenommen.
Wie ging das aus?
Der Fall ist noch einmal neu aufgerollt worden. Am Ende hat die Mutter des Mitbewohners gestanden, dass sie dabei war, als ihr Sohn den Jungen umgebracht hat. Dabei geht es nicht darum, dass wir die Antischlamp-Unit sind. Wir wissen, dass postmortales Rumklugscheißern witzlos ist. Wir versuchen, eine Spur zu finden und keinen Kommentar zum juristischen, kriminalistischen, kulturellen oder seelischen Kontext zu geben. Das funktioniert verrückterweise fast immer.
Gibt es Dinge, vor denen Sie sich ekeln?
Spinnen finde ich eklig. Mit unseren Untersuchungsobjekten hab ich aber kein Problem. Das sind für uns nur Spurenträger, für Insekten, Blut, Sperma und so weiter. Wir schauen uns auch nicht das Schicksal der Opfer an. Wir fragen nicht, war er gut, war er böse, hat er es sich selbst eingebrockt, gibt es Gott, ist das gerecht, ist das Schicksal?
Wie beurteilen Sie das Niveau der Spurenkundler in Österreich?
In Österreich habt ihr das Problem, dass ihr nur recht wenige Kriminaltechniker für kleine Bundesländer habt. Darum sind sie sehr fantasiereich, im guten Sinne. Zum Beispiel habe ich einmal mit einem Team zusammengearbeitet, das war nur zu dritt, hat sich aber einen Bus a la Inspektor Gadget zurechtgebaut. Das Niveau der Kriminaltechnik an sich ist im deutschsprachigen Raum absolut top, auch was Entwicklungen angeht. Aber weil die Amerikaner immer PR für sich machen, denken alle, die Amerikaner wären vorne.
Was man in "CSI" sieht, gibt es bei uns auch?
Oder gar nicht. Aber ich habe keinen Fernseher.
Was könnte die Polizei von Ihnen lernen?
Ich würde nicht sagen, dass sie etwas lernen muss. Was notwendig ist, ist, dass man miteinander redet. Wichtig wäre, dass man sich schon vor dem Fall kennt. Denn die Minuten, in denen überlegt wird, ob man uns anrufen soll, können entscheidend sein. Wenn eine Wasserleiche zum Beispiel aus dem Wasser gehoben wird, dann sind alle Tiere komplett verändert. Dabei hätten sie verraten, wie lange die Leiche an der Stelle lag. Wenn man die Spuren nicht sofort sichert, sind sie für immer verloren. Und eine Spur, die nicht gesichert ist, vermisst hinterher auch keiner.
Verfolgen Sie, wie die Fälle ausgehen?
Nur, wenn ich in der Zeitung darüberstolpere. Meine Meinung ist: Mich geht es nichts an. Man muss sich das Sammelsurium an Freaks vorstellen, mit denen wir zu tun haben. Zum Beispiel ist in einem schwulen S&M-Club mal einer aus Versehen zu Tode gekommen. Es macht aber Spaß, diese verschiedenen Lebenswelten zu berühren, weil man alle Vorurteile verliert, wenn man überhaupt noch welche hatte. Du merkst, im Grunde - ausgelutschtestes Statement aller Zeiten - sind die Menschen wirklich überall gleich. Ich arbeite ja in vielen Ländern, auf den Philippinen, in China, sehr oft in Kolumbien. Die kleinen Unterschiede relativieren sich so stark - wie die ausgefallenen Zähne im Fall der ermordeten Tochter, die am Dachstuhl des eigenen Hauses festgenagelt war.
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