Interview Pressesprecher 2012: Die explodierte Puzzleteilefabrik
Quelle: pressesprecher - Magazin für Kommunikation 04/2012, Ausgabe Juli/August, Seiten 28-32
„Spurenkunde: Eine Puzzleteilefabrik, in der eine Bombe explodiert ist“
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Interview: Sebastian Gülde
Spurensuche. Um die Identität von Opfern, Tätern oder möglichen Zeugen festzustellen, benötigt man nicht nur Antworten, sondern vor allem Fragen.
pressesprecher: Herr Benecke, was bedeutet Identität eigentlich für einen Kriminalbiologen?
MB: Das ist witzig. Ich komme gerade von der Polizei in Sachsen. Dort haben wir genau über diese Frage diskutiert. In der Kriminalistik bedeutet das normalerweise, dass ich eine Leiche vor mir habe und wissen will: ‚Wer ist das?‘ Man findet beispielsweise eine Leiche in einer Wohnung, deren Gesicht nicht mehr erkennbar ist. Oder in einem Straßengraben liegen Körperteile, und man versucht festzustellen, wer dort eigentlich liegt. Das ist die forensisch-kriminalistische Fragestellung. Bei mir als Kriminalbiologen geht die Frage weiter. Für mich lautet sie: ‚Finde ich Spuren, die mir irgendetwas darüber sagen, wer überhaupt am Tatort war?‘ Es geht also weniger darum, wer die tote, verwesende oder zerstückelte Person ist, sondern ob ich möglicherweise auch Spuren vom Täter finde. Ich muss mich zugleich fragen: ‚Ist etwas vom Tatort entfernt worden? Ist die Identität von jemandem verschleiert worden?‘.
pressesprecher: Was sind dafür die entscheidenden Merkmale?
MB: Das ist in jedem Fall anders. Wenn man herausbekommen will, wer eine biologische Spur gelegt hat, untersucht man beispielsweise die Erbsubstanz und nimmt einen genetischen Fingerabdruck. Dazu muss man aber überhaupt erst einmal in dem Meer aus Spuren erkennen, welche Spur interessant ist. Es nutzt ja wenig, DNA beispielsweise aus einem Schädel zu holen, wenn es keine Vergleichs-DNA gibt. Hat man keine Vergleichsprobe, muss vielleicht eine Gesichtsrekonstruktion der Leiche vorgenommen werden. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, zu untersuchen, wie lange die Leiche schon am Fundort liegt, um darüber nähere Erkenntnisse zu gewinnen. Maden sind kleine Stoppuhren. An deren Art und Anzahl lässt sich bestimmen, wie lange eine Leiche bereits am Fundort liegt. Sie können dann Hinweise zu möglichen Zeugen geben: Also wer ist zu dem Zeitpunkt, als die Leiche zum ersten Mal den Insekten zugänglich wurde, im Wald vorbeigelaufen? Wer hat nachmittags Fritten gegessen? Wer ist dort mit dem Motorrad vorbeigefahren? Danach kann die Polizei dann zeitlich eingegrenzt suchen.
pressesprecher: Das sind alles technische Verfahren. Macht man sich als Kriminalbiologe auch Gedanken über den Charakter einer Person?
MB: Ja, aber nicht aus Spaß an der Seelenkunde. Jeder Täter legt Spuren anders. Serientäter etwa, die eine gleichbleibende Tötungsphantasie haben, werden auch die Spuren immer in einer ähnlichen Weise legen. Dann fragt man sich: ‚Warum hat er sie in diesem einen Fall anders gelegt? Hat er weniger gesoffen? Stand er unter Druck? Wurde er möglicherweise beobachtet?‘ Ich rede daher gerne hinterher mit Tätern und lasse mir von ihnen erklären, unter welchen Bedingungen sie ihr Verbrechen begehen. Auch die Frage, wie viel Spielraum die Täter sozial und räumlich am Tatort hatten, ob sie sich neuen Bedingungen anpassen mussten oder ob sie sich gar nicht anpassen können, muss beantwortet werden, um die Spurenverteilung gut zu verstehen.
pressesprecher: Gibt es denn wiederkehrende Muster?
MB: Bei spontanen Taten, einer Kneipenschlägerei zum Beispiel, gibt es keine Zielphantasie und auch keine Wiederholung. Täter aber, die eine immer gleich bleibende Tötungsphantasie haben, bemühen sich um einen immer gleichen Tatablauf. Allerdings muss man ein sehr genaues Auge dafür entwickeln, was sich tatsächlich geändert hat und was wirklich gleich geblieben ist. Daher ist es für mich wie gesagt sehr hilfreich, auch mit den Tätern darüber zu reden.
pressesprecher: Zunächst wird ja aber über andere Verfahren versucht, die Identität von Tätern oder Opfern festzustellen. Welchen Wert haben beispielsweise Täterbeschreibungen und Phantombilder?
MB: Einen großen Wert für die Polizisten, aber wenig für mich als Spurenkundler. Probleme mit Phantombildern gibt es beispielsweise, wenn der Täter dem Zeugen eine Waffe vorgehalten hat. Dann konzentriert sich der Zeuge eher auf die Waffe und weniger auf die Person. Aus Banküberfällen ist bekannt, dass Kassierer – einfach weil sie es gewohnt sind, Menschen einzuschätzen, die an der Kasse stehen – Täter besser beschreiben, als es die Bankkunden können. Ein weiteres interessantes Phänomen ist, dass die Größe der Täter von Zeugen fast immer unterschätzt wird. Man würde denken, dass Menschen, die sich bedroht fühlen, die Größe des Täters überschätzen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Kollegen wissen das natürlich und berücksichtigen es. Sie haben gelernt, wie man Zeugen befragen muss und üben keinen Druck aus, sondern lassen diese einfach erzählen. Dadurch entstehen sehr gute Phantombilder, die auch vor Gericht manchmal eine Rolle spielen. Ich selber benötige sie für meine Arbeit allerdings nicht, so wie der Phantombildzeichner auch meine Maden und Blutspuren nicht benötigt. Wir basteln an verschiedenen Facetten desselben Falls, und das ist auch gut so, weil wir uns so nicht beeinflussen und wirklich voneinander unabhängige Beweise entstehen.
pressesprecher: Wie gehen Sie stattdessen an den Fall heran?
MB: Ich gebe mich wie ein kleines Kind und sage: ‚Ich weiß nichts, ich will nichts, ich kann nichts.‘ Ich gucke mir lediglich die Spuren vor Ort an, die man anfassen vergrößern und fotografieren kann. Was die Zeugen sagen, ist für mich keine richtige Spur, weil ich weiß, dass Zeugen nicht objektiv die Wahrheit sagen können. Das kann niemand, da man immer seine eigenen Grundannahmen und Vorstellungen mit reinbringt. Daher konzentriere ich mich auf die objektiven Spuren, also Blut, Haare, Kot, Sperma, Urin und so weiter.
pressesprecher: Wie sicher sind denn aber diese Spuren? Auch über die Treffergenauigkeit genetischer Spuren wird doch diskutiert.
MB: Nein, abgesehen von Einzelfragen ist das Thema durch. Die Sachverständigen wissen, an welchen Stellen der Spurenbewertung sie sich nicht überschätzen dürfen. In der Praxis spielen die Diskussionen aus den 1980er Jahren keine Rolle mehr. Bei der genetischen Untersuchung gibt es aber ein ganz anderes Problem. Ein Beispiel: Wir haben den genetischen Fingerabdruck eines Leichenteils. Doch das nützt uns nicht, denn nun haben wir das bereits genannte Problem des Vergleichs. Ein DNA-Muster alleine gibt mir keinen Aufschluss über die Person, wenn ich kein Vergleichs-Muster dazu habe. Also benötige ich zunächst einmal einen Hinweis, nach wem ich überhaupt suchen soll. Die Datenbank des Bundeskriminalamts hat ja nur eine begrenzte Anzahl an Personen gespeichert. Wie soll ich meine Leichen-DNA zuordnen, wenn das Gegenstück nirgendwo gespeichert ist? Oder ein noch schwerwiegenderes Problem. Sie rauchen eine Zigarette, werfen die Kippe irgendwohin. 20 Minuten später wird genau an dieser Stelle jemand umgebracht. Die einzige Spur, die gefunden wird, ist die Zigarettenkippe. Hoppla! Dann haben Sie erstmal ein Problem und werden vielleicht etwas ernster befragt... Also nur, weil der genetische Fingerabdruck sicher ist, heißt es noch lange nicht, dass derjenige der Täter ist, der am Tatort vor oder sogar während der Tat geraucht hat.
pressesprecher: Das heißt, die ausgewerteten Spuren sind sicher, werden nur falsch interpretiert?
MB: Genau, manchmal werden sie das, denn natürlich gibt es auch in der Spurenauswertung Stümper und Besserwisser wie in jedem Betrieb. Das ist aber nicht das größte Problem. Bei Fehlern in der Spurenauswertung kann nämlich die Verteidigung oder Staatsanwaltschaft im Verfahren ordentlich dagegenschießen, so dass Schlampereien oft auffliegen. Es hat ja auch niemand ein Interesse daran, vorsätzlich zu täuschen, da wir Sachverständige ja für beide Parteien mitdenken sollen. Anders sieht es in den USA aus, da es dort getrennt angeheuerte Experten für die Anklage und für die Verteidigung gibt. In Deutschland muss man eher aufpassen, dass man die Spuren nicht falsch in den vermuteten Ablauf einordnet. Das erfordert eine große Selbstdistanz. Ich darf also nicht davon ausgehen, dass meine Spur die Geschichte erzählt. Ich kann wirklich nur sagen: ‚Das ist meine Spur, nicht mehr und nicht weniger.‘
pressesprecher: Aber irgendwann muss man die Puzzleteile doch zusammensetzen.
MB: Einige Sachverständige mögen das vielleicht so sehen. Ich denke aber, dass man das auf keinen Fall versuchen sollte. Ein Sachverständiger sollte die Puzzleteile keinesfalls selbst zusammensetzen, denn das würde erfordern, dass man alle anderen Puzzleteile versteht. Das überlassen wir lieber dem Richter, dann hat er nämlich die Verantwortung und hoffentlich auch den Überblick. Es gibt Einzelfälle, in denen ich auch einmal die Gesamtbearbeitung übernehme. Das sind aber immer sehr aufwendige und verzwickte Fälle, in denen vorher viel schief gegangen ist. Im Alltag versuche ich gerade nicht, ein Gesamtbild herzustellen. Dabei würde ich nämlich vielleicht falsche Grundannahmen einführen, die uns in die Irre führen könnten.
pressesprecher: Die falsche Fährte?
MB: Fast. Ein Beispiel, sozusagen ein Klassiker: In einem kleinen Ort, 5.000 Einwohner, geschieht ein Sexualdelikt, und zwar an einer Stelle, die eigentlich nur die Einwohner kennen, ein kleiner Waldweg etwa. Der Täter scheint also jemand zu sein, der Ortskenntnisse hat. Man stellt Untersuchungen an und kommt schließlich auf jemanden, der am Tat-Abend vor Ort war. Zuvor hat er auch noch 20 Bier in der Kneipe getrunken. Das spätere Opfer war ebenfalls in der Kneipe. Der Mann hat eine dicke Kriminalakte und schon zehn andere Delikte begangen. Dann sagt man sich natürlich: ‚Was sollen wir noch lange herumsuchen? Er wird das schon gewesen sein.‘ Findet man dann noch die Zigarettenkippe, von der ich schon gesprochen habe, denkt man sich: ‚Was will ich mehr?‘ Das Opfer kann vielleicht keine Angaben machen. In Wahrheit steht man aber vor einem großen Problem. Wer sagt mir denn, dass der Verdächtige wirklich der Täter ist? Nur weil er gesoffen hat? Nur weil er schon andere Delikte begangen hat? Nur weil er Ortskenntnisse hat? Nur weil seine Zigarettenkippe am Fundort der Leiche liegt? Vielleicht hat er ja vor drei Tagen dort geraucht. Vielleicht hat er sich ja tatsächlich besoffen, war dann aber überhaupt nicht mehr in der Lage, die Tat zu begehen. Man muss also wirklich vorsichtig sein. Bleiben wir beim Bild der Puzzleteile. Wenn man in einen Spielzeugladen geht, kauft man sich ein Puzzle und zudem eine Vorlage. Mit Geduld kommt man da immer zu einer eindeutigen Lösung. Was wir aber draußen vorfinden, muss man sich eher wie eine Puzzleteilefabrik vorstellen, in der eine Bombe explodiert ist. Jetzt liegen Puzzleteile von 100.000 unterschiedlichen Spielen durcheinander herum. Das ist unser Problem.
pressesprecher: Wie häufig sind solche Fälle, in denen aufgrund von DNA-Funden ein falscher Täter ermittelt wird?
MB: Es passiert zwar nicht in der Gesamtzahl oft, aber immer noch zu oft. Ich habe früher in New York gearbeitet. Zu der Zeit begann man damit, alte Spuren von Menschen, die in Todeszellen saßen, nachzuuntersuchen. Inzwischen konnte man die DNA-Spuren, die man bei der Verurteilung noch nicht auswerten konnte, analysieren. Das Innocence Project hat bislang 135 Fehlurteile mit echter lebenslanger Freiheitsstrafe oder Todesstrafe aufgelistet, die daraufhin wieder rückgängig gemacht werden mussten. Das sind alles Menschen, die tatsächlich nie wieder aus dem Gefängnis gekommen oder sogar hingerichtet worden wären. 135 Menschen in 15 Jahren...das ist ein bisschen viel, auch wenn es prozentual vielleicht nur 0,0001 Prozent ausmacht. Diese nachweislich falschen Verurteilungen beruhten auf einer falschen Zusammenpuzzelung, nicht auf Dummheit.
pressesprecher: Eine hohe Fehlerquote gibt es auch bei polizeilichen Gegenüberstellungen. Zeugen identifizieren fälschlicherweise einen Täter, da sie annehmen, er müsse sich unter den ausgewählten Personen befinden. Bekommen Sie diese Fälle auch mit?
MB: Das kann für uns dann ein Problem werden, wenn wir die Fälle sehr spät bekommen, ich also einen Auftrag bekomme, bei dem es heißt: ‚Hören Sie, wir wissen, dass er der Täter ist.‘ Allerdings war der Zeuge bei der Gegenüberstellung angeblich viel zu aufgeregt oder – was häufiger vorkommt – der Täter hat sich einen Bart wachsen lassen. Wenn es dann heißt: ‚Helfen Sie uns doch mal, den Sack zuzumachen‘, stelle ich die Frage: ‚Warum sind Sie sich denn überhaupt so sicher, dass es tatsächlich eine falsche Zeugenaussage ist?‘ In diesem Fall schleppt man erst einmal einen riesigen Rucksack voll Annahmen-Müll in die Untersuchung. Dann halte ich den großen Vortrag und sage: ‚Lasst uns doch mal alles vergessen, was wir bislang über den Fall gehört haben und ihn nicht anhand der subjektiven, sondern der objektiven Spuren von vorn beginnen.‘ Das Problem dabei ist, dass viele Spuren bis dahin längst verloren gegangen sind. Denn wenn man ohnehin weiß, wer der Täter war, macht man sich nicht mehr die Arbeit, alle Spuren zu überprüfen. Das ist wirklich zum heulen und ärgert mich jeden einzelnen Tag.
pressesprecher: Warum passieren diese Fehler bei der Gegenüberstellung so häufig?
MB: Sie passieren nicht häufig. Begriffe wie ‚häufig‘‚ regelmäßig‘ oder ‚oft‘ sollte man hier vergessen. Die Fehler passieren einfach. Wie oft wissen wir nicht, weil die Kriminalstatistiken krumm und schief sind. Es passiert einfach, und das erwiesenermaßen seit Jahrhunderten. Der Grund, warum es passiert, ist zum einen der bereits erwähnte psychologische Druck. Zeugen haben das Gefühl, jemanden identifizieren zu müssen. Zum anderen ist unser Gehirn auch aus neurobiologischer Sicht nicht objektiv. Die Welt, wie wir sie auf Nerven-Ebene wahrnehmen, ist nichts anderes als elektrischer Strom. Und da kommt es gelegentlich zu Unfällen, Umleitungen und Kurzschlüssen. In einem Kriminalfall hat man ja grundsätzlich das Problem, dass die Leute aufgeregt und traumatisiert sind.
pressesprecher: Auch unbeteiligte Zeugen identifizieren mitunter den Falschen.
MB: Gelegentlich wollen Zeugen helfen. Das ist das Allerschlimmste: Zeugen, die helfen wollen und ihre Aussagen anpassen. Es gibt ein aktuelles Beispiel, ein Kollege hat das gerade erst in der Zeitschrift „Kriminalistik“ berichtet. Im Experiment wurden Täterbeschreibungen inszeniert. Man hat also eine Person die Straße entlang laufen lassen und dann eine andere Person gebeten, denjenigen zu beschreiben, der gerade vorbei gelaufen ist. Der Hälfte der Zeugen hat man zunächst eine andere Beschäftigung gegeben. Sie sollten sich in den Warteraum setzen, eine Zeitung lesen oder sowas. Die andere Hälfte hat man ihre Erlebnisse sofort aufschreiben lassen. Man würde nun annehmen, dass diejenigen, die das Gesehene sofort aufgeschrieben haben, nach einer Stunde eine bessere Personenbeschreibung liefern könnten. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Diejenigen, die das Ganze schriftlich niedergelegt haben und danach eine Personenbeschreibung gemacht haben, waren wesentlich schlechter als die Vergleichsgruppe.
pressesprecher: Und warum?
MB: Wenn Sie eine Erfahrung zu Papier bringen, lernt das Gehirn die Geschichte, die Sie sich selbst erzählen. Tut man das nicht, ist das Gehirn unbefangen und kann beispielsweise die visuellen Eindrücke besser abrufen, wenn der Polizist mit den Phantombildern kommt und Fragen stellt.
pressesprecher: Eine weitere Methode zur Täteridentifizierung ist das sogenannte Profiling. In Krimis sieht das sehr eindrucksvoll aus. Der Experte liefert nicht nur ein fertiges Psychogramm, sondern weiß auch alles über das Familienleben des Täters, seine Krankheiten oder gar entstellende Narben.
MB: Nun, ich hatte noch nie einen Fernseher und lese keine Romane, aber ich kann sagen, was Profiler tatsächlich können. Es gibt zwei Arten des Profilings. Das psychologische, welches nichts mit polizeilicher Untersuchung zu tun hat, und das polizeiliche Profiling. Das heißt, dass ein Polizist mit seinem Team noch einmal alle Spuren nach verfolgt. Er geht zurück an den Tatort, spricht mit Zeugen und den Polizisten, die den Fall bearbeitet ha- ben. Kurz: So wie ich einen Fall aus Spurensicht aufrolle, rollt er ihn noch mal aus Ermittlungssicht auf. Das ist operative Fallanalyse. Von dieser Methode hört man recht wenig. Ein Ergebnis der operativen Fallanalyse könnte beispielsweise sein: ‚Liebe Kollegen, nach der umfangreichen Auswertung aller Spuren, Fotos, Zeugenaussagen und Gesprächen mit Psychologen gehen wir davon aus, dass dieses Delikt nicht geplant war, auch wenn alles scheinbar dafür spricht, dass es geplant war. Ihr braucht also eher nicht in diese Richtung zu ermitteln.‘
pressesprecher: Das klingt im Vergleich zum Krimi noch nicht nach dem großen Wurf.
MB: Das hört sich zunächst banal an, kann aber sehr wichtig sein. Mit der psychologischen Methode kann man hingegen feststellen, ob ein Täter beispielsweise eine festgelegte sexuelle Phantasie besitzt. Auch das ist nicht selbstverständlich. Dann schaut man ermittlerseits in entsprechenden Foren. Man kann sagen, ob der Gesuchte eine Impulskontrollstörung hat oder nicht. Man kann sagen, ob der Täter mit Sicherheit ein Psychopath ist oder nicht. Diese Erkenntnisse werden dann mit der Spurenkunde kombiniert. Wenn man an allen Tatorten Schnapsflaschendeckel findet – ein Fall, den ich schon mal hatte –, könnte man davon ausgehen, dass der Täter den Schnaps getrunken hat. Oder er wollte die Polizei irreführen. Wenn man also polizeiliches Profiling, psychologisches Profiling und Spurenauswertung zusammennimmt, ergibt sich ein sehr klares Bild des Täters beziehungsweise des Tatablaufs. Das gibt dann durchaus ein Verblüffungsmoment, wenn ein meist unscheinbarer, netter Herr damit konfrontiert wird, was die Polizei bereits über ihn weiß. Allerdings wird oft nur eine der drei Auswertungsmethoden vorgenommen. Also nur das polizeiliche Profiling, das psychologische Profiling oder die Spurenauswertung. Nur in den härtesten Fällen greift man auf alle drei Methoden zugleich zurück.
pressesprecher: Zum Beispiel ...
MB: Zum Beispiel bei den beiden Männern, die 2002 in Washington aus dem Kofferraum eines Autos wahllos Leute erschossen haben. Das interessanteste Ergebnis kam meiner Ansicht nach aus dem spurenkundlichen Profiling. Damals dachte man, dass Serientäter immer bei ihrer Ethnie bleiben. Schwarze töten also primär Schwarze und Weiße töten Weiße. Der DNA-Sachverständige hatte aber aus einem schwachen genetischen Fingerabdruck feststellen können, dass es sich um dunkelhäutige Menschen handelte, die gegen die bisherige kriminalistische Erfahrung Weiße erschossen hatten. Die Ermittler waren sehr skeptisch, es hat sich dann aber bewahrheitet. Das war ein entscheidender Spuren-Hinweis, den man in das polizeiliche und psychologische Profiling hat einfließen lassen.
pressesprecher: Warum verzichtet man aber in anderen Fällen auf die spurenkundliche oder psychologische Untersuchung?
MB: Weil man eben angeblich eh schon weiß, was passiert ist. Stellen Sie sich vor, die Liebesbeziehung einer Freundin geht in die Brüche. Man sitzt gemeinsam in der Kneipe und alle sagen zu ihr: ‚Hör mal, das musst du doch bemerkt haben, dass das ein Idiot war. Das haben wir dir doch seit Jahren schon gesagt.‘ Darauf sagt sie: ‚Ja, aber ich war überzeugt davon, dass ich ihn liebe.‘ Die objektiven Spuren also – ‚er hat immer euren Kennenlerntag vergessen, nicht etwa weil er überarbeitet ist, sondern weil er ein Idiot ist, dem es einfach egal war‘ –, werden eher ignoriert. Und auch in der Juristerei wird man immer versuchen, der subjektiven Spur den Vorrang zu geben. Dort heißt es dann: ‚Wir haben den Täter, wir haben das Motiv, die Person hat es vielleicht sogar zugegeben.‘ Wir haben vielleicht sogar eine kleine biologische Spur, die dazu passt. Die Wohnung war außerdem geschlossen und nur eine weitere Person war im ganzen Haus. Warum sollte man also die Bude komplett auseinandernehmen und nach Spuren suchen? Es gibt ja offenkundig nur einen möglichen Täter, basta. Es ist gut, wenn dann irgendwer sagt: ‚Stimmt, das ist alles sehr offensichtlich, aber es gibt trotzdem Spuren, die passen einfach nicht dazu.‘
pressesprecher: Deprimiert es Sie nicht, zu wissen, dass wichtige Spuren gar nicht erst untersucht werden?
MB: Nein. Es ist für mich nicht deprimierend, weil ich nicht an Gerechtigkeit glaube. Ich glaube nicht an das Gute oder daran, dass die Welt besser wird. Mich interessieren nur die Spuren und das Rätsel dahinter. Wenn ich an dem Rätsel arbeiten kann und weitere Spuren finde, freue ich mich. Ich sage nicht: ‚Guck dir die Trottel an, die die Spur nicht gefunden haben’, sondern: ‚Wie schön, eine Spur!‘ Ich bin ja letztlich nur ein kauziger Spezialist, der den ganzen Rest eh nicht versteht.
pressesprecher: Ein kurzer Themenwechsel. Unsere Titelgeschichte befasst sich mit dem Thema Corporate Identity. Eine der stärksten Unternehmensidentitäten, wenn man so will, hat die katholische Kirche. Und einen kleinen Anteil an dieser Identität haben auch die Wunder, denen Sie auf den Grund gehen. Sie haben beispielsweise analysiert, dass sich das Blutwunder von Neapel mit vor Ort leicht erhältlichen Chemikalien selbst herstellen lässt. Was treibt Sie dazu?
MB: Für mich ist es völlig egal, ob jemand gestorben ist oder ob es ein Wunder ist. Ich löse keine Kriminalfälle, ich liebe Spuren. Es klingt behämmert, aber nach 20 Jahren darf ich das wirklich sagen: Ich arbeite wie Sherlock Holmes. Nicht dass ich so schlau, cool oder klug bin. Das meine ich nicht. Aber ich wende exakt dieselben spurenkundlichen Prinzipien an, was ich aber erst vor ungefähr einem Jahr bemerkt habe. Mir ist einfach langweilig, wenn ich keine Spuren untersuchen kann. Genau wie Sherlock Holmes. Der ist ja sogar kokainabhängig, weil er sich ohne Fälle immer so langweilt. Das Einzige, was ich auf dieser Welt spannend finde, sind Spuren. Soziale Spuren, kulturelle Spuren, Tatortspuren oder gerne auch mal rätselhafte Spuren in einer Kirche.
Mark Benecke ist Kriminalbiologe und Experte für forensische Entomologie. Als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger untersucht er biologische Spuren bei vermuteten Gewaltverbrechen. Benecke promovierte im Fach Biologie in Köln und arbeitete unter anderem für das FBI in den USA. 2003 erhielt er die Silberne Ehrennadel des Bunds Deutscher Kriminalbeamter.
Mit herzlichem Dank an Sebastian Gülde für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Das Interview als pdf gibt es HIER