2016 03 Schweiz am Sonntag: Ploetzlich hilft Kommissar Zufall: Difference between revisions

From Mark Benecke Forensic Wiki
Jump to navigation Jump to search
(Created page with "150px|thumb Quelle: Schweiz am Sonntag (darin: Kriminalität), Nr. 11 vom 20 März 2016, Seite 9<br> =<font color=orange>«Plötzlich hil...")
 
No edit summary
Line 4: Line 4:
=<font color=orange>«Plötzlich hilft Kommissar Zufall»</font>=
=<font color=orange>«Plötzlich hilft Kommissar Zufall»</font>=
==<font color=orange>Mark Benecke hat schon Hitlers Kiefer untersucht. Jetzt spricht Deutschlands berühmtester Forensiker über den Fall Rupperswil</font>==
==<font color=orange>Mark Benecke hat schon Hitlers Kiefer untersucht. Jetzt spricht Deutschlands berühmtester Forensiker über den Fall Rupperswil</font>==
==<font color=orange>«Plötzlich hilft Kommissar Zufall»</font>==


[Weitere [[All Mark Benecke Publications|Artikel von MB]]] [Artikel [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=Media#Interviews_.26_Articles <font color=lightgrey>über MB</font>]]<br>
[Weitere [[All Mark Benecke Publications|Artikel von MB]]] [Artikel [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=Media#Interviews_.26_Articles <font color=lightgrey>über MB</font>]]<br>


'''VON SVEN KULZER'''<BR>
'''VON PASCAL RITTER '''<BR>


<html><a href="http://wiki2.benecke.com/images/e/e6/2016_06_Impuls_Lifestyle_Magazin_kein_Titel_erkennbar_Sven_Kulzer.pdf" target="_blank"><img src="http://wiki2.benecke.com/images/0/0a/2016_06_Impuls_Lifestyle_Magazin_kein_Titel_erkennbar_Sven_Kulzer_preview.jpg" border="0" height="150" align="middle"><figcaption>Klick für's PDF!</figcaption></a></html>  
<html><a href="http://wiki2.benecke.com/images/3/3f/2016_03_Schweiz_am_Sonntag_Ploetzlich_hilft_Kommissar_Zufall_Pascal_Ritter.pdf" target="_blank"><img src="http://wiki2.benecke.com/images/4/41/2016_03_Schweiz_am_Sonntag_Ploetzlich_hilft_Kommissar_Zufall_Pascal_Ritter_preview.jpg" border="0" height="150" align="middle"><figcaption>Klick für's PDF!</figcaption></a></html>  


'''Er ist der bekannteste Kriminalbiologe Deutschlands, forensischer Entomologe und Buchautor. Mit der Analyse von Maden, Würmern und Fliegenlarven unterstützt er die Polizei, national und international, bei der Klärung von Gewaltverbrechen. Darüber hinaus ist er Ausbilder bei der deutschen Polizei und Gastdozent an Universitäten in Kolumbien, auf den Philippinen, in Vietnam und in den Vereinigten Staaten. Er untersuchte die mutmaßlichen Schädelknochen und auch die echten Zähne von Adolf Hitler und war der Einzige, der den Fall des kolumbianischen Serienmörders und Vergewaltigers Luis Alfredo Garavito Cubillos, der zwischen 1992 und 1999 über 300 Jungen im Alter zwischen acht und 13 Jahren tötete, unter die Lupe nehmen durfte. Seine freie Zeit ist spärlich gesät, umso mehr freut es uns, dass sich Mark Benecke die Zeit nahm, um sich mit uns zu unterhalten.'''<br>
'''Mark Benecke (45) ist Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie. Diese Fachrichtung versucht aufgrund von sie befallenden Insekten Hinweise auf den Zeitpunkt des Ablegens einer Leiche zu ermitteln. Beneckes spektakulärster Fall ist die Untersuchung von Adolf Hitlers Kieferknochen, die in einem russischen Archiv lagern. Benecke ist zudem Politiker bei der Satire-Truppe «Die PARTEI».'''<br>




<font color=orange>'''Wie bist du eigentlich zu deinem Beruf gekommen? Warst du als Kind schon gerne auf Spurensuche?'''</font><br>
<font color=orange>'''Herr Benecke, warum fehlt von den Tätern in den Fällen Emmen und Rupperswil jede Spur, obwohl die Ermittler mit modernsten Methoden wie DNA- Tests arbeiten?'''</font><br>
'''MB''': Als Kind wollte ich Koch werden, aber Spurensuche … (überlegt) … ja, doch: Ich hab immer versucht, Schneeflocken mit Lack einzufangen. Fürs Mikroskop.<br>
'''MB''': Mark Benecke: Die Frage ist, ob es da wirklich keine Spur vom Täter gibt. Gerade in der Schweiz kommunizieren die Strafverfolger Fahndungsergebnisse nur zurückhaltend. Manchmal mauert die Staatsanwaltschaft auch aus politischen Gründen. Es gilt das Motto: Der gute Kriminalist arbeitet still und spricht nicht mit der Presse. Das ist gut für die Arbeit, aber blöd für euch Journalisten.<br>




<font color=orange>'''Wirklich?'''</font><br>
<font color=orange>'''Am Tatort wurden DNA-Spuren gefunden. Woran könnte es liegen, dass sie noch nicht zum Täter führten?'''</font><br>
'''MB''': Ja, dauernd hab‘ ich das gemacht. Und ich hab‘ Staub auf Tesafilm geklebt und ihn untersucht. Daher kann man wohl sagen, dass ich mich schon immer für spurenkundliche Dinge interessiert habe. In der Schule fand ich auch Chemie immer gut. Und dann hab‘ ich Bio studiert, weil ich Bio gut fand, hab‘ während des Studiums ein Praktikum in der Rechtsmedizin gemacht, und so kam das dann.<br>
'''MB''': Eine DNA-Spur allein nützt mir natürlich noch nichts, wenn sich nicht ein entsprechendes Vergleichsprofil in der Datenbank befindet. Dazu müssten die Täter vorher schon mal straffällig oder zumindest verdächtigt gewesen sein. Das Gleiche gilt auch für Faserspuren. Anders als im Krimi kann man mit Fasern von Kleidern der Täter nicht einfach zu allen Pulloverfabrikanten gehen und deren Kundschaft überprüfen.<br>




<font color=orange>'''Was fasziniert dich am Spurenlesen?'''</font><br>
<font color=orange>'''Wie verzweifelt sind Ermittler, wenn sie 100 000 Franken auf Hinweise aussetzen?'''</font><br>
'''MB''': Menschen strengen mich oft an. Ich gucke mir daher lieber Dinge an, weil sie so klar, schön und friedlich sind.<br>
'''MB''': Ich habe noch nie einen verzweifelten Kriminalpolizisten gesehen. Die machen eher auf cool. Die Höhe der Belohnung würde ich nicht überschätzen. Für die reiche Schweiz sind 100 000 Franken nicht sehr viel. Lösegeld wird eingesetzt, um das Umfeld der Täter anzuzapfen. Vielleicht wollen sie die Freundin des Täters weichkochen. Das Lösegeld soll Menschen, die den Täter kennen, ermuntern, sich zu sagen: Ach! Scheiss auf die Freundschaft! Ich nehme die 100 000 und setze mich damit auf eine Insel in der Südsee ab.<br>




<font color=orange>'''In deiner Zeit als Kriminalbiologe hast du schon unzählige Fälle gelöst. Wie geht man damit um, wenn man einen Fall nicht lösen kann, sei es aus Mangel an Beweisen oder Ähnlichem. Beschäftigt dich das dann auch privat, und „kramt“ man diese „ungelösten Fälle“ nach einiger Zeit wieder aus der Schublade, um  nochmals drüberzuschauen?'''</font><br>
<font color=orange>'''Sie haben schon in den USA ermittelt. Würden die Amerikaner im Fall Rupperswil anders vorgehen?'''</font><br>
'''MB''': Für mich gibt’s nur Fälle; so richtig gelöst ist ja nie etwas: Was ist schon die endgültige Wahrheit hinter einem Fall? Wenn es spurenkundliche Knackpunkte gibt, ziehe ich sie früher oder später wieder raus. Leider muss ich die Nachuntersuchung meist selbst zahlen, weil jemand, der beispielsweise zehn Jahre unschuldig im Knast war, natürlich kein Geld hat. Unsere KlientInnen sind nie reich; reiche Menschen landen nicht unschuldig im Knast.<br>
'''MB''': In Europa wird anders ermittelt als in den USA. Nur schon das Material. Ich habe eine Speziallampe, mit deren Licht Substanzen am Tatort sichtbar werden, etwa Sperma. Meine Lampe ist aus Metall und superteuer. Die Amerikaner pfropfen einen Filter auf ihre billige Plastiktaschenlampe. Geht das Ding kaputt, kaufen sie eine neue. Dass die Amis professioneller arbeiten, ist Blödsinn. Sie reden einfach mehr über ihre Arbeit. In den USA gehört ein bisschen Show einfach dazu.<br>




<font color=orange>'''Du bist mittlerweile bereits seit über 20 Jahren als Kriminalbiologe tätig. Würdest du sagen, dass sich die Art bzw. die Umsetzung der Gewaltverbrechen verändert hat? Wenn ja, denkst du, dass sich diese Veränderungen auf einen Wandel in der Gesellschaft zurückführen lassen?'''</font><br>
<font color=orange>'''In Rupperswil untersuchten Spezialisten acht Wochen nach der Tat noch mal den Tatort. Was bringt das?'''</font><br>
'''MB''': Es gab zu allen Zeiten gute Kriminalisten und Kriminalistinnen, einige davon haben es auch zu – etwas kauzigem – Ruhm gebracht wie der Kollege Ernst Gennat aus Berlin, andere sind zu Unrecht vergessen wie Armin Mätzler und viele andere. Auch der Untersuchungsrichter Sòng Cí hat schon im 13. Jahrhundert gute Beispiele für clevere Spuren-Ideen gehabt, die bis heute in neuen Auflagen nachzulesen sind in seinem Buch „ Xiyuan jílù“, das heißt ungefähr das „Hinwegwaschen des Ungerechten“.<br>
'''MB''': Es bringt immer etwas, den Tatort nochmals anzuschauen. Ich war schon sechs Jahre nach einer Tat an einem Tatort. Man findet immer etwas. Ob Blutspuren, DNA, Fasern oder auch nur Möbel, die irgendwie komisch angeordnet wurden. Ich habe noch nie nichts gefunden an einem Tatort.<br>




<font color=orange>'''Wichtig ist immer, dass die jeweilige Kultur erlaubt, Tatsachen als solche wirken zu lassen. Je besser die kriminalistischen Techniken werden, wie DNA, Fingerabdrücke, Funkzellenauswertung etc., umso mehr hochwertige Tatsachen liegen vor – das ist gut und wird immer besser. '''</font><br>
<font color=orange>'''Die Aargauer Kantonspolizei hat noch nie so viele Beamte einem einzigen Fall zugeteilt. Gilt bei Ermittlungen, dass vier Augen mehr sehen als zwei, oder ist es eher wie in der Küche: Zu viele Köche verderben den Brei?'''</font><br>
'''MB''': Die am Prozess Beteiligten müssen aber auch verstehen, was sie tun, welches Gewicht eine Spur hat und was das Ziel des Prozesses ist. Das war schon immer so,  schwankt aber politisch durch die Zeiten immer hin und her.<br>
'''MB''': Am besten sind viele gute Köche. Dann kann man sich aufteilen und verschiedenen Spuren gleichzeitig nachgehen. Der einsame Kommissar mit der Pfeife im Mund kann die vielen Spezialisten nicht ersetzen. Die Schweiz ist eines der Länder, in denen es viele wirklich gute Fachleute gibt. Der Wissensstand ist sehr hoch.<br>




<font color=orange>'''Sich tagtäglich mit Gewalt zu beschäftigen, ist bestimmt nicht einfach. Reicht es wirklich, die nötige professionelle Distanz zu wahren, oder hast du auch noch andere Wege und Möglichkeiten gefunden, die Eindrücke und Erfahrungen zu verarbeiten?'''</font><br>
<font color=orange>'''Das klingt, als hätten Sie schon anderes erlebt.'''</font><br>
'''MB''': Professionelle Distanz habe ich nicht, ich bin einfach so, dass ich mir auch für andere schrecklich wirkende Dinge anhören kann. Mein Gehirn filtert alles raus, was keine Spuren sind; das fällt einfach durch. Ich helfe Menschen vermutlich auch bei der Trauerarbeit, indem ich ihnen ehrlich sage, wo spurenkundlich Hoffnung besteht und wo nicht, weil keine Spuren mehr vorhanden sind. Meiner Erfahrung nach hilft besonders den Angehörigen auf ihrer Seite ein gutes soziales Netz, das ich ihnen nicht geben kann, und von meiner Seite aus ehrliches Zuhören und Probleme lösen. Kein Mensch, der gerade sein Kind verfault aus dem Löschteich gezogen hat – ein echter Fall –, braucht von mir Mitleid und Tränen. Solche Menschen brauchen einen Weg zur Wahrheit, egal, wie hässlich sie sein könnte. Meiner Frau geht das privat auf den Keks, weil sie, wenn sie ein Problem erzählt, hören möchte, dass es mir leid tut und ich sie verstehe und nicht eine mögliche Lösung des Problems. Das ist der Nachteil an meinem etwas sachlichen Charakterzug 😉<br>
'''MB''': Ich war mit meinem Team in Ciudad Juárez, der mexikanischen Stadt, in der viele Frauen ermordet wurden. Als wir ankamen, fragten uns die dortigen Ermittler: «Und? Wer ist es gewesen?» Wir fragten nach Spuren. Sie antworteten: «Welche Spuren? Lass uns ein Bier trinken gehen.» Das ist in der Schweiz ganz anders. Die Kollegen arbeiten gründlich und solid.<br>




<font color=orange>'''Du hast einmal gesagt „Wer die dunkle Seite in seine Persönlichkeit integriert, kann besser mit Abgründen umgehen.“ Wie genau ist diese Aussage gemeint?'''</font><br>
<font color=orange>'''Auch die Vergewaltigung von Emmen ist noch nicht aufgeklärt. Trotz Massen-DNA-Test. Was halten Sie davon?'''</font><br>
'''MB''': Jeder hat irgendwelche unsozialen Gedanken: „Es sollte an dieser Kasse jetzt mal etwas schneller gehen … kann die alte Lady nicht mal voranmachen?“, „Was wäre, wenn ich nie mehr arbeiten würde?“, oder auch viel härtere Sachen, wie ich sie von manchen Autofahrern bei ihrem unerträglichen Herumgefluche hinter dem Steuer höre. Wenn du dir überlegst, wo dieser Shit herkommt, kannst du dran arbeiten, dich friedlicher (gut für dich) und sozialer (gut für alle) zu verhalten. Das ist das eine. Das andere ist, dass beispielsweise viele Krimileser und -leserinnen zu sehr harten Inhalten greifen, mit Zerstückelungen und Folter. Für wen so etwas ja ganz offenbar einen Reiz ausübt, der könnte doch vielleicht, wenn es ihm oder ihr missfällt, mal dagegen arbeiten, oder, falls es ihm oder ihr gefällt, das Ganze in eine nützliche Richtung drehen und beispielsweise in einem Beruf arbeiten, wo diese Hinwendung anderen Menschen nützt. Wer auf Mega-Blaulicht-Action und Blutfontänen steht, könnte, statt auf der Couch darüber zu lesen, Notarzt oder Notärztin werden. So kommen dunklere und hellere Charaktereigenschaften zusammen und ergeben etwas Schönes und Nützliches.<br>
'''MB''': Für mich ist es keine soziale Frage, ob man einen Massen-DNA-Test anordnen soll, sondern eine technische. Man muss abwägen, ob sich der Aufwand lohnt. Die Ermittler müssen zudem aufpassen, dass sie nicht getäuscht werden. Es gibt Täter, die einem Komplizen den Pass in die Hand drücken und ihn zum DNA-Test schicken. Nicht zu unterschätzen ist auch die indirekte Wirkung solcher Tests. Manche Täter stellen sich, sobald sie aufgeboten werden. Vor ein paar Jahren hat sich einer in die Luft gesprengt, am Tag bevor er zum DNA-Test musste. Andere gehen als Einzige nicht zum Test und fliegen darum auf.<br>




<font color=orange>'''Als du bei der Wahl des OB in Köln kandidiert hast, meintest du in einem Interview, dass es „der Glaube an das Gute ist“, der dich zu einem geeigneten Kandidaten mache. Ist dieser Glaube nach all den bearbeiteten Fällen wirklich noch vorhanden?'''</font><br>
<font color=orange>'''Kriminologen sprechen vom CSI-Effekt, weil Strafverfolger sich von modernen Ermittlungsmethoden wie DNA-Tests zu viel versprechen.'''</font><br>
'''MB''': Ja, uneingeschränkt. Ich habe im Erzgebirge beispielsweise genauso viele herzliche, weltoffen-neugierige Menschen getroffen wie in Köln. Wir müssen einfach genügend Platz in der Welt schaffen, der es Menschen wirtschaftlich, sozial und kulturell erlaubt, gut – damit meine ich sozial – zu handeln. Je stärker dieser Spielraum eingeschränkt wird, umso idiotischer ist es natürlich, das Gute aus schwachen Menschen heraus- bzw. hineinprügeln zu wollen. Und dann gibt es noch verrückte Grenzfälle wie die unglaublich freundlichen Menschen in Kolumbien, die aber gleichzeitig der Meinung sind, dass Homosexualität doof ist. Es ist kompliziert! 😉<br>
'''MB''': Tatsächlich hat die Bedeutung vor allem von DNA-Tests zugenommen. Das kann auch die Ermittlungen behindern. Denn die zeitlich-räumlichen Spuren, also Daten zu Fragen wie «wer war wann wo unterwegs?», «wer telefonierte mit wem oder brachte etwas in die Reinigung?» werden im schlimmsten Fall vernachlässigt. Dabei liefern sie oft die entscheidenden Hinweise. Es gibt auch Computerprogramme, die man mit solchen Hinweisen füttern kann und die dann das Puzzle zusammensetzen.<br>




<font color=orange>'''Kann jeder zum Mörder werden?'''</font><br>
<font color=orange>'''Sind solche Polizei-Datenbanken international vernetzt, sodass Fahndungsresultate oder Tatabläufe abgeglichen werden?'''</font><br>
'''MB''': Das liest man immer wieder. Ich persönlich glaube das nicht. Ich habe mich in ein paar Situationen und Fällen auch mit Kannibalismus beschäftigt. Da gibt es diese Geschichten von Flugzeugkatastrophen, man ist eingeschneit, und dann beginnt man, Gestorbene aufzuessen. Es gibt recht viel Literatur darüber. Doch da gibt’s immer Leute, die das nicht machen. Die sterben lieber, als Menschenfleisch zu essen. Das ist bei Tötungsdelikten auch so. Es gibt Menschen, die würden das nicht machen, basta. Eltern zum Beispiel, die problemlos den Mörder ihres Kindes töten könnten – und es doch nicht machen.<br>
'''MB''': Nein. Die Zusammenarbeit ist sehr schlecht. Es dauerte ewig, bis nur schon die DNA-Spuren in Europa vorsichtig untereinander ausgetauscht wurden.<br>




<font color=orange>'''Es wird ja auch genug gemordet. Geht man nach den Krimis, die allabendlich laufen, müsste Mitteleuropa schon halb entvölkert sein.'''</font><br>
<font color=orange>'''Wie schätzen Sie die internationale Zusammenarbeit der Schweizer Ermittler ein?'''</font><br>
'''MB''': Das ist nicht mehr die Lust am Rätseln, das ist ein Druckventil. Die Menschen haben nicht mehr die richtigen Techniken, um ihr Leben zu justieren. Typisch ist das moderne Deutschland. Die Leute trauen sich nicht, den Job zu wechseln, obwohl sie mit Kusshand woanders genommen werden würden. Aber dann müssten sie umziehen oder was auch immer. Stattdessen bleiben sie unglücklich und lesen lieber gewalttätige Literatur. Um Druck abzulassen. Das hat mit den skandinavischen Autoren angefangen. Ich kann das nicht lesen.<br>
'''MB''': Ich habe nicht den Eindruck, dass die Schweizer sehr schnell mit den benachbarten Ländern die Daten austauschen. Es herrscht die Ansicht vor: Das kriegen wir schon selber hin. Dazu muss ich aber sagen: Die Schweizer kriegen es tatsächlich allein hin. Im Unterschied beispielsweise zu den stolzen Spaniern. Die sind ebenfalls nicht kooperationsfreudig, bekommen aber allein manchmal nur wenig auf die Reihe.<br>




<font color=orange>'''Dir geht es bei deiner Arbeit also vor allem darum, Handlungsmuster und Verhaltensstrukturen erkennbar zu machen? Dass es dann gar nicht erst zu einer Tat kommt?'''</font><br>
<font color=orange>'''Die Ermittler tappen in den Fällen Emmen und Rupperswil immer noch im Dunkeln. Was könnten sie noch tun?'''</font><br>
'''MB''': Genau. Klingt ziemlich utopisch, die menschliche Natur neigt schließlich zu Gewalttaten… Manchmal kann man schon die nächste Tat verhindern, wenn man bei Serientätern auf scheinbar unwichtige Details achtet. Beispielsweise der Kolumbianer Luis Garvito, der über 300 Kinder ermordet hat. Vor Ort hatte ich ihn gefragt, warum er am Tatort immer Kronkorken und/oder Schnapsflaschendeckel liegen ließ. Seine Antwort: „Ich hab da einfach gesoffen.“ Das war für mich unheimlich interessant, weil mir da klar wurde, dass die Leute wirklich total dysfunktional sind. Auf eine kranke Art wirkt ihre Tat auf sie innerlich „erlösend“, aber es macht ihnen trotzdem nicht wirklich Spaß. Die Täter stellen uns wohl deshalb auch immer die Frage: „Warum bin ich so?“ Das ist ein sehr guter Ansatzpunkt, von dem aus man mit solchen Menschen manchmal reden kann. Das funktioniert nicht nur bei Psychopathen, sondern auch bei Pädophilen: Dadurch konnte man Therapieprogramme wie „Nicht Täter werden“ entwickeln, wodurch die Zahl der Delikte zurückging.<br>
'''MB''': Sie werden dranbleiben. Oftmals hilft plötzlich Kommissar Zufall. Es gibt sehr viele Beispiele, wo Polizisten bei einer Routinekontrolle etwas Verdächtiges entdeckt, und die Täter zufällig stellten. Es gibt Täter, die gestehen sofort, wenn sie nach einem Zufallsfund befragt werden. Sie sagen: «Also gut, ihr habt gewonnen.» Aber Kommissar Zufall hilft nur, wenn man den Fall auf dem Schirm behält. In der Schweiz ist jeder in ein dichtes Informationsnetz eingebettet. Handydaten, Videoüberwachung, Fahrzeugkontrollen. Da kann es plötzlich sehr schnell gehen, und die Täter gehen ins Netz.<br>




<font color=orange>'''Du arbeitest und lebst in Köln, bist aber gebürtiger Rosenheimer. Wie viel verbindet dich noch mit deiner bayerischen Heimat?'''</font><br>
'''MB''': Ich hatte eine Patchwork-Oma aus Köln, eine aus Ostpreußen und zwei aus Bayern. Das war großartig, weil ich gar nicht erst lernen musste, dass alle Menschen cool sein können, dass Dialekte Spaß machen und etwas Wunderschönes sind, dass nicht alle gleich denken, reden, kochen und sich ähnlich anziehen müssen und dass nicht jeder Brummler auch wirklich brummelig ist. Diese Vielfalt hat es mir auch ermöglicht, schon früh Spuren zu vergleichen, beispielsweise sahen Brezen überall anders aus und schmeckten auch verschieden — aber es gab auch regionale Häufungen. Das ließ sich alles messen, beschreiben und statistisch auswerten. I like!<br>


 
''Mit großem Dank an Pascal Ritter und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.''
''Mit großem Dank an Sven Kulzer und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.''





Revision as of 15:20, 17 July 2016

Schweiz am Sonntag Logo.jpg

Quelle: Schweiz am Sonntag (darin: Kriminalität), Nr. 11 vom 20 März 2016, Seite 9

«Plötzlich hilft Kommissar Zufall»

Mark Benecke hat schon Hitlers Kiefer untersucht. Jetzt spricht Deutschlands berühmtester Forensiker über den Fall Rupperswil

[Weitere Artikel von MB] [Artikel über MB]

VON PASCAL RITTER

Klick für's PDF!

Mark Benecke (45) ist Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie. Diese Fachrichtung versucht aufgrund von sie befallenden Insekten Hinweise auf den Zeitpunkt des Ablegens einer Leiche zu ermitteln. Beneckes spektakulärster Fall ist die Untersuchung von Adolf Hitlers Kieferknochen, die in einem russischen Archiv lagern. Benecke ist zudem Politiker bei der Satire-Truppe «Die PARTEI».


Herr Benecke, warum fehlt von den Tätern in den Fällen Emmen und Rupperswil jede Spur, obwohl die Ermittler mit modernsten Methoden wie DNA- Tests arbeiten?
MB: Mark Benecke: Die Frage ist, ob es da wirklich keine Spur vom Täter gibt. Gerade in der Schweiz kommunizieren die Strafverfolger Fahndungsergebnisse nur zurückhaltend. Manchmal mauert die Staatsanwaltschaft auch aus politischen Gründen. Es gilt das Motto: Der gute Kriminalist arbeitet still und spricht nicht mit der Presse. Das ist gut für die Arbeit, aber blöd für euch Journalisten.


Am Tatort wurden DNA-Spuren gefunden. Woran könnte es liegen, dass sie noch nicht zum Täter führten?

MB: Eine DNA-Spur allein nützt mir natürlich noch nichts, wenn sich nicht ein entsprechendes Vergleichsprofil in der Datenbank befindet. Dazu müssten die Täter vorher schon mal straffällig oder zumindest verdächtigt gewesen sein. Das Gleiche gilt auch für Faserspuren. Anders als im Krimi kann man mit Fasern von Kleidern der Täter nicht einfach zu allen Pulloverfabrikanten gehen und deren Kundschaft überprüfen.


Wie verzweifelt sind Ermittler, wenn sie 100 000 Franken auf Hinweise aussetzen?
MB: Ich habe noch nie einen verzweifelten Kriminalpolizisten gesehen. Die machen eher auf cool. Die Höhe der Belohnung würde ich nicht überschätzen. Für die reiche Schweiz sind 100 000 Franken nicht sehr viel. Lösegeld wird eingesetzt, um das Umfeld der Täter anzuzapfen. Vielleicht wollen sie die Freundin des Täters weichkochen. Das Lösegeld soll Menschen, die den Täter kennen, ermuntern, sich zu sagen: Ach! Scheiss auf die Freundschaft! Ich nehme die 100 000 und setze mich damit auf eine Insel in der Südsee ab.


Sie haben schon in den USA ermittelt. Würden die Amerikaner im Fall Rupperswil anders vorgehen?
MB: In Europa wird anders ermittelt als in den USA. Nur schon das Material. Ich habe eine Speziallampe, mit deren Licht Substanzen am Tatort sichtbar werden, etwa Sperma. Meine Lampe ist aus Metall und superteuer. Die Amerikaner pfropfen einen Filter auf ihre billige Plastiktaschenlampe. Geht das Ding kaputt, kaufen sie eine neue. Dass die Amis professioneller arbeiten, ist Blödsinn. Sie reden einfach mehr über ihre Arbeit. In den USA gehört ein bisschen Show einfach dazu.


In Rupperswil untersuchten Spezialisten acht Wochen nach der Tat noch mal den Tatort. Was bringt das?
MB: Es bringt immer etwas, den Tatort nochmals anzuschauen. Ich war schon sechs Jahre nach einer Tat an einem Tatort. Man findet immer etwas. Ob Blutspuren, DNA, Fasern oder auch nur Möbel, die irgendwie komisch angeordnet wurden. Ich habe noch nie nichts gefunden an einem Tatort.


Die Aargauer Kantonspolizei hat noch nie so viele Beamte einem einzigen Fall zugeteilt. Gilt bei Ermittlungen, dass vier Augen mehr sehen als zwei, oder ist es eher wie in der Küche: Zu viele Köche verderben den Brei?
MB: Am besten sind viele gute Köche. Dann kann man sich aufteilen und verschiedenen Spuren gleichzeitig nachgehen. Der einsame Kommissar mit der Pfeife im Mund kann die vielen Spezialisten nicht ersetzen. Die Schweiz ist eines der Länder, in denen es viele wirklich gute Fachleute gibt. Der Wissensstand ist sehr hoch.


Das klingt, als hätten Sie schon anderes erlebt.
MB: Ich war mit meinem Team in Ciudad Juárez, der mexikanischen Stadt, in der viele Frauen ermordet wurden. Als wir ankamen, fragten uns die dortigen Ermittler: «Und? Wer ist es gewesen?» Wir fragten nach Spuren. Sie antworteten: «Welche Spuren? Lass uns ein Bier trinken gehen.» Das ist in der Schweiz ganz anders. Die Kollegen arbeiten gründlich und solid.


Auch die Vergewaltigung von Emmen ist noch nicht aufgeklärt. Trotz Massen-DNA-Test. Was halten Sie davon?
MB: Für mich ist es keine soziale Frage, ob man einen Massen-DNA-Test anordnen soll, sondern eine technische. Man muss abwägen, ob sich der Aufwand lohnt. Die Ermittler müssen zudem aufpassen, dass sie nicht getäuscht werden. Es gibt Täter, die einem Komplizen den Pass in die Hand drücken und ihn zum DNA-Test schicken. Nicht zu unterschätzen ist auch die indirekte Wirkung solcher Tests. Manche Täter stellen sich, sobald sie aufgeboten werden. Vor ein paar Jahren hat sich einer in die Luft gesprengt, am Tag bevor er zum DNA-Test musste. Andere gehen als Einzige nicht zum Test und fliegen darum auf.


Kriminologen sprechen vom CSI-Effekt, weil Strafverfolger sich von modernen Ermittlungsmethoden wie DNA-Tests zu viel versprechen.
MB: Tatsächlich hat die Bedeutung vor allem von DNA-Tests zugenommen. Das kann auch die Ermittlungen behindern. Denn die zeitlich-räumlichen Spuren, also Daten zu Fragen wie «wer war wann wo unterwegs?», «wer telefonierte mit wem oder brachte etwas in die Reinigung?» werden im schlimmsten Fall vernachlässigt. Dabei liefern sie oft die entscheidenden Hinweise. Es gibt auch Computerprogramme, die man mit solchen Hinweisen füttern kann und die dann das Puzzle zusammensetzen.


Sind solche Polizei-Datenbanken international vernetzt, sodass Fahndungsresultate oder Tatabläufe abgeglichen werden?
MB: Nein. Die Zusammenarbeit ist sehr schlecht. Es dauerte ewig, bis nur schon die DNA-Spuren in Europa vorsichtig untereinander ausgetauscht wurden.


Wie schätzen Sie die internationale Zusammenarbeit der Schweizer Ermittler ein?
MB: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Schweizer sehr schnell mit den benachbarten Ländern die Daten austauschen. Es herrscht die Ansicht vor: Das kriegen wir schon selber hin. Dazu muss ich aber sagen: Die Schweizer kriegen es tatsächlich allein hin. Im Unterschied beispielsweise zu den stolzen Spaniern. Die sind ebenfalls nicht kooperationsfreudig, bekommen aber allein manchmal nur wenig auf die Reihe.


Die Ermittler tappen in den Fällen Emmen und Rupperswil immer noch im Dunkeln. Was könnten sie noch tun?
MB: Sie werden dranbleiben. Oftmals hilft plötzlich Kommissar Zufall. Es gibt sehr viele Beispiele, wo Polizisten bei einer Routinekontrolle etwas Verdächtiges entdeckt, und die Täter zufällig stellten. Es gibt Täter, die gestehen sofort, wenn sie nach einem Zufallsfund befragt werden. Sie sagen: «Also gut, ihr habt gewonnen.» Aber Kommissar Zufall hilft nur, wenn man den Fall auf dem Schirm behält. In der Schweiz ist jeder in ein dichtes Informationsnetz eingebettet. Handydaten, Videoüberwachung, Fahrzeugkontrollen. Da kann es plötzlich sehr schnell gehen, und die Täter gehen ins Netz.


Mit großem Dank an Pascal Ritter und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.


Lesetipps


Dr. rer. medic. Mark Benecke · Diplombiologe (verliehen in Deutschland) · Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für kriminaltechnische Sicherung, Untersuchung u. Auswertung von biologischen Spuren (IHK Köln) · Landsberg-Str. 16, 50678 Köln, Deutschland, E-Mail: forensic@benecke.com · www.benecke.com · Umsatzsteueridentifikationsnummer: ID: DE212749258 · Aufsichtsbehörde: Industrie- und Handelskammer zu Köln, Unter Sachsenhausen 10-26, 50667 Köln, Deutschland · Fallbearbeitung und Termine nur auf echtem Papier. Absprachen per E-mail sind nur vorläufige Gedanken und nicht bindend. 🗺 Dr. Mark Benecke, M. Sc., Ph.D. · Certified & Sworn In Forensic Biologist · International Forensic Research & Consulting · Postfach 250411 · 50520 Cologne · Germany · Text SMS in criminalistic emergencies (never call me): +49.171.177.1273 · Anonymous calls & suppressed numbers will never be answered. · Dies ist eine Notfall-Nummer für SMS in aktuellen, kriminalistischen Notfällen). · Rufen Sie niemals an. · If it is not an actual emergency, send an e-mail. · If it is an actual emergency, send a text message (SMS) · Never call. · Facebook Fan Site · Benecke Homepage · Instagram Fan Page · Datenschutz-Erklärung · Impressum · Archive Page · Kein Kontakt über soziale Netzwerke. · Never contact me via social networks since I never read messages & comments there.