2014 Bachelorarbeit Opalinski: Geschlechterforschung in Jugendkulturen
Name: Isabella Sabina Opalinski
Bachelorarbeit im Bachelorstudiengang Pädagogik in der Fakultät Humanwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Geschlechterforschung in Jugendkulturen: Differenzierung von Jugendkulturen in feminin, maskulin und geschlechtsneutral anhand einer Analyse der schwarzen Szene
Diese Arbeit wurde mit “sehr gut” bewertet — herzlichen Glueckwunsch!
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(Die komplette Arbeit ist hier zu lesen, auszugsweise stellen wir im Folgenden nur das Interview mit Mark vor:)
Auf Anfrage wurde von Szenemitgliedern auf Dr. Benecke als Experte für die schwarze Szene verwiesen. Er ist langjähriges Mitglied und gestaltet die Szene aktiv mit. Außerhalb der Szene ist Dr. Benecke bekannt als Kriminalbiologe und Autor, innerhalb der Szene tritt er als DJ auf und hält Vorträge, etwa über Vampyrismus. Er hat selbst schon oft die Rolle des Interviewers Szenezugehöriger über-nommen, weswegen er neben seinem eigenen Erfahrungsschatz auch über einen Einblick in die Szene aus der Sicht anderer verfügt. Das Interview wurde telefonisch durchgeführt und simultan aufgezeichnet. Die aus dem Interview gewonnenen empirischen Ergebnisse werden in der Arbeit entweder zur Bekräftigung oder als Kontrast zur Literatur verwendet.
Ich habe gehört, dass du auch schon ziemlich lang in der schwarzen Szene tätig bist und deswegen wollte ich wissen, wie lange du ungefähr schon in der Szene bist?
Das weiß ich nicht. Ich hab ja früher schon auch bei Partys aufgelegt. Weit über zehn Jahre. Es gibt ja nicht die eine schwarze Szene. Also es gibt schon ´ne schwarze Szene, aber die besteht ja aus vielen Unterszenen. Ich war eher so im Elektro, also musikalisch orientiert. Elektro-Pop Nachfolger, die dann eine Rolle in der Grufti-Szene gespielt haben. Da hab ich dann auch aufgelegt. Also über zehn Jahre auf jeden Fall. Aber zum Beispiel war ich mal bei einer Veranstaltung auf der Domplatte. Das Wave-Gotik-Treffen ist ja das größte Grufti-Festival, was es gibt. Und viele Gruftis haben ja keine Kohle und dann sind sie in Köln auf der Domplatte. Da gab‘s immer Treffen und da haben sie auf der Domplatte rumgesessen. Da hab ich auch schon rumgesessen, da hab ich glaub ich aber noch nicht mal schwarze Klamotten getragen. Es ging also langsam und stufenweise.
Und was hat dich damals an der Szene so fasziniert?
Gar nichts. Mich fasziniert das überhaupt nicht. Ich fühl‘ mich da einfach in den gleichen Schwingungen, wie die anderen. So wie – keine Ahnung, sagen wir mal (überlegt) – jemand der gerne rappt, geht in so ´ne Rap-veranstaltung und sagt „Ja die Leute hier sind so ähnlich wie ich“ (…). Weißte, die Schwingungen, die Einstellungen, die Musikrichtung und sowas alles. Das stimmt halt einfach überein.
Ich hab‘ gelesen, dass es die schwarze Szene schon seit den 1980er Jahren gibt und von Beginn an, hat Musik eine große Rolle gespielt. Was war das ursprüngliche „Gothic“ und welche großen Stile haben sich daraus entwickelt?
Joa, also wenn man das einfach machen möchte. Also du hast ja gesagt grob. Grob kommt das daher, dass es mal Hippies gab. Als Gegenbewegung zu so konservativen reaktionären früh-postindustriellen Einstellungen. Also so in den 1960er Jahren irgendwann und dann Punks. Die Hippies galten so als die bürgerlicheren Alternativen, und die Punks haben sich eher so verstanden aus einer Arbeiterbewegung oder aus ´ner tieferen sozialen sozioöko-nomischen Schicht kommend. Daher auch die Arbeiterschuhe, die Doc Mar-tens. Dann gab’s Elektro-Pop. Das passte jetzt gar nicht mehr zusammen mit den beiden Richtungen. Also die Hippies haben ja Gitarrenmusik und sowas gehabt und die Punks natürlich auch Gitarrenmusik, aber hauptsächlich E-Gitarren. Und Elektro-Pop hat einfach konsequent darauf verzichtet. Fast. Tendenziell gab’s dann auch andere Richtungen, die man heute „Batcave“ nennt. Das war auch so eine frühe Richtung und die ist so aus den beiden gekommen.
Also so Richtung Elektro-Pop, wozu jetzt meinetwegen in den 80ern Depeche Mode (…) gehört. Also Bands, die sehr bekannt sind und auch ganz normale Hits hatten, die auch im Radio viel liefen. Und da gab’s dann zahlreiche Untergruppen und Untersplitterungen. Daraus haben sich dann die ganzen Strömungen entwickelt. Zuerst war’s auch noch relativ gitarrenlastig, da in den 80ern. Also in der Batcave-Ecke. Elektro-Pop war da aber auch schon ziemlich wichtig. Und ja das sind eigentlich so bis heute die zwei Hauptsäulen. Also aus dem Elektro-Pop ist beispielsweise Jahrzehnte später Aggrotech hervorgegangen. Das sind so aggressivere, rein elektronische Sachen. Dann gibt’s ruhige elektronische Sachen. Dann, auf der anderen Seite, auch Einflüsse aus klassischer Musik. Aus romantischen Vorstellungen überhaupt, aus Natur.
Also heidnisch. Was man heute in der modernen Zeit als heidnisch sieht. Oder wo die Leute Mittelaltersachen – also das hat natürlich nichts mit Mittelalter zu tun – aber so bisschen urtümlichere heidnischere Vorstellungen. Das gibt es auch musikalisch. Da benutzen sie meinetwegen Dudelsäcke oder Trommeln, altertümliche. So hat sich das aufgezweigt. Heute ist das ein sehr weites Feld, mit sehr, sehr vielen Unter-Richtungen. Aber das ist so der Hergang.
Was wären denn noch so die wichtigen Untergruppen, die du nennen würdest? Ich möchte ja ein paar Gruppen in meiner Arbeit beschreiben und bin mir nicht sicher, welche ich nennen soll. Ich hatte da an Steampunk und Cybergothics gedacht?
Richtig, da hast du Recht. Das gehört auf jeden Fall auch dazu. Also es ist aber so, dass Steampunk jetzt keine eigene musikalische Stilrichtung ist, sondern die machen das eher optisch. So wie meinetwegen (überlegt). Kennst du diese Japan-Bands?
Ja, von denen hab ich gelesen.
Ja diese Bands haben quasi so ´ne Mischung. Das ist irgend so ´ne Art von ultra krassem Rock und die definieren sich dann auch durch das Äußere. Also Visual Kei nennt sich das. Interessanterweise ist das überhaupt nicht in der schwarzen Szene. Sondern es gab mal eine Band, die hab ich mal beim Amphi [ein Grufti-Festival in Köln] gesehen. Die ist da aufgetreten und das war’s dann auch. Das wird nicht als schwarze Subkultur wahrgenommen. Und so ist das auch ein bisschen bei Steampunk. Steampunk-Bands machen alles Mögliche. Die können eher aus dem heidnischen Umfeld kommen oder eher aus dem Rockigen, nicht aus dem Elektronischen allerdings. Die definieren das dann einfach bisschen über den Kleidungsstil. Die nehmen Steampunk-Elemente auf. Da kann ich dir auch was zuschicken. Das ist ein Video, da kannst du das auch gut sehen. [gemeint ist: https://www.youtube.com/watch?v=4H5dVzK8Fc8] (…) Welche Musikrichtung das sein soll, kann man überhaupt nicht mehr definieren.
Und was kann man zu den Romantikern sagen? Es gibt ja Schwarzromantiker, Endzeitromantiker und dann hab ich noch was von New Romantics gelesen.
Die kannst du nicht mehr richtig auseinanderhalten. Das ist nicht beschreibbar. Es ist nicht sinnvoll, das in so ´ner kleinen Arbeit zu beschreiben. Das wäre jetzt so, als ob du super komplizierte Architekturstile aus den letzten 100 Jahren auseinander klamüsern würdest. Das ist zu detailverliebt. Also die groben Strömungen, die man gut erkennen und gut beschreiben kann, das ist jetzt allerdings meine Beschreibung. Da gibt’s jetzt kein offizielles Reglement oder sowas für. Also die Romantigoth-Ecke. Das ist alles, wo sich die Leute zum Beispiel viktorianische Sachen anziehen, auch Steampunk Sachen anzie-hen. Steampunk ist ja auch eine Mischung aus viktorianisch und Industriekultur und Phantasie einfach auch, Science-Fiction. Also eine Prise Science-Fiction, nicht viel. So viktorianische Science-Fiction. Das wäre alles Romantigoth.
Also durchaus auch Klassik. Es gibt auch mittlerweile Klassik-Crossover-Stile. Blutengel zum Beispiel, die sind in Leipzig im Gewandhaus aufgetreten mit ´ner Klassikuntermalung. Oder auch Laibach ist mit einer Klassikuntermalung aufgetreten. Da sind beide sehr, sehr bekannte und stilbildende Bands. Laibach ist zum Beispiel überhaupt nicht romantic, machen aber trotzdem das mit dieser Klassikunterfütterung. Also da kommste nicht weiter. Ich würd mal sagen, ganz grob aufsplittern kannst du das am einfachsten in eher elektronischen Stil. Das wäre aktuell Cybergoth, ist aber keine Musikrichtung gewesen, sondern eher ein Kleidungsstil zur Musik. Dann wäre es Aggrotech und Hellectro. Also nicht Elektro sondern Hellectro, also die Hölle. Ich kann dir gleich auch ei-ne Band sagen. Für die Cybersachen wären das zum Beispiel Bands wie Noisuf X und X-RX heißt eine. Das wären so zwei relativ aktuelle Bands, wo Cybers dazu getanzt hätten, ohne dass sie auf der Bühne das Outfit des Publikums übernommen haben.
Auf der Bühne siehst du keinen Cyber. Nie. Da gab’s nur eine Band, die das mal gemacht hatte, Ext!ze. Das war die einzige Band, die das überhaupt gemacht hat auf der Bühne. Dann haste wie gesagt Hellectro und Aggrotech. Da ist die bekannteste Band Agonoize. Die machen auch ´ne große Show auf der Bühne, wo Leute gekreuzigt werden und Blut getrunken wird und alles Mögliche. Nadeln werden sich durch den Kopf geschoben. Dann gibt es die Elektro-Pop Ecke immer noch. Die machen jetzt auch quasi, was direkt aus den 80ern kommt. Da gibt es zahlreiche Bands. Kann ich dir auch ein paar aufschreiben. Die übernehmen im Grunde das Stilrepetoire aus den 80ern. Das wär die eine große Ecke und die andere große Ecke würde ich jetzt mal Rock und Romantik nennen. Schwarzer Rock, aber nicht Metal. Metal nicht. Also Grufti-Rock und Romantik. So würde ich das nennen. Und da ist zum Beispiel die bekannteste Band, wo es auch am meisten Theater drum gibt, Blutengel.
Ich bin mit dem Sänger befreundet, es gibt auch ein lustiges Interview von uns im Strandkorb [1]. Die haben aber zum Beispiel ein Video, was die hochgeladen haben. So ein Vampirvideo, das kann ich dir auch schicken. Das hat fast acht Millionen Views [2]. Das musst du dir mal vorstellen. Also das ist unvorstellbar. Deutschsprachig! Also extremer impact. Und daraus hervorgegangen, aus der Ecke, ist dann auch der Unheilig. Er gehört ja überhaupt nicht mehr zur Szene. Der eigene Fanclub hat sich ja sogar aufgelöst, so vor ein paar Jahren. Weil die das einfach zum Kotzen fanden. Aber der kommt ursprünglich auch daher. Der hatte auch elektronische Elemente – oder ja, der war auf der Mitte zwischen Elektronik und Romantik. Und Rock und (überlegt) wer wäre denn noch so bekannt? (überlegt) Also eine Band, die immer noch auftritt, die sich aber selbst nicht als Grufti-Band definiert, die aber auf Festivals auftritt sind zum Beispiel Oomph! Die sind auch sehr bekannt. Die wären auch in dieser Gothic-Rock Ecke, obwohl sie das selber nicht sagen würden.
Wo zählen die sich denn hin?
Weiß ich gar nicht. Müsstest du mal auf der Webseite gucken. Also die haben jetzt keine extreme Szeneanbindung. Also wenn die Auftritte machen, werben die jetzt nicht vorwiegend in reinen Grufti-Magazinen. Sie haben da nichts dagegen. Aber das ist jetzt nicht denen ihr Hauptpublikum. Zumal Gruftis ja häufig keine Kohle haben. Das muss man wirklich dazu sagen. Und das ist auch keine attraktive Gruppe zum Platten kaufen, so für große Bands. (…) Also Rock und romantic wäre das eine. Und dann gibt’s natürlich weird shit. Das wär das Dritte. Also alles Mögliche, komplett Verrückte. Die, die irrsten Klanginstallationen machen. Ich kenn‘ einen aus Berlin, der lässt sich mit einem Haken durch die Haut an die Decke ziehen, hat so ´ne Klangmaschine auf dem Rücken [gemeint ist: http://louisfleischauer.com/Human_Instruments.html]. Je nachdem wie er sich bewegt, macht er die geilsten Geräusche und so. Also das würde ich noch unter weird shit einsortieren. Ich liebe sowas. Was man vielleicht noch trennen sollte, stimmt zwar auch nicht so ganz, aber nur so für dich als groben Über-blick. Die vierte Säule dann: Dieses ganze ‘pagan‘, heidnisch, handgemacht, Dudelsack, die Ecke. Das wäre dann die vierte. Obwohl sich das in Wirklichkeit auch überlappt. Zum Beispiel eine bekannte Band Subway to Sally, die haben auch eine gute Szeneanbindung. Die benutzen z. B. keine Dudelsäcke mehr, obwohl das ursprünglich mal eine Dudelsackband war. Die wollen jetzt in diesen Rockmarkt rein. Ist ja klar, weil es dann natürlich hunderttausendmal mehr Zuschauer sind.
Und was ist mit Death-Metal?
Nee. Also das ist schwarze Szene. Also soziologisch gesehen, ist das schon schwarze Szene. Das hast du ja sicherlich gesehen. Da gibt’s auch viel soziologische Literatur dazu. Aber das hat mit „Gothic“ überhaupt nichts zu tun. Also du siehst auf einem Festival mit 10.000 Gruftis, siehst du oft kein ein-ziges Metal-T-Shirt. Also das würde keinen stören. Das wäre vollkommen akzeptiert und es gibt auch Paare, wo einer Metaller und einer Grufti ist. Das gibt’s. Aber das ist selten.
Das ist gut zu wissen. Das hab ich in der Literatur nicht so gefunden.
Das ist auch richtig so, weil wenn du den Begriff “Schwarze Sze-ne“ jetzt nur auf schwarze Szene benutzt, dann gehört das dazu. Dann gehö-ren diese härteren also Doom- und Death-Metal dazu. Aber das ist nicht (überlegt) aber das hat nichts mit Gruftitum zu tun. Überhaupt nicht.
Gibt es jetzt noch eine dominante Strömung oder verläuft sich das alles?
Nee, das ist diversifiziert. Das ist quasi post-post-post-postmodern. Das ist ganz, ganz stark aufgesplittert und beim WGT zum Beispiel, der Durchschnittszuschauer oder Durchschnittszuschauerin würd‘ wahrscheinlich (Pause) ein fünfzigstel der Ereignisse, die dort offiziell stattfinden, überhaupt nur wahrnehmen können. Also ich denke, das trifft’s. Also du hast wirklich mehrere Handvoll diversifizierter Unterströmungen. Das wird auch räumlich aufgeteilt. Zum Beispiel machen die im Kuppelpalast, äh, Volkspalast, das ist so ‘n Gebäude, was unter anderem bespielt wird, was eher ein bisschen größer ist. Da haste zum Beispiel manchmal Tage, da läuft dann nur Neofolk oder sowas und das kennt der Durchschnittsgrufti überhaupt nicht. Also so ‘n 15-jähriges Blutengelfan-Mädchen weiß überhaupt nichts von Neofolk.
In der MDR- Reportage „Die Farbe Schwarz – Unterwegs auf dem Wave-Gotik-Treffen“ ist mir ein Zitat von dir zum Thema „sich abheben von der Gesellschaft“ aufgefallen. Die Reporterin hat angesprochen, dass es doch gegensätzlich sei, dass man sich einerseits abheben möchte vom Rest der Gesellschaft, sich aber andererseits wieder in einer großen Gruppe wiederfinde. Daraufhin hast du Folgendes entgegnet: “Man möchte sich nicht abheben. Gruftis sagen sich „Ich bin wie ich bin. Wenn die anderen anders sind, sind sie halt anders.““ Meine Frage lautet jetzt: Warum gibt es dann überhaupt so viele verschiedene Stile innerhalb der Szene, wenn man sich nicht abheben will?
Weil halt jeder anders ist. (lacht) Da besteht kein Druck sich anzupassen. Bunte Menschen sind ja auch alle anders, aber die haben halt eher die Tendenz sich anzupassen und zu sagen „Komm scheiß drauf, dann zieh ich jetzt halt die blöde Krawatte an, wenn mein Mann oder meine Frau oder irgendwer sie raus legt.“ Und das würden Gruftis nicht tun. Also was bestenfalls passiert ist, wenn Leute jetzt Szeneeinsteiger sind, dass die auf Geld achten oder mal gucken, was ´ne Band vielleicht trägt. Aber es besteht überhaupt gar kein Druck anderen irgendwie Zugeständnisse im Stil zu machen. Im Gegenteil, das wird dann eher belächelt. In der bunten Gesellschaft würde man sagen: „Sehr vernünftig, jetzt ist das Kind mal erwachsen geworden“ oder „Jetzt hört mein Kollege endlich auf mit Herzchen auf French Nails und macht sich normale Nägel“.
Sowas wäre natürlich unvorstellbar in der schwarzen Szene. Das wird noch nicht mal angesprochen. Also es würde noch nicht mal jemand hingehen. Ich kann dir ein gutes Beispiel sagen: Also ich hab einen total billigen schwarzen Nagellack und der blättert immer ab während den Festivals. Noch niemals hat mich irgendein Grufti darauf angesprochen, warum der Nagellack abgeblättert ist. Wenn du jetzt morgens in der Straßenbahn fahren würdest zur Arbeit als bunter Mensch und du hättest den Nagellack abgeblättert, würde zumindest der neben dir hingucken. Der würde vielleicht nichts sagen, aber dem würde das auffallen. Aber unter Gruftis ist das scheißegal. Da würde man sagen „Das spielt doch überhaupt keine Rolle. Vielleicht hat er das mit Absicht gemacht, vielleicht findet er das geil, vielleicht ist das Zufall, vielleicht hat er kein Geld, vielleicht ist ihm die Nagellackflasche runtergefallen. Ist doch scheißegal“. Das interessiert einfach keinen.
Die schwarze Szene gilt als eher untypische Jugendkultur, weil viele Mitglieder von Anfang an dabei sind oder auch erst nach dem Jugendalter dazu kommen. Woran könnte das denn liegen?
Was wäre denn eine typische Jugendkultur nach der Definition?
Ich meinte es so, dass ich auf den Videos, die ich gesehen habe viele Erwachsene sehe. Wenn ich jetzt zum Beispiel auf einem Hip-Hop Festival wäre (unterbricht)
Ah ja, jetzt hab ich verstanden. Ich würde jetzt aus meiner Antwort die Begriffe „typisch“ und „untypisch“ rausstreichen. Darauf möchte ich jetzt nicht Bezug nehmen. Aber ich verstehe glaub ich jetzt deine Frage. Du fragst dich wie da so ´ne breite Altersfläche drum rum kommt und möglichweise auch eine sehr lange Szenezugehörigkeit. Das ist so, dass “Grufti“ ja keine Szene ist, genauso wie bei Skins, die ist ja komplett nicht vom Markt erschließbar. Es gab ja eine Firma, Xtrax hieß die. Eine sehr, sehr große Grufti-Modefirma. Die hatte beim WGT den größten Stand, auch beim Amphi-Festival in Köln. Die sind Pleite gegangen. (…) Also die ist gegründet worden von einem bekannten Szenemitglied. Das ist jetzt nichts von außen. Du kannst das einfach nicht. Weil die Leute nähen selber. Ich weiß nicht ob du den RTL-Beitrag gesehen hast von mir vom WGT dieses Jahr, den kannst du auch mal googlen oder ich kann ihn dir auch schicken. Da haben wir nur über Mode etwas gemacht.
Der Beitrag ist nicht gut, aber du siehst, wie oft die Leute sagen „Ja das hab ich selber genäht“ und sogar die kompliziertesten Sachen, wo du dir denkst: „Das kann man doch gar nicht selber nähen.“ Ich bin befreundet mit Schneiderinnen, aber das kann eine durchschnittliche Schneiderin einfach nicht nähen. Und das machen die einfach so, nur für’s WGT. Du siehst auch, dass sie Spaß dran haben. Das sind ganz verschiedene Stile und Schnittmuster, die sie auch selber machen. Es gibt keine Vorlage, auch im Internet nicht. Die Materialien sind divers: Lack, Leder, Latex, Baumwolle. Es ist ein Wahnsinn! Und das spiegelt eigentlich ganz gut wieder, wie die Szene eigentlich ist. Nämlich wie bei Skins. Das ist einfach eine weltanschauliche Zugehörigkeit mit dem Unterschied, dass es keine Dogmen gibt. Es gibt kein Gesetz, keine zwölf Gebote. Elf, zehn, keine Ahnung wie viele es sind. Nichts. Das ist eine komplett basisdemokratische…allerdings plenums-frei, also es gibt Wahldemokratie, aber ohne Plenum. Es gibt nur die Demokratie der Füße.
Es ist eigentlich eine Graswurzelbewegung, wie bei den Skins. Man geht hin oder man geht einfach nicht hin. Und darin entscheidet sich alles. Und jeder gestaltet es, wie er es will. So sind auch die Cybers verschwunden. Die Cybers waren da und jetzt sind sie wieder weg. Und keiner weiß, wo die hergekommen sind und keiner weiß, wo die hingegangen sind. Das ist einfach so! (lacht) Also Demokratie der Füße. Ja und daher kommt das, dass Erwachsene – sagen wir mal für Jugendsubkulturen über 25-jährige, weil bei Jugend-subkulturen bleiben die Leute ja bis sie 20 sind dabei, würd ich jetzt mal sagen – Und da gibt es ja auch Übergänge. Ich nenn‘ das immer „das Schwarz schillert“. Das kann man aber nur sehen, wenn man selber das Auge für das Schwarze hat. Das Video kann ich dir auch schicken [gemeint ist: https://www.youtube.com/watch?v=wudQBS_gGjo]. Das gibt’s auch ein Video von mir dazu. Da erklär‘ ich das während dem WGT.
Das ist so schillernd im Schwarzen, dass du immer einen Anschluss findest. Zum Beispiel als Jugendlicher, sagen wir mal, du bist das typische 13-jährige Mädchen. Also eiskalte Tränentropfen bei dir, also auch dein missverstandenes Herz aus Glas. Und da hast du ´ne Band für und da haste auch ´ne Party für, wo die entsprechende Musik läuft und wo auch die rumlaufen, denen es genauso geht. Und das Ge-genteil wäre jetzt, der Uralt-EBMler. EBM ist so ´ne Musik, die mit so stampfenden von Maschinen abgeleiteten Rhythmen operiert. Bei denen ist das so: Das müssen Springerstiefel, die und die Hose, die und die Kappe, das und das T-Shirt sein. Aber nicht von der Marke her, sondern es geht nur um den Stil. Keinerlei Marken. Marken sind absolut verpönt. Für die gibt es auch was, nur das ist sozusagen Retro. Das ist Opa-mäßig. Die Anhänger laufen auch gern mal mit Shirts mit einem Aufdruck “EBM“ rum. Die sind über 40. Die fallen aber nicht auf, auf den Festivals, weil sich das 13-jährige Mädchen mit dem Herz aus Glas sagt „Ja die gehören halt auch dazu. Ich hör‘ die Musik zwar nicht, aber die gehören zu meiner Weltanschauung dazu.“
Und so geht das eben mit allen gruftigen Stilen. Und du kannst jederzeit rein oder raus gehen. Oder ich kenne zum Beispiel einen Fotografen, der früher viel in der Szene unterwegs war. Der hat jetzt einen guten ruhigen Job. Der muss regelmäßig arbeiten, verdient auch ziemlich viel Kohle dabei und der zieht sich nur noch eine schwarze Jeans und eine schwarzes T-Shirt an und hört sich die Musik an. Und redet auch gar nicht mehr mit den Leuten aufm Festival und kauft sich auch keine Sachen mehr da. Der guckt sich nur die Bands an. Hat auch graue Haare mittlerweile. So und deswegen hat da einfach jeder seinen Platz. Und wenn wir jetzt noch einmal auf die Skins gehen. Da gibt’s dieses Thema sogar. Da gibt’s sogar ein Lied drüber, bei den Skins: „Ab wann ist man zu alt (für den way of life)“ heißt es. Also das wird thematisiert bei den Skins. Zum Beispiel wenn du nicht mehr eine Glatze hast oder so, und meinetwegen deine Haare wachsen lässt und ´ne Familie hast und nur noch alle vier Wochen zu einer Party gehst, bist du dann kein Skin mehr? Ja und das wäre bei Gruftis halt völlig egal. Also ein Grufti, wenn der angekommen ist und erwachsen geworden ist, sitzt der immer noch mit Tattoos oder Undercut oder schwarzen Baumwollklamotten im Vorzimmer der größten Finanzdienstleisterfirma Europas.
Ich habe auch in dem Video vom WGT 2014 gesehen, dass da zum Beispiel ein 77-Jähriger ist. Fand ich ziemlich beeindruckend.
Das hängt damit zusammen, dass zu Grufti-Festivals auch viele von den Leuten gehen, die eher zu den extrovertierten Subkulturen gehören. Also Punk, Skin, Oi! und so weiter. Also einfach etwas, was extrovertierter ist. Die, glaube ich zumindest, stoßen noch viel öfter an ihre Grenzen von außen, weil man die häufig anspricht. Zum Beispiel: „Musst du jetzt so aggro sein?“ oder wenn sie zum Beispiel eine Ausbildung machen, sagt der Chef „Hör mal, du kannst hier nicht besoffen ankommen sonst fliegst du einfach“. Und oft hören die den Knall einfach. Oder auch nicht. Aber auf jeden Fall kriegen die von außen mehr Feedback. Bei Gruftis ist das nicht so ein Problem, weil die schleichen ja sowieso durch die Nacht und die kriegen natürlich wesentlich weniger den Druck von außen und wissen damit umzugehen. Also der Großteil der Gruftis hat ja Einwirkungen im Leben erlebt, die unschön waren und die dazu geführt haben. Die können abtauchen, innerlich oder äußerlich oder so. Und das kannst du auf Grufti-Festivals auch noch als 70-Jähriger machen. Es gibt im Übrigen noch eine Szene, wo es das auch noch gibt. Außer von politischen Szenen. Da gibt es das natürlich auch. Aber davon rede ich nicht, weil die sind ja unpolitisch. Im SM, da hast du auch keine Altersschichtung, also das geht von 13 bis 100 oder so (lacht). Da gibt’s das auch, weil du komplett unterm Radar fliegst. Es gibt ja auch Überschneidungen: Also beim WGT zum Beispiel, gibt’s eine riesen große SM-Party, aber eben nur an einem Abend. Ansonsten spielt das keine Rolle. Also Fetisch und so spielt ansonsten keine Rolle.
Jetzt würde ich gerne zum zweiten Teil meiner Bachelorarbeit kommen, und zwar das Thema Gothic und Geschlecht. Bist du der Meinung, dass es innerhalb der Szene eine klare Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern gibt?
Nee überhaupt nicht. Wo du das ganz gut sehen kannst, wer damit kokettiert, ist Kirlian Camera. Da haste die Frau, die sich – auf italienische Weise muss man dazu sagen, das hat jetzt nichts mit den gender-Stereotypen zu tun, die wir in Deutschland kennen, das ist die italienische Art, dass man sich vernünftig anzieht und auch sexy, als Mann und als Frau. Aber eben mit klarer gender-Verteilung –, die Frau, Elena Fossi, läuft jetzt nicht mit Businessanzug herum, sondern oldschoolig supersexy halt. Das gibt’s. Das ist aber auch eine italienische Band und da ist der Mann wirklich der mit den kurzen grauen Haaren und der auf der Bühne nicht lacht. Und die Frau ist die, die vorne steht. Die Rampensau mit den Hotpants und schwarze shady eyes hat. Aber ansonsten gibt es auch viele Bands, wo das einfach egal ist und gerade die älteren Bands. Das siehst du auch bei den Ärzten, noch ganz am Anfang. Da war das völlig egal. Am besten siehst du das bei Bela B., aber auch beim Farin.
Das ist ja eigentlich eine androgyne Inszenierung, bevor es das überhaupt im Mainstream gab. Eben nicht metrosexuell, das gab‘s ja noch nicht. Sondern wirklich androgyn. Die sind ganz klar Männer, die äußern sich auch männlich mit männlichen stereotypen Sätzen und sehen aber irgendwie sehr, sehr soft aus. Das gibt’s auch eher in der metallischen Ecke. Nicht bei Death Metal, aber bei…ich nenn das jetzt mal Gruft-Rock/Vampir-Rock. Da spielt das aber auch überhaupt keine Rolle. Es ist jetzt nicht unbedingt so, dass sich die Männer sehr stereotyp feminin anziehen oder umgekehrt, Frauen besonders männlich. Aber bei der gesamten Inszenierung spielt gender überhaupt keine Rolle. Also ich sag mal ein Beispiel, wie es nicht ist: Wenn du mal Freddy Mercury anschaust in dem Video „Who wants to live forever“. Da ist er ja eine Tucke vor dem Herrn. Tuckiger geht’s nicht mehr. Aber er ist halt trotzdem ein tuckiger Mann. Oder bei „I want to break free“, da siehste das auch. Da hat er einen Staubsauger in der Hand und ist als Frau angezogen, ist halt tuckig und tuntig, ist aber einfach ein Mann. Man weiß halt, das ist ein schwuler Mann. Und das ist nicht so bei Gruftis. Da ist es egaler. Das spielt einfach keine Rolle. Also zum Beispiel aus der Mittelalter- und romantic Ecke, wo man das noch eher vermuten würde mit den Geschlechtsstereotypen: Da haben die Männer sehr oft Röcke an. Also ich würde sagen, in der Ecke, wo man noch am ehesten möglicherweise konventionelle gender-Muster annehmen könnte, laufen die meisten Männer mit Röcken rum, so relativ gesehen (lacht). Also so gese-hen, hat es einfach keine Priorität.
Empfindest du das Geschlechterverhältnis als ausgewogen?
Völlig ausgewogen. Das hängt natürlich auch ein bisschen von der Musikrichtung ab. Bei EBM, wie gesagt eher stampfende und maschinenartige Rhythmen mit druckvollem Gesang, haste mehr Männer. Und bei ´ner Band, wo übergewichtige Sängerinnen das Leid der Erde spüren, haste mehr Frauen. Aber das hängt auch mit der Altersschichtung zusammen. Also man kann nicht nur sagen Männer und Frauen, sondern muss sich auch fragen wie alt sind die denn. Und die Mädchen, die leiden, sind halt Mädchen. Das sind dann 30 Jahre Altersunterschied. Und bei den EBMlern hast du über 40-jährige Männer. Man muss auch das in Betracht ziehen und auch deren soziokulturellen und sozioökonomischen Hintergrund. Meiner Meinung nach würde das von außen wie gender-geschichtet aussehen, aber von innen hat das meiner Meinung nach wenig damit zu tun, sondern eher mit soziokulturellen Faktoren, die sich hinterher natürlich auch in gender ausdifferenzieren können. Aber das ist nicht die Ursache des Ganzen, sondern das ist eher (überlegt)…das Fettauge, was oben drauf schwimmt. Nicht die Suppe.
Gibt es aber einen Unterschied zwischen früher und heute?
Ja das ist natürlich ein bisschen verzerrt dadurch, dass die Leute, die viel fotografiert haben und quasi die Szenewächter sind, die den Ernst und die Energie und von mir aus, Aggression ist das falsche Wort, das spielt keine große Rolle außer bei ein paar Bands. Aber das sind natürlich Männer. Das heißt, wenn du heute fragst, es gibt so ein paar Leute, die haben von Anfang an fotografiert. Das waren aber Männer, weil Fotografieren, warum auch immer, vielleicht weil es ein bisschen technisch ist, eher ein männliches Hobby ist. Tendenziell. Und deswegen kann es bisschen zur Verzerrungen führen, weißte. Dass man heute denkt, früher waren es mehr Männer. Da bin ich mir aber gar nicht so sicher. Ich denke mal das ist heutzutage kaum noch rauszukriegen. Ich kann dir mal ein Beispiel sagen: Also ganz früher in den 80ern, auch in der DDR schon, da haben sie natürlich viel aus dem Punk abgeleitet. Haben sie angefangen die dann so hoch zu hochtoupierten Frisuren zu machen, was Bela B. von den Ärzten am Anfang auch noch hatte und dann teil-weise auch mit Iros zu kombinieren, was natürlich aus dem Punk kam. Und das wurde dann fotografiert. Das haben dann, zumindest auf den fotografischen Dokumenten, häufiger Männer getragen.
Was auch immer das bedeutet. Vor allen Dingen, das sollte man auch noch sagen: Dadurch, dass ja Gruftis durchaus auch in der Subkultur sich regelmäßig treffen, zum Beispiel immer am so und so vielten Dienstag oder, was ich sagte, Pfingsten auf der Domplatte oder jeden ersten Dienstag in dem und dem Jugendzentrum, früher jetzt ´ne. Da war ja nichts, was zum ausgendern geeignet war, also nichts von der Inszenierung. Da gab’s ja keine Flyer oder Poster. Oder wie gesagt die Modeindustrie hat bis heute nicht einen Millimeter rein gemacht in die Szene. Deswegen hatte auch keiner mit so gender-Inszenierungen Gedanken daran verschwendet. Also die DJ’s sind fast immer Männer zum Beispiel, aber das haste in der Techno-Szene auch. Das kann einfach damit zusammenhängen, dass die ein bisschen extrovertierter oder so sind. Aber ich denke die Frage ist fast nicht zu beantworten. Also auf den Festivals, die ich gesehen habe, war ein völlig ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Mit dem wichtigen Zusatz, dass die Leute da auch ihre Sexualität als so selbstverständlich wahrnehmen, dass du jetzt nicht von Männern und Frauen reden kannst. Du redest vom kompletten Spektrum. Bisexuelle, Transsexuelle, Polyamorie, SMler, monogame Hete-ros. Das ist da einfach völlig auf dem Tisch. Also ich glaube, kein Mensch würde da auf die Idee kommen, nach “Männern“ und “Frauen“ auszusortieren.
Wie verbreitet ist denn Homo- und Bisexualität in der Szene?
Homosexualität, würd ich sagen, ganz normal. So wie in der Normalbevölkerung. Also das ist auf gar keinen Fall eine Schwulen- oder Lesbenszene, sondern es ist ganz normal verteilt. Die Schätzungen in der Normalbevölkerung gehen ja immer so zwischen 5-10%. Das würde ich auch so sagen in der Gothic-Subkultur. Aber nicht im Metal. Ich klammere da wirklich Metal aus, weil zu Metal kann ich wirklich nichts sagen. Aber die anderen Sachen wie Fetischismus, BDSM, Transsexualität, vor allen Dingen auch solche Sachen, die sind da deutlich überrepräsentiert. Weil das schon sehr früh zu Problemen mit den Eltern, mit der Schule, mit den anderen Kindern besonders in kleinen Dörfern und kleinen Orten führt. Und die orientieren sich natürlich schnell durch diese ständige Ausgrenzung und Traumatisierung, die die erfahren. Die wissen ja noch gar nicht, was los ist. Ein 5-jähriges transsexuelles Kind merkt nur, dass es auf einmal, dass es lieber Autos statt Puppen haben will. Oder die Haare abgeschnitten haben will mit fünf oder sowas. Ja und die findet man dann häufiger in schwarzen Subkulturen. Das denk ich schon. Ich muss aber dazu sagen, dass es dazu keine Untersuchungen gibt. Das ist ´ne Vermutung von mir, eine begründete Vermutung. Aber es gibt keine Studien dazu. (…)
Ich bin im Rahmen meiner Recherche auf folgende Thesen gestoßen: Bei den Frauen in der Szene spielt die Überbetonung der Weiblichkeit eine große Rolle und bei Männern wird Androgynie als Rebellion gegen klassische Männerbilder genutzt. Würdest du diesen Thesen zustimmen oder lässt sich das schwer pauschalisieren?
Bei Frauen ist es auf jeden Fall richtig, dass sie einen außerordentlich unverkrampften Umgang mit weiblicher Körperform und weiblicher Sexualität haben. Das stimmt auf jeden Fall. Also du hast von den hyper-attraktiven Vamps mit den Netzstrümpfen bis zum üppigen Vollweib mit dem Korsett, sodass sich die großen Brüste noch deutlicher abzeichnen unter der Kleidung. Das hast du auf jeden Fall deutlich überbetont in der Szene, aber das interpretier‘ ich positiv. Nämlich die Frauen, die das machen, die möchten so sein. Im Alltag können sie so nicht sein oder viele trauen sich nicht. Manche machen’s ja, wenn sie Freiberufler oder Künstler sind, aber sonst nicht. Und bei den Männern sehe ich nicht den Funken von Rebellion, also null. Aber wirklich von tausenden, aber auch abertausenden intensiven Gesprächen, die ich mit Gruftis führe, auch teilweise privat, aber teilweise auch gezielt, weil ich zwei Kolumnen schreibe, wo ich etwas über Gruftis schreibe. Wo die Leute auch wissen, dass es ein bisschen formelleres Interview ist, so wie wir zwei das jetzt machen. Da habe ich noch niemals, nicht ein einziges Mal, jemals die Begriffe Rebellion, Aufstand, Auflehnung, “anderen was beweisen“, “mir was beweisen“ – das habe ich noch niemals gehört.
Wenn die Leute da androgyn sind, fühlt sich die Umgebung vielleicht provoziert, weil (…) die der Meinung sind, dass man konform sein muss und nicht androgyn sein darf. Oder als Frau der anderen Frau die Augen aushackt, wenn sie größere Brüste hat als man selber und das auch auf der Arbeit sichtbar ist, (…) also diese ganz typischen, auf verklemmten Hass und verklemmten Neid beruhende Aggression und unterdrückte sexuellen Impulse. Die werden nur von außen auf die Szene projiziert meiner Meinung nach. Innerhalb der Szene habe ich noch nie was davon gehört, auch unter Frauen nicht. Zum Beispiel nehmen wir mal das üppige Vollweib, in dem selbstgenähten roten Lederkleid. Fantastisch, zum Niederknien, eine Sensation – das Kleid wie die Frau. Daneben steht jetzt die kindlich wirkende Borderlinerin mit dem Undercut und den tausenden von Piercings, den schmutzigen Springerstiefeln, dem superkurzen Rock und den zerrissenen Netzstrumpfhosen. Die gibt’s. Das sind keine Stereotype. Die laufen absolut so rum. Absolut kein Problem. Entweder, wenn sie sich nicht leiden können, ignorieren die sich. Aber ich hab’s noch nicht erlebt, dass jemals jemand ein Kommentar gemacht hat. Weder hat das dicke traurige, üppige Mädchen die Borderlinerin gedisst, noch hat die Borderlinerin das dicke traurige Mädchen gedisst. Noch nie habe ich das mitbekommen. Das soll jetzt nicht heißen, dass die jetzt nicht auf dieser Tratschebene – auf der menschlichen Tratschebene – das vielleicht mal irgendwie mal machen. Aber ich habe das persönlich noch nie in meinem Leben gehört.
Was aber nicht ausschließen soll, dass es das kleingärtnerische Tratschen gibt. Das gibt’s wahrscheinlich bei allen Menschen. Das trenne ich jetzt aber davon. Ich rede jetzt von dem, was ich persönlich mitbekommen habe. Und ich hab’s noch nie mitbekommen. Und das kann ich vielleicht auch mal sagen: In den Szenen, in denen ich bisschen als Interviewer zu tun hab in den schwarzen Szenen, da leben die Personen, die ich gerade geschildert hab – von den Männern hab ich bis jetzt noch gar nicht geredet – auch in absolut friedlicher Koexistenz. Sie sprechen sich auch nicht an auf ihre Stile, sondern sie sehen es als Ausdruck der Persönlichkeit und hinterfragen das nicht. Die gehen nicht hin und sagen „Sag mal, soll es das und das bedeuten?“ oder „Wo hast du das und das gekauft?“, sondern es wird als Selbstverständlichkeit hingenommen. Auch sexuelle Dinge. Das ist den Leuten völlig egal, ob transsexuell, BDSMler, schwul, irgendwas dazwischen, knallharter monogamer Hetero. Das ist vollkommen egal. Das wird überhaupt nicht thematisiert. Bei den Männern vielleicht noch: Die Hauptströmung ist ja nicht androgyn, sondern das sieht nur auf Fotos so aus. Wenn du hundert Gruftis fotografierst, fällt auf, dass viele davon sich trauen – von außen gesehen – androgyner zu sein.
Aber das heißt ja nicht, dass die in der Normalbevölkerung das nicht eigentlich auch würden. Und ich sag dir mal ein Beispiel: Guck mal wie viele Leute bei der Versicherung mit einem rosa oder hellblauen Hemd rumlaufen. Soll das ein Witz sein? Da krieg ich ´nen Lachkrampf. Und das gilt als absolut in Ordnung. Zeig das mal jemandem in irgendeinem anderen Land. Die Leute lachen sich tot. Die sagen: „Was? In Deutschland gilt es als sehr gut gekleidet zu sein, wenn man ein rosa oder hellblaues Hemd trägt?“ Die kriegen Lachkrämpfe, weil das natürlich total scheiße aussieht und vollkommen absurd ist und Babykleidung ist! Also nur um dir jetzt zu zeigen, dass die Außenwelt ihre unterdrückten Impulse sozusagen (überlegt) …die entzünden sich auf einer Reibfläche, die die Gruftis eigentlich gar nicht bieten wollen.
Die interessieren sich überhaupt nicht dafür, ob sich daran einer reibt oder nicht. Das ist ja das Lustige. Die wollen gar keinen Streit, keine Diskussion, die wollen keinen Zündstoff. Deswegen erzählen ja auch alle Taxifahrer und alle Bürger in Leipzig und alle Kölner, wenn das Amphi Festival ist, wie friedlich alle Gruftis sind. Das Erste, was du von normalen Menschen hörst, wenn die länger Berührung mit Gruftis haben, wie friedlich sie sind. Die lassen sich auch nicht in Streit verwickeln. Wenn du hingehst und sie anbrüllst, gehen die einfach weg. Deswegen auf das Androgyne bezogen: Das ist überhaupt keine Inszenierung, die der Abgrenzung oder Provokation dient, sondern so sind die Menschen einfach. Und ich denke mal der rosa oder hellblaue Hemdträger, die haben auch eine gute Prise Androgynität in sich, wenn nicht sogar noch was ganz anderes.
Hast du es aber schon einmal so empfunden, dass zwischen den beiden Geschlechtern ein Konkurrenzkampf herrscht? So nach dem Motto: Wer sticht am meisten heraus? Wer hat das schönere Outfit? Ich bin nämlich auf ein Zitat gestoßen: „Männer können Frauenkleidung tragen und sofort atemberaubend aussehen, wohingegen wir Frauen Stunden damit verbringen uns fertig zu machen und doch nur genauso aussehen wie jedes andere Mal, wenn wir ausgehen. Es ist einfach so frustrierend.“
Kann ich so nicht bestätigen, weil zumindest die auf den Festivals, auf denen ich bin – ich muss dazu sagen ich geh nicht aufs M’era Luna, das ist in der glühenden Sommerhitze und ich hasse Sonne wie die Pest. Und da läuft auch ziemlich viel Gitarrenmusik und das kann ich auch nicht leiden. Außer Rammstein, aber das ist was anderes (lacht) – und von daher weiß ich nicht, sagen wir mal bei normaleren Grufti-Festivals es ist, die auch mehr ins Rockige gehen. Aber bei den Festivals, die ernste, echte, aufrichtige tiefe Grufti-Festivals sind, da spielt ein Geschlechterkampf überhaupt keine Rolle. Es gibt keine gender-Regeln. Das wäre so als ob du Mensch-ärgere-dich-nicht oder Monopoly spielst und es wird während des Spiels verhandelt, wie die Regeln sind. Und zwar jedes Mal neu, wenn du es aus dem Pappkarton rausholst. Das ist unmöglich, da eine Konkurrenzsituation eintreten zu lassen. Dieses einzelne Zitat von Dir mag gelegentlich stimmen, aber das hat keine Verallgemeinerbarkeit.
Wenn das ´ne Frau war, die das gesagt hat – sagen wir mal die hätte das gesagt bei ´nem Konzert – also es war Mittwochabend und die Grufti-Band tritt auf, in dem schrottigen Schuppen irgendwo in einer kleinen Stadt. Dann gilt das vielleicht. Dass sie sich da vielleicht ein bisschen ärgert und sie sich sagt „Komm, dafür näh‘ ich mir jetzt nicht extra ein Kleid für die zwei Stunden“. Aber wenn die Leute echte Szeneanbindung haben und sich häufig in der Szene aufhalten, auf Partys, mit Freunden, auf Festivals. Es gibt auch noch ganz andere Veranstaltungen, so Steampunk-Veranstaltungen. Die sind teilweise auch sehr klein. Da wäre es vollkommen sinnlos das zu sagen. Das wäre so als ob man sagen würde „Die Griechen haben ein viel schöneres „S“ als wir Deutschen“ und darüber reden würde. Da würde jeder sagen „Sag mal worüber redest du? Hast du Drogen genommen?“ Das ist ja eine völlig schwachsinnige Aussage, das würde ja gar keiner verstehen! Ich stelle mir jetzt gerade vor, wenn ein Mädchen aus einer Grufti-Szene, die ich kenne, das jetzt ernsthaft sagen würde, was du vorgelesen hast. Dann würde jeder sagen „Ja dann zieh dir doch was anderes an, wo du dich wohler mit fühlst“. Dann wäre das Gespräch zu Ende.
Das Geschlecht spielt somit für den sozialen Status auch keine Rolle?
100% nicht, aber ich war gerade auf einer psychoanalytischen Tagung. Deswegen hab ich sozusagen noch ein bisschen diesen „Geist“ da in meinem Hinterkopf (lacht). Und zwar haben die da ein ganz schönes Motiv vorgestellt. Das bezog sich aber auf die Therapiesituation und nicht auf irgendetwas anderes. Die sprachen von Verführung. In diesem Bereich spielt das eine gewisse Rolle, ist aber nicht, was wir normale Menschen mit “Verführung“ meinen. Aber das war ganz lustig, das mal aus einer anderen Sicht zu sehen. Ich sag dir mal ein echtes Beispiel: Ich bin mal mit meiner Exfrau, die sich häufig außerordentlich deutlich sexy angezogen hat, in einer kleinen Stadt in einem anderen Land mit dem Bus gefahren. Sie hat geschlafen und der Typ, der schräg gegenüber saß, also der kleine Gang im Bus war dazwischen. Der saß nicht in derselben Vierergruppe, sondern in der Vierergruppe, die auf der anderen Seite war. Der hat es nicht geschafft, seine Augen von der Strumpfhose runter zu ziehen, also von der Netzstrumpfhose. Das ging nicht.
Ich hab ihn ganz offensiv angeguckt ins Gesicht. Das hat er auch gesehen, dann hat er ganz kurz weggeguckt und dann ging’s nicht mehr und er musste wieder glotzen wie ein völlig unkontrollierter Mensch, der das nicht mehr steuern kann. Der hat die Latte seines Lebens gehabt. Und wenn du zum Beispiel über ein Grufti-Festival gehst, passiert das keinem. Also ich lege meine Hand dafür ins Feuer. Dass ein Grufti in einer hetero, homosexuellen oder sonst für eine Situation jemals denkt „Oh geile Titten! Geiler Arsch! Toller Sixpack! Schöne Hände, tolle Augen.“ Das denkt man in dem Maße, in dem man es auch normalerweise denkt. Aber was für den Außenstehenden bei Gruftis als Überinszenierung gelten könnte und man sagen würde: “Stereotyp gilt es ja, dass Frauen versuchen über Sexualität Macht versuchen auszuüben, wenn es nicht anders geht.“ Das ist bei Gruftis nicht so. Also es ist zwar so, dass sich die Leute dann schön finden. Das ist auch gerade so in der Romantigoth-Ecke.
Sie fühlen sich hässlich, vernachlässigt und das war auch so. Die haben das auch so gesagt bekommen: Du bist hässlich und nichts wert. Das ist auch so und überkompensieren das dadurch vielleicht. Aber in der Szene spielt das nicht die Rolle. Es dient nicht dazu, Menschen an sich zu binden, sondern ich mach‘ das für mich. Ich mache das, weil ich so aussehen möchte und nicht, weil ich mich frage, wie wirkt das auf andere. Also um das Beispiel von vorhin zu nehmen mit dem Bus: Wenn du jetzt dieselbe Person in eine Grufti-Umgebung haben würdest und du würdest den Leuten Augensensoren anlegen – ich hab‘ mal früher mit Augensensoren gearbeitet. Ich hab‘ Psychologie studiert, als ich mein Diplom gemacht hab‘ und da haben wir das gemacht. Da haben wir Augenbewegungen gemessen – ich schwöre dir, dass nicht ein einziger Mensch da auf die Beine, auf den Arsch, auf die Brüste oder sonst was gucken würde. Das passiert einfach nicht, weil es nicht die Inszenierung ist. Das was ankommt bei den anderen ist „Ja die ist, wie sie ist“ aber nicht „Die ist so, weil die irgendwas will von mir oder sonst wem“.
Also wird es als normal hingenommen?
Gar nicht hingenommen. Nicht als normal toleriert, sondern akzeptiert. Die Grundvereinbarung in der Szene ist, wenn du durch die Tür rein kommst, dann bist du wie du bist. Man kann kleingärtnerisch vielleicht abbitchen, das weiß ich nicht. Ich hab’s wie gesagt noch nie mitbekommen, das mag’s aber geben. Ich kann dir auch mal ein anderes Beispiel sagen: Wenn ich Gruftis treffe, auch Metaller übrigens, da kann man die mal mit einschließen, und wir gehen aneinander vorbei zum Beispiel in der Straßenbahn. Dann nicken wir uns halt zu oder zwinkern so einmal mit den Augen. Das ist halt so „Ich habe dich erkannt, schön dass es dich gibt“. Ende. Aber nicht „Geile Klamotten, super sexy. Willst du mit mir ein Bier trinken?“.
Wir kommen jetzt zur letzten Frage: Schätzt du selbst die Szene eher als feminin, maskulin oder gar als geschlechtslos ein und woran machst du deine Entscheidung fest?
Ich sehe die Szene als eine der ganz wenigen Szenen, die…meine Ex-Freundin sagt immer „Man kann sein Innerstes nach außen tragen“ [3]. (...) Das ist so gemeint, dass du das in einem geschützten Raum machen kannst. Also gerade nicht eben im ungeschützten Raum, wo du damit auffällst. Also wenn du mit einer roten Federboa morgens um 9 in der Straßenbahn sitzt, fällst du auf. Wenn du aber mit einem viktorianischen Steampunk-Crossover mit Cybergoth-Elementen durch Leipzig läufst, passiert dir überhaupt nichts. Das Grundlegende ist, du musst unterscheiden zwischen dem Fremdblick: Fühlt sich jemand provoziert, der aber nicht im Geringsten provoziert wurde. Fühlt sich jemand sexuell stimuliert, der aber nicht im Geringsten sexuell stimuliert werden soll und zwar wirklich nicht.
Also nicht als Ausrede, sondern ganz offen und transparent. Und wie ist es von innen. Und von innen ist es so, dass jeder seine soziale, kulturelle und sexuelle Identität vollkommen leben kann, ohne, dass es thematisiert wird. Ich sag dir mal zwei Beispiele, um es deutlicher zu machen: (…). Ich muss nicht erwarten, dass jemand sein Leben lang monogam oder heterosexuell ist. Ich muss nicht erwarten, wenn er einmal Polygamie oder –amorie ausprobiert und das schief geht, dass er polygam bleibt. Ich muss nicht erwarten, dass jemand, der irgendeinen Fetisch hat – Was wäre jetzt noch im gruftigen Bereich? – vielleicht einfach dominant, Submissionskram, irgendwas, mit ´ner Kette am Hals, dass der so bleiben muss. (…). Die meisten Gruftis sind total monogam und kuschelig. Also da die gender nicht definiert sind, ist heterosexuell so ein doofes Wort.
Aber sagen wir mal wie Vögelchen: Es gibt ja auch schwule Pärchen bei Vögel, also die irgendwie als Pärchen gerne zusammen leben. Das diskutieren die Vögel ja auch nicht. (…). Gruftis sagen einfach offen, was sie möchten oder gehen denen aus dem Weg mit denen sie nicht klar kommen. Und Ende des Gesprächs. Du wirst zum Beispiel unter Gruftis, um das auch mal in dem Zusammenhang zu sagen, du wirst auch nie das Problem finden, einer ist Veganer und einer isst Fleisch. Die Mittelalterleute essen eher Fleisch, die Leute aus der harten Romantigoth-Ecke sind vielleicht eher mal Veganer. Das wird überhaupt nicht thematisiert. Das ist nicht wie bei einer normalen Party. Wenn heute bei irgendeiner Hipster-Party irgendeiner sagt „Ich bin Veganer“, dann erklären sofort alle Fleischesser, dass sie ja eigentlich auch Veganer sind, aber sie sind halt auf dem Weg und blabla.
Und dann ist die Party gelaufen. Dann reden fünfzig Leute nur noch über Veganer. Bei Gruftis ist das völlig egal. Ich zum Beispiel gehe immer zu demselben Laden essen, das weiß auch jeder. Vegan in Berlin heißt der, auf dem WGT. Da hat mich noch nie jemand angesprochen. Und die ganzen Mittelalterleute, mit denen ich zusammen dahin gehe, machen noch nicht mal einen Kommentar. Also die sagen noch nicht mal „Bist du Veganer?“, sondern das ist vollkommen wurscht. Oder bei Vampyrtreffen: Die Leute, die eher so in die Werwolfecke gehen, die essen halt alle Fleisch und lieben das. Große Stücke und am besten ohne Gemüse. Und die Weichen und Soften, die eher aus der Vampyrecke kommen, trinken dann echt Absinth und picken an ihren Falafel-Sandwiches rum (lacht). Keiner würde auf die Idee kommen das zu verheimlichen, sich zu entschuldigen, jemand zu missionieren. Das gibt’s einfach nicht. Und dasselbe gilt für sexuelle Sachen und für gender-Sachen.
Mit großem Dank an Isabella Sabina Opalinski und die Dozenten dieser Arbeit für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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