2013 12 09 Zitty: 50.000 Leichen
Quelle: Zitty (Berlin), Das Stadtmagazin des Tagesspiegels, 9. Dezember 2013, Seiten 90 bis 91
Rezension zum Buch Seziert: Das Leben von Otto Prokop
Verlag Das Neue Berlin (Okt. 2013), ISBN 978-3-360-02166-3
50.000 Leichen
Rezension zum Buch "Seziert: Das Leben von Otto Prokop"
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VON LUTZ GÖLLNER
Der DDR-Pathologe Otto Prokop, Österreicher, Lehrer und Wissenschaftler von Weltruf, bekommt endlich die verdiente Würdigung: eine Biografie, geschrieben von Mark Benecke
Aus der zeitlichen Entfernung betrachtet wird jedes Bild unscharf. Der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke, stark tätowierter Autor populärwissenschaftlicher Bücher, Radio Eins-Kolumnist mit ganz viel schwarzem Humor und – nicht zuletzt! – Kandidat der „Titanic“-PARTEI hat ein Buch geschrieben über Otto Prokop, jenen Österreicher, der jahrzehntelang die Rechtsmedizin der Charité leitete. Und obwohl Benecke und Prokop sich kannten (ein sehr lustiges Bild im Umschlag des Buches beweist das) und Beneckes Recherche vorbildlich ist, bleibt der Professor nicht greifbar, schemenhaft, geheimnisvoll.
Man muss sich an den Fakten entlang hangeln. Otto Prokop, geboren 1921 in St. Pölten. Der Krieg unterbrach sein Medizinstudium, das er 1948 in Bonn beendete. In den folgenden Jahren machte sich Prokop einen Namen mit wissenschaftlich sehr eleganten Arbeiten zu den Themen „Mord mit Hilfe von Tierhaaren“ und Blutgruppenmerkmalen in deutschsprachigen Gebieten. 1956 schließlich erhielt Prokop den Ruf an die Berliner Charité – dem Arbeiter- und Bauernstaat rannten die Wissenschaftler im Heerscharen davon –, ein Jahr später übernahm er dort die Leitung der Rechtsmedizin.
In Ost-Berlin muss ein weltgewandter Österreicher, der sich Zeit seines Lebens stilsicher kleidete, eine umfassende humanistische Bildung hatte und mit einer Ader für Sarkasmus ausgestattet war, eine faszinierende Figur gewesen sein. Bis zu seiner Eremitierung im Jahr 1987 bildete Prokop 27 Habilitanten aus, mehr als die meisten Naturwissenschaftler, sezierte 50.000 Leichen, schrieb mehr als 60 Bücher, darunter das heute noch gültige Standardwerk zur Gerichtsmedizin, 600 kleinere wissenschaftliche Aufsätze und hielt 500 große Themenvorträge. Seine Forschung auf den Gebieten der Blutgruppenkunde und Genetik brachte der DDR internationale Reputation ein, seine Vorlesungen in Berlin wurden mit Flugblättern an Bäumen rund um die Universität angekündigt und waren immer überfüllt.
Nach der Wende sank die Dunkelheit über den stets fliegetragenden Wissenschaftler hinab. Zwar kam er noch täglich in sein Büro in der Hannoverschen Straße, aber mit dem eigenen Bedeutungsverlust in der neuen Zeit kam Prokop schlecht zurecht. Jetzt bestraften die Sieger der Geschichte den ideologielosen Österreicher, der in jedem Text über ihn Wert darauf legte, er sei „nie Mitglied einer Partei“ gewesen.
„Er war ein Stern“, beschreibt Mark Benecke im Interview seinen älteren Wissenschaftskollegen poetisch, „aber den meisten Menschen sind Sterne nun mal egal; die funkeln halt da draußen.“
Viele der Unschärfen, die Mark Benecke wohl auch ganz bewusst im Verschwommenen lässt, kann man mit gesunden Menschenverstand erklären, etwa: Warum nur lebt jemand freiwillig in der DDR, zumal wenn er als Österreicher jederzeit die Grenzen wechseln kann? Da spielt wohl die akademische Eitelkeit eine Rolle, schließlich wurde man nicht so ohne weiteres mit 36 Jahren Institutsdirektor. Dazu kam, dass sich Prokop als „Ostmarker“ in der Wehrmacht wie ein Deutscher zweiter Klasse gefühlt hatte und das Kriegsende in einem amerikanischen Lager als komplett chaotisch erlebte. Da bot ihm die akademische Karriere im Osten wohl auch ein Stück Heimat.
Aber wie ging Prokop mit den Ungerechtigkeiten im Osten um, mit der politischen Unterdrückung und der ständigen Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit? „Ich würde es nicht Anpassung nennen“, beantwortet Benecke diese Frage, „aber diese DDR-Schizophrenie, die hat er mitgespielt. Er hat versucht, ein guter Lehrer zu sein.“ Dazu gehört auch Prokops fast schon fanatischer Kampf gegen Parawissenschaften. Wünschelrutengänger, Homöopathie, Akupunktur, überhaupt alternative Medizin, das alles war ihm ein Gräuel. Prokop summierte das unter dem Stichwort „Nonsens-Wissenschaft“.
In der realen Welt ging Prokop den Pakt mit dem Teufel ein, arbeitete mit der Stasi zusammen. Gleichzeitig spielte er immer ein eigenes Spiel, kopierte Akten und versteckte sie bei sich im Safe. Benecke erwähnt in seinem Buch mehrere bekannte Kriminalfälle, bei denen Prokop an den Ermittlungen beteiligt war, darunter auch den Tod des Grenzsoldaten Egon Schultz, der im Kugelhagel der eigenen Leute starb. Die Akte wurde natürlich kassiert, Prokop protestierte nicht. Die Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Goettle, die für ihren Band „Experten“ 2004 ein Prokop-Porträt geschrieben hatte, berichtete von merkwürdigen Riten: Vertrauliche Gespräche führte Prokop auch nach der Wende bevorzugt bei voll aufgedrehtem Radio, über brisante Fälle erging er sich nur in Andeutungen. „Er wusste Sachen“, erzählt Goettle in Beneckes Buch, „ich bin mir ganz sicher. Er musste aus ganz vielen Gründen Schiss haben.“
Diese Haltung begegnete Benecke auch bei seiner Recherche. Bekannte von Prokop zogen ihre Zusage zur Kooperation zurück, verschwanden von der Bildfläche, waren nicht mehr zu erreichen. Auch im 25. Jahr der deutschen Einheit, so scheint es, sitzen viele Verwundungen tief. Ein Buch wie das von Benecke, das einerseits voller Bewunderung und Zuneigung ist, sich dem Thema aber nicht unkritisch nähert, kommt spät, aber nicht zu spät.
Mit herzlichem Dank an Lutz Göllner und die Redaktion für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
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