2012-10 profil: Das Kartenhaus des Lebens
Quelle: profil, Nr. 44/2012 vom 29.10.2012, Seiten 82 bis 83
Das Kartenhaus des Lebens
Wie der Körper Schritt für Schritt den Dienst versagt: die Biologie des Todes.
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VON JOCHEN STADLER
Für den Notarzt Christoph Rötzer beginnt der Tod ein paar Minuten, nachdem das Herz stehen geblieben ist. Viel mehr Zeit bleibt ihm nicht, um seine Patienten in die Welt der Lebenen zurückzuholen. "Der kritische Punkt ist das Gehirn. Wenn der Kreislauf zum Erliegen kommt oder die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn abgeschnitten ist, läuft die Zeit“, sagt Rötzer. Nach vier bis fünf Minuten entstünden im Hirn durch Abbauprozesse und Sauerstoffradikale irreparable Schäden. Nach etwa zwanzig Minuten ohne Sauerstoff sei nach einer Wiederbelebung mit schwersten Hirnschäden zu rechnen. Es sei denn, das Opfer ist im Eis eingebrochen oder unter einer Lawine verschüttet gewesen und der Körper stark unterkühlt. Denn bei niedrigen Temperaturen laufen Stoffwechselprozesse im Körper sehr viel langsamer ab - man stirbt nahezu in Zeitlupe.
"Steht der Kreislauf still, nennt man das den klinischen Tod, dieser kann aber durch erfolgreiche Reanimation gleichsam rückgängig gemacht werden“, erklärt der Chirurg und leitende Notarzt beim niederösterreichischen Roten Kreuz. Mit einer Herzmassage könne man den Übergang vom klinischen Tod ins Jenseits beträchtlich verzögern respektive stoppen, deshalb sei es wichtig, in einer solchen Situation sofort damit zu beginnen.
Wenn jedoch das Gehirn abstirbt, ist auch der Rest des Körpers todgeweiht, und ein Organ nach dem anderen versagt den Dienst. Man könne die Organe aber noch eine Zeit lang künstlich am "Leben“ erhalten und damit andere Menschen retten, erklärt der Transplantationschirurg Florian Iberer von der Medizinischen Universität Graz. Sie versorgen vielleicht bald einen Lungen-, einen Herz-, zwei Nieren-, einen Leber- und einen Dünndarmempfänger.
Für Rechtsmediziner und Biologen tritt der Tod erst später ein, sagt der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke. Sichere Anzeichen für den so genannten "biologischen Tod“ seien etwa Totenflecken, die bereits nach zwanzig Minuten auftreten. Das Blut sinkt nach dem Exitus relativ schnell dorthin, wo die Schwerkraft es hinzieht. "Liegt der Tote auf dem Rücken, sind auch die Totenflecken auf dem Rücken, es gibt aber weiße Aussparungen an jenen Stellen, an denen er aufliegt“, so Benecke. Am Anfang verschieben sie sich noch, wenn man die Leiche dreht, voll ausgeprägte Totenflecken verfestigen sich aber schließlich.
Ein wenig später setzt die Totenstarre ein, Gelenke und Muskeln werden allmählich steifer, so Benecke. Nach spätestens sechs Stunden ist sie völlig ausgeprägt. Schließlich beginnt sich der Körper zu zersetzen. Daran sind die körpereigenen Enzyme genauso wie Bakterien schuld, welche den Leichnam besiedeln. Diese Selbstzersetzung des Körpers geht durch Verdauungsenzyme und gesteuerte Auflösungsprozesse in den Zellen vonstatten, erläutert Benecke: "Dort wird ständig irgendetwas auf-, um- oder abgebaut, und wenn eine Zelle nicht mehr richtig funktioniert, ist das, als wäre ein Säurefass leck.“ Das geschieht im ganzen Körper und führt hauptsächlich zu einer Gewebeerweichung. Außerdem tragen Bakterien, die zuvor friedlich den Darm besiedelten oder von einer harmlosen Infektion stammen, ihren Teil dazu bei.
"Verrückterweise wird auch das Blut umso flüssiger, je länger die Leiche liegt“, so Benecke. Die Leute haben dies früher als Vampirzeichen gedeutet, wenn bei einer Exhumierung das Blut der Leiche nicht geronnen war. Abgesehen von kleinen Gerinnseln sei Leichenblut immer flüssig, erklärt er. Auch dies sei auf bakterielle Zersetzung zurückzuführen.
Ein Märchen sei übrigens, dass bei Toten Haare und Bart noch ein paar Tage wachsen. Die Haare erscheinen einfach nur länger, wenn sich die Haut einer Leiche zusammenzieht. "Das dauert aber einige Zeit, weil die Haut dazu eintrocknen muss“, so Benecke.
Der Kriminalbiologe vergleicht das Leben mit einem Kartenhaus: "Aus biologischer Sicht ist ein Mensch ein Körper im Fließgleichgewicht.“ Man nimmt Energie durch die Atmung und Nahrung auf und gibt sie etwa als Wärme, Schweiß, Urin und Kot ab. "Mit der Energie werden gewisse biologische und chemische Abläufe betrieben, doch die kollabieren beim Tod komplett.“ Damit würde die Balance zerstört - und das Kartenhaus stürzt ein.
Mit herzlichem Dank an Jochen Stadler und die Redaktion für die Erlaubnis zur Verwendung.
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