2012-10 Joerimann news: Organisation erquickt, solange man selbst erquickt ist
Quelle: Jörimann news, Ausgabe 02, Oktober 2012
Organisation erquickt, solange man selbst erquickt ist.
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Die Welt liegt ihm zu Füssen, wenn auch in nicht immerzu schöner Art und Weise. Mark Benecke, weltbekanntester
und profiliertester Forensiker sieht oft beispiellose Abgründe. Doch seine organisatorische
Sicht ist und bleibt geschärft.
Der bekannteste und profilierteste Kriminalbiologe hält überall auf der Welt Vorträge, schreibt Best-
seller, doziert, musiziert, tierschützt,
bildet aus, politisiert und berät – etwa Regierungen. Er, der Biologie, Zoologie und Psychologie stu-dierte, unterhält seit Jahren seine eigene Radiosendung und gehört zu den wenigen, die sowohl Hitlers als auch Brauns Schädel
wie Zähne untersuchen durften. Dipl.-Biol. Dr. rer. medic., M.Sc., Ph.D. Mark Benecke ist selten
zu Hause, im Labor oder Büro, dafür rund 250 Tage im Jahr un-
terwegs. Egal, ob es sich um Polizei(-Akademien), TV-Sender, Wissenschaftsräte, Behörden, Tierschutzorganisationen, Journalisten,
Opfer, Kulturanbieter,
Schulen, Täter oder Freunde handelt, alle wollen etwas vom kauzig-sympathischen Genie.
Baumjohann und Termin-Wahnsinn
Selbstredend kommt dieses nicht drum herum, sich eine gute
Organisation einfallen zu lassen. Die Frage, wie einer, der sich
derart viele Hüte aufsetzt, alle Tätigkeiten terminlich in Einklang bringt, beantwortet er sec und mit Humor: «Mehr arbeiten, ab und
an – mitunter grosse – Verluste hin-
nehmen, Gott einen guten Mann sein lassen und gerne Zug fahren.» Nun ernster: «Und extrem unterschiedliche
Leute vernünftig zu verstehen versuchen.» Er ergänzt: «Es ist immer wieder lustig mit meiner Mitarbeiterin Tina Baum-johann den Termin-Wahnsinn zu
durchschreiten. Das ist wie im Ur-
wald und wir sind die Forschungs-
reisenden. Der Urwald bleibt, aber wir bahnen uns den Weg.»
Einfacher gesagt als getan, dennoch
wenden wir uns der nächsten Frage zu. Auf einer Skala von 1 bis 10,
wie imminent ist Organisation beruflich wie privat? Gibt es über-
haupt Unterschiede? Benecke
verneint: «Bei mir ist das untrenn-bar verbunden. An einer Täto-
wiermesse zum Beispiel sitze ich
in der Jury, schreibe darüber eine
Kolumne und stürze mich auch ins Geschehen. Berate ich, anderes
Beispiel, eine Regierung in Süd-amerika, halte ich gleichzeitig Ausschau nach Tätowierern und Tattoo-Aficionados. I’m living in the love of the common people.
Das gilt für Kriminalfälle und alles andere ebenso. Organisa-tion erquickt, solange man selbst erquickt ist.»
Spielregeln braucht’s
Aufheiternd ist auch Manfred Hin-
richs, Philosoph und Schriftsteller, Aphorismus: Die Bürokratie ist das Analphabetentum der Organisation.
Wie steht Mark Benecke dazu? «Bürokratie bedeutet heute meist sinnloses, aufgeblähtes Verwalten. Das muss aber nicht zwingend sein. Bürokratie kann zum einen ebenso von überlegten, vorausschauenden
Vorgesetzten in Sekundenschnelle
effizient werden,
weil alle spuren. Zum andern kann man sie sich zunutze machen. Sagte nicht Marx einst, man müsse versteinerten Dingen ihre eigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu bringen? Ich nehme beispielsweise alles auf Papier aus gedruckt mit, habe es zusätzlich im von uns als Wiki entwickelten Kalendersystem – nicht iCal – auf dem Smartphone. Dieses System optimieren wir dauernd, so dass es
auf alle, die es füttern und nutzen, perfekt passt. Anregungen oder Schwächen werden ohne Gelaber angegangen und basta.»
Organisation und Intelligenz
Apropos Schwächen, wann verkommt
eine Organisation zum Verdruss? «Meine Erfahrung
hat mich insbesondere eines
gelehrt: Fast alle dienstlichen
Sitzungen mit mehr als drei Personen sind ineffizient. Vieles lässt sich durch genaues Zuhören und Ausprobieren, ohne endlose Abstimmung, starten. Klar, das kann nicht universell angewendet werden. Für mich aber ist deutlich,
Systeme, in denen mittelmässige
Menschen ihre Komplexe durch Effekthascherei und Irrläufe aus-
gleichen, leiden daran. Wenn jeder,
der vom Diskutierten keine Ahnung
hat, sich auf die Lippen bisse, liefe vieles schneller und inhaltlich
besser. Ich mache es selbst
so und es bricht mir keinen Zacken
aus der Krone.»
Minderwertigkeiten und Mittelmass
sind gute Stichworte, um das Ge-
spräch abschliessend auf die Intelligenz
zu lenken. Ist der Mensch
gescheit genug, um sein Leben auch
ohne Organisation zu meistern?
Der Ausnahmekönner lachend: «Ha, die menschliche Hybris. Die gesamte Natur ist fraktal – in deterministischem Chaos – strukturiert.
Was jeder einzelne tut oder wie schlau er ist, ist unerheblich. Den kleinen Gestaltungsspielraum sollten wir in erster Linie nutzen, um uns sozial zu verhalten. Leben kann man problemlos ohne Organisation
und Hirn.»
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