2012-09-13/14 Interdisziplinäres Fachforum: Der Fall Mirko: Difference between revisions

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Quelle: Mitteilungen der DGRM, in: Rechtsmedizin 22:506-513, Ausgabe 06/2012<br>
Quelle: ''Mitteilungen der DGRM'' (Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin), in: Rechtsmedizin 22:506-513, Ausgabe 06/2012<br>


=<font color=orange>Interdisziplinäres Fachforum, Fall Mirco</font>=
=<font color=orange>Interdisziplinäres Fachforum: Der Fall Mirco</font>=
==<font color=orange>Bremen, 13.-14.09.2012</font>==
==<font color=orange>Bremen, 13.-14.09.2012</font>==


[Weitere [[All Mark Benecke Publications|Artikel von MB]]] [Artikel [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=Media#Interviews_.26_Articles <font color=lightgrey>über MB</font>]]<br>


'''VON M. BENECKE'''<br>
'''VON K. BAUMJOHANN und M. BENECKE'''<BR>


[Alle [[All Rechtsmedizin|Artikel von MB in der ''Z. Rechtsmedizin'']]]<br>


Das Bremer Fachforum unter der Leitung von Prof. Birkholz und mit Unterstützung des hat sich zu einem zentralen Knotenpunkt des kriminalistischen Austausches in Deutschland entwickelt. Erneut wurde am Beispiel eines einzelnen Tötungsdeliktes – hier dem Mord an Mirco in NRW im Jahr 2010 detailliert und in großer Offenheit dargestellt, wie ein sehr schwieriger Fall technisch, organisatorisch und gedanklich bearbeitet und gelöst werden konnte.<br>


Das Bremer Fachforum unter der Leitung von Prof. Birkholz und mit Unterstützung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter hat sich zu einem zentralen Knotenpunkt des kriminalistischen Austausches in Deutschland entwickelt. Erneut wurde am Beispiel eines einzelnen Tötungsdeliktes – hier dem Mord an Mirco in NRW im Jahr 2010 detailliert und in großer Offenheit dargestellt, wie ein sehr schwieriger Fall technisch, organisatorisch und gedanklich bearbeitet und gelöst werden konnte.<br>


Die Mitglieder der Mordkommission (MK) samt IT (“digitaler Tatort”) und Pressestelle sowie der OFA NRW traten dabei als Team auf, das unter anderem aus den Kollegen Thiel, Müller, Saul, Theveßen und Theißen bestand. In ihren sehr praxisnahen Berichten wurde deutlich, dass die Erfahrung spezialisierter Kriminalisten, die jahre- und jahrzehntelang ihren Dienst versehen, den einzigen Schlüssel zur Bewältigung einer Spurenfülle darstellte, die alle Anwesenden staunen ließ.<br>  
Die Mitglieder der Mordkommission (MK) samt IT (“digitaler Tatort”) und Pressestelle sowie der OFA NRW traten dabei als Team auf. In ihren sehr praxisnahen Berichten wurde deutlich, dass die Erfahrung spezialisierter Kriminalisten, die jahre- und jahrzehntelang ihren Dienst versehen, den einzigen Schlüssel zur Bewältigung einer Spurenfülle darstellte, die alle Anwesenden staunen ließ.<br>  
 


Abgesehen von der notwendigen Personalstärke – auf jeden der 22 Kriminalisten auf der Straße kamen zwei im Backoffice – wurde beispielsweise durch eine aufwändige und sehr clevere Bewertung der Funkzellendaten von Anfang an versucht, nur logische und belegbare Ermittlungsrichtungen zu verfolgen und auf das „Bauchgefühl“ zu verzichten. Ein logisch gestuftes Vorgehen war hier unter anderem deswegen wichtig, da lange vor dem Leichenfund (dieser erfolgte erst nach der Verhaftung des Täters Anfang 2011) schon im Herbst 2010 die Mahd von Maisfeldern mit der akuten Gefahr der Spuren- und Leichen-Zerstörungen bevorstand.<br>  
Abgesehen von der notwendigen Personalstärke – auf jeden der 22 Kriminalisten auf der Straße kamen zwei im Backoffice – wurde beispielsweise durch eine aufwändige und sehr clevere Bewertung der Funkzellendaten von Anfang an versucht, nur logische und belegbare Ermittlungsrichtungen zu verfolgen und auf das „Bauchgefühl“ zu verzichten. Ein logisch gestuftes Vorgehen war hier unter anderem deswegen wichtig, da lange vor dem Leichenfund (dieser erfolgte erst nach der Verhaftung des Täters Anfang 2011) schon im Herbst 2010 die Mahd von Maisfeldern mit der akuten Gefahr der Spuren- und Leichen-Zerstörungen bevorstand.<br>  


Hierbei lieferte die OFA, durch lange Erfahrung geübt, schon früh nicht nur tragfähige Einschätzungen zum möglichen Täter, sondern vor allem auch klassisch-kriminalistische Überlegungen zum möglichen Fundort der Leiche, zu Fahrtrouten und ähnlichem. Einer der vielen interessanten Hinweise der OFA war beispielsweise, dass es sich nicht um einen homosexuellen Täter handeln müsse, sondern ebenso gut ein heterosexueller Mann in Frage käme, der aus innerem und zeitlichem Druck heraus einen erweiterten Opferkreis wählen könnte. Dies war auch so.<br>  
Hierbei lieferte die OFA, durch lange Erfahrung geübt, schon früh nicht nur tragfähige Einschätzungen zum möglichen Täter, sondern vor allem auch klassisch-kriminalistische Überlegungen zum möglichen Fundort der Leiche, zu Fahrtrouten und ähnlichem. Einer der vielen interessanten Hinweise der OFA war beispielsweise, dass es sich nicht um einen homosexuellen Täter handeln müsse, sondern ebenso gut ein heterosexueller Mann in Frage käme, der aus innerem und zeitlichem Druck heraus einen erweiterten Opferkreis wählen könnte. Dies war auch so.<br>  


Das in Amtshilfe hinzugezogene LKA Hessen unter der Teamleitung von Harald Schneider stemmte einen zumindest mir bislang noch nie bekannt gewordenen Aufwand, als es ab dem 27. Dezember 2010 gut 2500 Hautschuppen von der vom Täter im Freien verstreuten Bekleidung des Opfers asservierte (reine Zeit für die Asservierung von Hautschuppen: drei Wochen mit drei technischen Assistenten) und DNA typisierte. Nur insgesamt sieben (!) Hautschuppen stammten dabei von drei verwandten Personen – wie sich später herausstellte, vom Täter und seinen Söhnen, deren abgeschilferte Haut an der Bekleidung des Vaters haftete und so verschleppt worden war. Das Verfahren wird von Kollegen Schneider übrigens auch als “hot flakes for cold cases” (siehe auch gleichnamige Veröffentlichung im Int J Legal Med) angewendet.<br>


Eine weitere spannende Besonderheit lieferte die Arbeit von Kollegin Braun, ehemalige Leiterin des Bereiches für forensische Phonetik am BKA, heute Professorin an der Universität Trier, die in einem experimentellen Verfahren zusammen mit den Ermittlern, Studierenden sowie den echten Zeugen, die einen sehr lauten Schrei gehört hatten, die Richtung ermittelte, aus der dieser Schrei gekommen war. Hierbei wurde nicht gerechnet, sondern aufwändig im Feld experimentiert, und zwar unter Einbeziehung der echten Räume, in denen die Zeugen ihre Wahrnehmungen gemacht hatten.<br>  
Das in Amtshilfe hinzugezogene LKA Hessen stemmte einen zumindest mir bislang noch nie bekannt gewordenen Aufwand, als es ab dem 27. Dezember 2010 gut 2500 Hautschuppen von der vom Täter im Freien verstreuten Bekleidung des Opfers asservierte (reine Zeit für die Asservierung von Hautschuppen: drei Wochen mit drei technischen Assistenten) und DNA typisierte. Nur insgesamt sieben (!) Hautschuppen stammten dabei von drei verwandten Personen – wie sich später herausstellte, vom Täter und seinen Söhnen, deren abgeschilferte Haut an der Bekleidung des Vaters haftete und so verschleppt worden war. Das Verfahren wird von einem Kollegen übrigens auch als “hot flakes for cold cases” (siehe auch gleichnamige Veröffentlichung im Int J Legal Med) angewendet.<br>
 
 
Eine weitere spannende Besonderheit lieferte die Arbeit der ehemaligen Leiterin des Bereiches für forensische Phonetik am BKA, heute Professorin an der Universität Trier, die in einem experimentellen Verfahren zusammen mit den Ermittlern, Studierenden sowie den echten Zeugen, die einen sehr lauten Schrei gehört hatten, die Richtung ermittelte, aus der dieser Schrei gekommen war. Hierbei wurde nicht gerechnet, sondern aufwändig im Feld experimentiert, und zwar unter Einbeziehung der echten Räume, in denen die Zeugen ihre Wahrnehmungen gemacht hatten.<br>
 
 
Den rechtsmedizinischen Teil deckte eine weitere Kollegin ab, die sich für einen möglichen Einsatz unter anderem mit einem insektenkundlichen Kit und Gummistiefeln, die in ihrem Auto für alle Fälle lagen, schon vorbereitet hatte und dann tatsächlich aus dem Stand heraus zum Fundort der Leiche gerufen wurde. Obwohl keine Knochenscharten gefunden wurden und die zur Bestimmung von Druck auf den Hals interessanten Gewebeteile fehlten, konnte doch immerhin eine der drei Kern-Versionen des Täters zur Tötung (Schwitzkasten, Mund zuhalten oder Strangulation) als am wahrscheinlichsten dargestellt werden.<br>  


Den rechtsmedizinischen Teil deckte Britta Gahr ab, die sich für einen möglichen Einsatz unter anderem mit einem insektenkundlichen Kit und Gummistiefeln, die in ihrem Auto für alle Fälle lagen, schon vorbereitet hatte und dann tatsächlich aus dem Stand heraus zum Fundort der Leiche gerufen wurde. Obwohl keine Knochenscharten gefunden wurden und die zur Bestimmung von Druck auf den Hals interessanten Gewebeteile fehlten, konnte doch immerhin eine der drei Kern-Versionen des Täters zur Tötung (Schwitzkasten, Mund zuhalten oder Strangulation) als am wahrscheinlichsten dargestellt werden.<br>


Einen Blick auf die Täterpsyche lieferten – auch angesichts der wechselnden Aussagen des Täters zum Tatablauf – nicht Psychologen oder Psychiater, sondern die MK selbst durch einen der auch bei der Verhaftung anwesenden Vernehmungsbeamten. Hierbei wurde deutlich, dass der von seinen drei ehemaligen Ehefrauen als ruhig und freundlich geschilderte Täter trotz eines Geständnisses immer noch Teile des Handlungsablaufes kaschiert und variiert.<br>  
Einen Blick auf die Täterpsyche lieferten – auch angesichts der wechselnden Aussagen des Täters zum Tatablauf – nicht Psychologen oder Psychiater, sondern die MK selbst durch einen der auch bei der Verhaftung anwesenden Vernehmungsbeamten. Hierbei wurde deutlich, dass der von seinen drei ehemaligen Ehefrauen als ruhig und freundlich geschilderte Täter trotz eines Geständnisses immer noch Teile des Handlungsablaufes kaschiert und variiert.<br>  


Obwohl MK-Leiter Thiele überrascht darüber war, dass selbst die Verteidigung vor Gericht die gute Arbeit der Polizei lobend anerkannte, bewies die Tagung, dass eine moderne, streng interdisziplinäre, auch LKA-übergreifende Bearbeitung eines Falles, der leicht in einem Meer aus objektiven Spuren und leicht als subjektiv anzusehenden Hinweisen ertrunken wäre, eine sehr stringente, sichere und vielfach abgesicherte Ermittlung gewährleistete.<br>  
 
Obwohl der MK-Leiter überrascht darüber war, dass selbst die Verteidigung vor Gericht die gute Arbeit der Polizei lobend anerkannte, bewies die Tagung, dass eine moderne, streng interdisziplinäre, auch LKA-übergreifende Bearbeitung eines Falles, der leicht in einem Meer aus objektiven Spuren und leicht als subjektiv anzusehenden Hinweisen ertrunken wäre, eine sehr stringente, sichere und vielfach abgesicherte Ermittlung gewährleistete.<br>  
 


Mit nach Hause nahmen die TeilnehmerInnen zudem, dass ein offener Umgang mit der Presse, auch Wünschen nach personalisierten Geschichten über die Arbeit des Teams und Ideen des bilderhungrigen Fernsehen – stets in enger Abstimmung mit den Zielen der Ermittler und stets durch die Hände eines einzigen Pressesprechers - erstens das sonst übliche Genörgel betreffs angeblich zu langsamer Polizeiarbeit nicht nur abstellt, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt, und dass zweitens auch eine für den Fall gezielt nützliche Steuerung der Presse, beispielsweise von Suchmeldungen, dadurch kriminalistisch effizient möglich wird.<br>
Mit nach Hause nahmen die TeilnehmerInnen zudem, dass ein offener Umgang mit der Presse, auch Wünschen nach personalisierten Geschichten über die Arbeit des Teams und Ideen des bilderhungrigen Fernsehen – stets in enger Abstimmung mit den Zielen der Ermittler und stets durch die Hände eines einzigen Pressesprechers - erstens das sonst übliche Genörgel betreffs angeblich zu langsamer Polizeiarbeit nicht nur abstellt, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt, und dass zweitens auch eine für den Fall gezielt nützliche Steuerung der Presse, beispielsweise von Suchmeldungen, dadurch kriminalistisch effizient möglich wird.<br>


Der während der Tagung vorgetragenen Einschätzung, dass eine interdisziplinäre Fallbearbeitung wie diese das Vertrauen der BürgerInnen mehr stärkt als LKW-weise Lieferungen von Glanzprospekten, wurde nach gründlicher Prüfung durch die anwesenden FachkollegInnen aus ganz Deutschland und Österreich vollständig zugestimmt.<br>


Der während der Tagung vorgetragenen Einschätzung, dass eine interdisziplinäre Fallbearbeitung wie diese das Vertrauen der BürgerInnen mehr stärkt als LKW-weise Lieferungen von Glanzprospekten, wurde nach gründlicher Prüfung durch die anwesenden FachkollegInnen aus ganz Deutschland und Österreich vollständig zugestimmt.<br><br>
===<font color=orange>Lesetipps</font>===
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* [[All Rechtsmedizin|Alle Artikel von MB in der Rechtsmedizin]]<br>
* [[2003-11-21_Kripo_Telex:_Landesdelegiertentag_BDK_%2819./20._Nov._2003%29_/_Silberne_Ehrennadel_für_Mark_Benecke|Silberne Ehrennadel des BDK für MB]]<br>
* [[01 2014 DGRM: V. Curso Inernational de Entomologia Forense|V. Curso Internacional de Entomologia Forense]]<br>
* [[2013-09-05/06 Interdisziplinaeres Fachforum: SOKO Rechen|Interdisziplinäres Fachforum Rechtsmedizin: Soko “Rechen”: Ein Fall von Kannibalismus]]<br>
* [[2011-09-22/23 Kongress Todesermittlungen: Siebenfachmord von Sittensen|Tagung „Todesermittlungen“ des Interdisziplinären Fachforums Rechtsmedizin]]<br>
* [[2011 Rechtsmedizin: H2O Criminalistics & Pathology Symposium, Magna Graecia Universität|H<sub>2</sub>O Criminalistics & Pathology Symposium, „Magna Graecia“ Universität]]<br>
* [[Rechtsmedizin 2011: 8. Interdisziplinäres Fachforum Rechtsmedizin|8. Interdisziplinäres Fachforum Rechtsmedizin: Der Fall Michelle]]<br>
* [[2017 06 Rechtsmedizin: 69 Jahrestagung der AAFS|69. Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences]]<br>
* [[2010 Rechtsmedizin: Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences|Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences]]<br>
* [[2006 Forensic biology in the courtroom|Forensic biology in the courtroom]] <font size="-2" color="#FF0000" face="helvetica">ENGLISH TEXT</font><br>
* [[1997 Forensisch-kriminaltechnische Etablierung des short tandem repeat (STR)-Systems HUMD8S306: Sequenzierung, vereinheitlichte Nomenklatur und deutschlandweite Populationsdaten|Forensisch-kriminaltechnische Etablierung des short tandem repeat (STR)-Systems HUMD8S306]]<br>
* [[1997 Zur Steigerung der Aussagegenauigkeit bei arthropodenkundlichen Untersuchungen an Faulleichen|Zur Steigerung der Aussagegenauigkeit bei arthropodenkundlichen Untersuchungen an Faulleichen]]<br>
* [[2001 Pressearbeit: Ein Fehler in der Rechtsmedizin - Fallberichte aus den Medienstaedten Koeln und New York|Pressearbeit: Ein Fehler in der Rechtsmedizin - Fallberichte aus den Medienstaedten Koeln und New York]]<br>
* [[2002 How high do flies fly - Forensic Entomology in Suburbia|How high do flies fly - Forensic Entomology in Suburbia]] <font size="-2" color="#FF0000" face="helvetica">ENGLISH TEXT</font><br>
* [[2002 Homosexual Pedophile Serial Killer Juergen Bartsch (1946-1976)|Homosexual Pedophile Serial Killer Juergen Bartsch (1946-1976)]] <font size="-2" color="#FF0000" face="helvetica">ENGLISH TEXT</font><br>
* [[2002 Entomology - Insect and Corpses|Entomology - Insects and Corpses]] <font size="-2" color="#FF0000" face="helvetica">ENGLISH TEXT</font><br>




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Quelle: Mitteilungen der DGRM (Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin), in: Rechtsmedizin 22:506-513, Ausgabe 06/2012

Interdisziplinäres Fachforum: Der Fall Mirco

Bremen, 13.-14.09.2012

[Weitere Artikel von MB] [Artikel über MB]

VON K. BAUMJOHANN und M. BENECKE


Das Bremer Fachforum unter der Leitung von Prof. Birkholz und mit Unterstützung des hat sich zu einem zentralen Knotenpunkt des kriminalistischen Austausches in Deutschland entwickelt. Erneut wurde am Beispiel eines einzelnen Tötungsdeliktes – hier dem Mord an Mirco in NRW im Jahr 2010 detailliert und in großer Offenheit dargestellt, wie ein sehr schwieriger Fall technisch, organisatorisch und gedanklich bearbeitet und gelöst werden konnte.


Die Mitglieder der Mordkommission (MK) samt IT (“digitaler Tatort”) und Pressestelle sowie der OFA NRW traten dabei als Team auf. In ihren sehr praxisnahen Berichten wurde deutlich, dass die Erfahrung spezialisierter Kriminalisten, die jahre- und jahrzehntelang ihren Dienst versehen, den einzigen Schlüssel zur Bewältigung einer Spurenfülle darstellte, die alle Anwesenden staunen ließ.


Abgesehen von der notwendigen Personalstärke – auf jeden der 22 Kriminalisten auf der Straße kamen zwei im Backoffice – wurde beispielsweise durch eine aufwändige und sehr clevere Bewertung der Funkzellendaten von Anfang an versucht, nur logische und belegbare Ermittlungsrichtungen zu verfolgen und auf das „Bauchgefühl“ zu verzichten. Ein logisch gestuftes Vorgehen war hier unter anderem deswegen wichtig, da lange vor dem Leichenfund (dieser erfolgte erst nach der Verhaftung des Täters Anfang 2011) schon im Herbst 2010 die Mahd von Maisfeldern mit der akuten Gefahr der Spuren- und Leichen-Zerstörungen bevorstand.


Hierbei lieferte die OFA, durch lange Erfahrung geübt, schon früh nicht nur tragfähige Einschätzungen zum möglichen Täter, sondern vor allem auch klassisch-kriminalistische Überlegungen zum möglichen Fundort der Leiche, zu Fahrtrouten und ähnlichem. Einer der vielen interessanten Hinweise der OFA war beispielsweise, dass es sich nicht um einen homosexuellen Täter handeln müsse, sondern ebenso gut ein heterosexueller Mann in Frage käme, der aus innerem und zeitlichem Druck heraus einen erweiterten Opferkreis wählen könnte. Dies war auch so.


Das in Amtshilfe hinzugezogene LKA Hessen stemmte einen zumindest mir bislang noch nie bekannt gewordenen Aufwand, als es ab dem 27. Dezember 2010 gut 2500 Hautschuppen von der vom Täter im Freien verstreuten Bekleidung des Opfers asservierte (reine Zeit für die Asservierung von Hautschuppen: drei Wochen mit drei technischen Assistenten) und DNA typisierte. Nur insgesamt sieben (!) Hautschuppen stammten dabei von drei verwandten Personen – wie sich später herausstellte, vom Täter und seinen Söhnen, deren abgeschilferte Haut an der Bekleidung des Vaters haftete und so verschleppt worden war. Das Verfahren wird von einem Kollegen übrigens auch als “hot flakes for cold cases” (siehe auch gleichnamige Veröffentlichung im Int J Legal Med) angewendet.


Eine weitere spannende Besonderheit lieferte die Arbeit der ehemaligen Leiterin des Bereiches für forensische Phonetik am BKA, heute Professorin an der Universität Trier, die in einem experimentellen Verfahren zusammen mit den Ermittlern, Studierenden sowie den echten Zeugen, die einen sehr lauten Schrei gehört hatten, die Richtung ermittelte, aus der dieser Schrei gekommen war. Hierbei wurde nicht gerechnet, sondern aufwändig im Feld experimentiert, und zwar unter Einbeziehung der echten Räume, in denen die Zeugen ihre Wahrnehmungen gemacht hatten.


Den rechtsmedizinischen Teil deckte eine weitere Kollegin ab, die sich für einen möglichen Einsatz unter anderem mit einem insektenkundlichen Kit und Gummistiefeln, die in ihrem Auto für alle Fälle lagen, schon vorbereitet hatte und dann tatsächlich aus dem Stand heraus zum Fundort der Leiche gerufen wurde. Obwohl keine Knochenscharten gefunden wurden und die zur Bestimmung von Druck auf den Hals interessanten Gewebeteile fehlten, konnte doch immerhin eine der drei Kern-Versionen des Täters zur Tötung (Schwitzkasten, Mund zuhalten oder Strangulation) als am wahrscheinlichsten dargestellt werden.


Einen Blick auf die Täterpsyche lieferten – auch angesichts der wechselnden Aussagen des Täters zum Tatablauf – nicht Psychologen oder Psychiater, sondern die MK selbst durch einen der auch bei der Verhaftung anwesenden Vernehmungsbeamten. Hierbei wurde deutlich, dass der von seinen drei ehemaligen Ehefrauen als ruhig und freundlich geschilderte Täter trotz eines Geständnisses immer noch Teile des Handlungsablaufes kaschiert und variiert.


Obwohl der MK-Leiter überrascht darüber war, dass selbst die Verteidigung vor Gericht die gute Arbeit der Polizei lobend anerkannte, bewies die Tagung, dass eine moderne, streng interdisziplinäre, auch LKA-übergreifende Bearbeitung eines Falles, der leicht in einem Meer aus objektiven Spuren und leicht als subjektiv anzusehenden Hinweisen ertrunken wäre, eine sehr stringente, sichere und vielfach abgesicherte Ermittlung gewährleistete.


Mit nach Hause nahmen die TeilnehmerInnen zudem, dass ein offener Umgang mit der Presse, auch Wünschen nach personalisierten Geschichten über die Arbeit des Teams und Ideen des bilderhungrigen Fernsehen – stets in enger Abstimmung mit den Zielen der Ermittler und stets durch die Hände eines einzigen Pressesprechers - erstens das sonst übliche Genörgel betreffs angeblich zu langsamer Polizeiarbeit nicht nur abstellt, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt, und dass zweitens auch eine für den Fall gezielt nützliche Steuerung der Presse, beispielsweise von Suchmeldungen, dadurch kriminalistisch effizient möglich wird.


Der während der Tagung vorgetragenen Einschätzung, dass eine interdisziplinäre Fallbearbeitung wie diese das Vertrauen der BürgerInnen mehr stärkt als LKW-weise Lieferungen von Glanzprospekten, wurde nach gründlicher Prüfung durch die anwesenden FachkollegInnen aus ganz Deutschland und Österreich vollständig zugestimmt.


Lesetipps



Dr. rer. medic. Mark Benecke · Diplombiologe (verliehen in Deutschland) · Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für kriminaltechnische Sicherung, Untersuchung u. Auswertung von biologischen Spuren (IHK Köln) · Landsberg-Str. 16, 50678 Köln, Deutschland, E-Mail: forensic@benecke.com · www.benecke.com · Umsatzsteueridentifikationsnummer: ID: DE212749258 · Aufsichtsbehörde: Industrie- und Handelskammer zu Köln, Unter Sachsenhausen 10-26, 50667 Köln, Deutschland · Fallbearbeitung und Termine nur auf echtem Papier. Absprachen per E-mail sind nur vorläufige Gedanken und nicht bindend. 🗺 Dr. Mark Benecke, M. Sc., Ph.D. · Certified & Sworn In Forensic Biologist · International Forensic Research & Consulting · Postfach 250411 · 50520 Cologne · Germany · Text SMS in criminalistic emergencies (never call me): +49.171.177.1273 · Anonymous calls & suppressed numbers will never be answered. · Dies ist eine Notfall-Nummer für SMS in aktuellen, kriminalistischen Notfällen). · Rufen Sie niemals an. · If it is not an actual emergency, send an e-mail. · If it is an actual emergency, send a text message (SMS) · Never call. · Facebook Fan Site · Benecke Homepage · Instagram Fan Page · Datenschutz-Erklärung · Impressum · Archive Page · Kein Kontakt über soziale Netzwerke. · Never contact me via social networks since I never read messages & comments there.