2011 Studien zur Koelner Kirchengeschichte: Kaeferfunde und andere biologische Spuren im Schrein des Hl Severin
Quelle: Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 40. Band (2011), Seiten 183 bis 190
Käferfunde und weitere biologische Spuren aus dem Holzschrein des hl. Severin
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VON MARK BENECKE
Im Holzschrein des hl. Severin fanden sich nicht nur die in mehrere Gewebe eingewickelten Gebeine, sondern auch Materialien unterschiedlicher Art, darunter überwiegend Knochengrus und zudem eine Reihe weiterer organischer Funde1 sowie 15 Deckflügel von Käfern.2 Geprüft werden sollte ursprünglich, ob es anhand von Bestimmungen der Käferarten möglich ist, die Liegezeit des Toten einzugrenzen3 oder Hinweise auf den Prozess des Fäulniszustands4 zu erlangen. Da dies angesichts der unbekannten Umstände der Lagerung des Leichnams insbesondere der Aufbewahrung zwischen Tod und Beerdigung, aber auch während der späteren Umbettungen sowie Grab- und Schreinsöffnungen - schwierig erschien, wurde die Ausgangsfrage dahingehend umformuliert, ob besagte Käferfunde generell Rückschlüsse zulassen. Die Artbestimmung der Käfer anhand der Deckflügel übernahm dankenswerterweise Frank Köhler. Er bestimmte die Käferarten Nebria salina (Feld-Dammläufer) und Trox scaber (ein Erdkäfer) (Abb. 1,2).
1. Zu Nebria salina (Faimaire & Laboulbène, 1854)
Bei 14 Flügeldecken handelt es sich um die Elytren von Nebria salina, dem Feld-Dammläufer. Diese Käferart gehört zur Familie der Laufkäfer (Carabidae) und ist westeuropäisch-atlantisch in trockeneren Lebensräumen weit verbreitet, zum Beispiel in offenen Kultur-Biotopen, Sand- und Kiesgruben, an trockenen Waldrändern und auf Ackerflächen.5 Die Art ist ein so genannter Kulturfolger. Die erwachsenen Tiere sind glänzend dunkelbraun bis schwarz gefärbt und zeigen deutliche Punktreihen auf den Deckflügeln. Die Insektenforscher Fairmaire und Laboulbène beschrieben die Art 1854 erstmals aus Frankreich (Abb. 3). In Deutschland wurde Nebria salina zum ersten Mal 1919 nachgewiesen.6
Da Nebria salina kein typischer Leichenbesiedler ist, können die Käfer lange nach dem Tod von Bischof Severin in den Holzschrein eingedrungen sein. Möglicherweise waren sie nicht am vertrockneten Leichengewebe, sondern an anderen Inhalten des hölzernen Schreins interessiert. Zudem versteckt sich Nebria salina gern an dunklen Orten. Da es mehrfach Öffnungen des Schreins gegeben hat7, können die Tiere zum einen mit an den Schrein gelegten Gaben unbewusst eingeschleppt worden sein - immerhin kamen auch Knochen von Zwergmäusen zutage8 -, zum anderen ist ein zufälliger Eintrag während der Entnahme von Reliquien möglich. Dabei könnten sich die Käfer zwischen den Textilien vielleicht schlichtweg versteckt haben.
Es kann aber auch sein, dass Nebria salina zur Zeit der Umbettung des hl. Severin m den Holzschrein im 10. Jahrhundert sehr wohl schon im Rheinland lebte, Die Käferart allerdings von früheren Zoologen übersehen wurde.9 Dafür spricht, dass In großen Museumsbeständen der häufIgen und sehr ähnlichen Schwesterart Nebrza brevicollis (Gewöhnlicher Dammläufer) keine verwechselt einsortierten Exemplare von Nebria salina anzutreffen sind.10 Das Fehlen von Nebria salina in deutschen Museumssammlungen erlaubt zumindest die Aussage, dass dieser Laufkäfer im 19. Jahrhundert nicht so häufig und verbreitet in Deutschland auftrat wie im 20. Jahrhundert. Auch in den frühen rheinischen Faunen-Übersichten11 wird die Art nicht erwähnt. Später wird Nebria salina dann allerdings wegen der zahlreichen Nachweise nicht mehr mit der Nennung einzelner Funde angeführt.12 Interessant ist darüber hinaus, dass Nebria salina heutzutage von mehreren Fundorten im Kölner Stadtgebiet gemeldet ist, indes fehlen Meldungen aus der Kölner Innenstadt.13 Damit ist der Nachweis von Nebria salina aus dem Holzschrein des hl. Severin zugleich ein Erstnachweis dieser Käferart von einer Fundstätte im innerstädtischen Gebiet Kölns.
Bei einer Durchsicht der großen Käfersammlung im Bonner Museum Alexander König im Jahr 1996 stellte Frank Köhler - zusammen mit dem Material aus anderen Privat- und Museumssammlungen - für das Rheinland folgende expandierende Verbreitung des Tieres dar14:
Jahrzehnt und belegte Funde in Sammlungen (nicht: Individuen)
- 1920-1929 -- 1
- 1930-1939 -- 0
- 1940-1949 -- 3
- 1950-1959 -- 6
- 1960-1969 -- 27
- 1970-1979 -- 14
- 1980-1989 -- 32
- 1990-1999 -- 41
Vorstellbar, wenngleich weniger wahrscheinlich, wäre auch, dass Nebria saIina den rheinischen Koleopterologen früher unbekannt war oder aufgrund der Häufigkeit der bereits erwähnten Schwesterart Nebria brevicollis (eIn häufiger Waldbewohner) kein Sammelanreiz bestand. Neben dIesem Übersehen der Art ist eine Einwanderungshypothese jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich. Arten mit Verbreitungsschwerpunkt in anderen Faunenreglonen können in Abhänigkeit von Klima und weiteren Faktoren im mltteleuropälschen BereIch Arealschwankungen unterliegen. Arten wandern ein und sterben scheinbar wieder aus. Vielleicht gab es Nebria brevicollis zur Zeit der Umbettung des hl. Severin in den Holzschrein, er starb dann jedoch scheinbar - vielleicht auch während Phasen merklicher Abkühlung im Mittelalter - vermeintlich wieder aus. Zwei vergleichbar gelagerte Fälle konnte Frank Köhler bei Untersuchungen zu subfossilen Käferfragmenten aus einem römischen Brunnen in Weisweiler (ca. 80 n. Chr.) feststellen:15 In der Verfüllung des Brunnens fand er Bruchstücke des Goldlaufkäfers Carabus auratus und eines weiteren Laufkäfers, Pterostichus madidus, die ebenfalls ihr Hauptverbreitungsgebiet in Westeuropa besitzen und für die ursprünglich eine wesentlich spätere (Erst-)Einwanderung angenommen wurde.
Denkbar ist außerdem, dass die Textilien aus dem Holzschrein samt Leiche und Käfern von woanders her ins Rheinland gebracht wurden. Da die Legende behauptet, dass die Leiche des Severin aus dem heutigen Frankreich stamme, ist das ein reizvoller Gedanke, zumal Nebria salina erstmals dort beschrieben wurde.16
2. Zu Trox scaber (L., 1758/1767)
Eine Flügedeck.e stammt von Trox scaber, einem Erdkäfer (Trogidae). Im Englischen heißt dieser Kafer "skin beetle" im Sinne von "an Fellen anzutreffender Kafer". WIe der zuvor beschriebene Käfer Nebria salina ist Trox scaber auch im Rheinland weit verbreitet. Er lebt - entsprechend seines Trivialnamens - vor allem von trockenen Stoffen tierischer Herkunft; dazu gehören alte Felle, Lappen, Leder, Federn und alte, trockene Leichen. Er findet sich jedoch ebenfalls in Baumhöhlen und Vogelnestern.17 Diese Käferart wird in Köln bei allen groß angelegten Untersuchungen, auch in der Innenstadt, angetroffen.18 Der 8-10 mm lange Körper des erwachsenen Trox scheInt WIe von Warzen besetzt, graubraun bis dunkelbraun und wie mit Schmutz verkrustet (Abb. 4).
Obwohl Trox scaber wIe Nebria salina gemäß unserer Erfahrung mit Kriminalfällen nicht zur hiesigen Leichenfauna gehört19, lässt sich sein Fund dennoch zwanglos damit deuten, dass sich der Kafer zu irgendeinem Zeitpunkt von der trockenen Leiche oder von den im Holzschrein gelegten textilen Geweben ernährte.20 Die Tiere sind klein und konnten problemlos bei Öffnungen in den hölzernen Schrein einwandern.21 Dass Trox, der sich durchaus von trockenen Leichen ernähren kann, trotz dieser Vorliebe oftmals nicht an alten Kadavern angetroffen wird, muss daran liegen, dass er sich nicht gegen die Konkurrenz anderer Leichenbewohner durchsetzen kann ("outcompeting"). Dabei sind im späten Leichen-Liegestadium besonders Speck-, Pelz- und Museumskäfer (Dermestiden) zu nennen, die offenbar besser als Trox an mumifiziertes Substrat angepasst sind, und sei es nur durch schnellere Vermehrung.
Mit den im Holzschrein angetroffenen Textilien wurde Trox scaber wohl nicht eingeschleppt, da diese wegen ihrer Hochwertigkeit und teilweisen rituellen Benutzung (liturgisches Gewand) - und daher sorgfältigen Behandlung - wohl keinen zerstörenden Bedingungen ausgesetzt gewesen waren. Es besteht noch die Möglichkeit, dass nicht die erwachsenen Troxe, sondern deren Larven mit Erde eingeschleppt wurden, die an Blumengaben oder schmückenden Pflanzen am Schrein haftete. Die in der Erde enthaltenen Pilze, Algen, Flechten und Bakterien stellen eine Nahrungsquelle für die Larven von Trox scaber dar und werden auch noch heute mit Blumenerde in menschliche Umgebungen gebracht.22 Es ist also möglich, dass nicht die erwachsenen Käfer, sondern deren Larven in den Holzschrein gelangten und dann nicht mehr entweichen konnten oder wollten, bis sie als Erwachsene zwischen den Textillagen starben.23
3. Reste von pflanzlichem Weichgewebe?
An den im Holzschrein des hl. Severin befindlichen Textilien fanden sich millimetergroße amorphe Gebilde, die als mögliche Reste des Weichgewebes (Haut, Muskeln oder ähnliches) der Leiche aufgefasst werden können (Abb. 5). Teile dieser Gebilde wurden nach der Einbettung in Paraffinblöcke in 7,5 mikrometer dünne Schichten geschnitten, entparaffiniert und gefärbt (Abb. 6).24 In erster Linie erwarteten wir, Hinweise auf vertrocknete Haut zu finden. Da Zellkerne aber nicht durch Färbung dargestellt werden konnten, gelang - trotz grober Strukturähnlichkeiten der untersuchten Stückchen mit Haut - kein eindeutiger Be- oder Nachweis auf Haut. Einige weitere, kugelförmige Gebilde stellten sich im Schnitt nach Färbung mit so genannter PAS-Reagens (Schiffsche Reagens- und Periodsäure) als nicht menschlich dar; vielleicht handelt es sich um Pflanzenteile.25
Fussnoten
1 Siehe die Beiträge von Ursula Tegtmeier u. a., von Hubert Berke sowie von Ralf Urz und Ursula Tegtmeier.
2 Frau Dr. Saskia Reibe (wissenschaftliche Assistenz bei der International Forensic Research & Consulting; Köln) und Herr Frank Köhler (Käferkundler; Bornheim), deren Bezahlung die International Forensic Research & Consulting übernahm, beteiligten sich gemeinsam mit dem Autor an der Untersuchung der Käferreste. Untersucht wurden die Käferreste mit Hilfe eines Stereomikroskops (Binokular) Leica Mz 12.5 (Okulare 10fach, End-Vergrößerung 8-100fach) mit aufgesetzter Digital-Kamera Leica DFC320 (3,3 MPixel CCD, 12 bit digitalization/ resolution) und einer Kaltlicht-Quelle Leica (Schott) KL 1500 LCD mit Ringlicht-Blende. Für die Standard-Fotos wurde mit einer Digital-Kompakt-Kamera Panasonic DMC-FX5 mit Bild-Stabilisator und Objektiv Leica DC Vario-Elmarit Asph gearbeitet.
3 Benecke 2001; 2003; 2004; Grote/Benecke 2001; Benecke 2008.
4 Sauser 1995, Sp. 1507-1510; Päffgen 2001/2, S. 275-326; Schaden 1997, S. 3.
5 Koch 1989.
6: Frdl. mdl. Mitt. Frank Köhler.
7Siehe den Beitrag von Joachim Oepen: Die Öffnungen des Severinusschreins zwischen 948 und 1999.
8 Siehe den Beitrag von Huben Berke.
9 Eine der zwei AMS-datierten Käferflügel istz zwischen 780 und 980 n. Chr. einzuordnen; da die Käferflügel ohne Nennung der Art ins 14C-Labor weitergereicht wurden, wird erörtert, dass es sich hierbei möglicherweise um Nebria salina handeln könnte (siehe Beitrag Ursula Tegtmeiner u. a., Fußnote 21).
10 Horion 1941; frdl. mdl. Mitt. Frank Köhler.
11 Roettgen 1911.
12 Koch 1968.
13 Frdl. mdl. Mitt. Frank Köhler.
14 Frdl. mdl. Mitt. Frank Köhler.
15 Köhler 1989.
16 Zum Stand der Forschung im Hinblick auf diese Legende siehe den Beitrag von Bernd Päffgen: Der hl. Severin im Spiegel der frühen historischen Überlieferung.
17 Koch 1991.
18 Franzen 1992; Stumpf 1994.
19 Zum Beispiel Benecke 1998.
20 Uns fehlt allerdings forensisch-entomologisch statistisch auswertbare Erfahrung mit lange mumifizierten Leichen.
21 Von den in Fußnote 9 erwähnten AMS-Datierungen an zwei Käfer-Deckflügeln ergab die zweIte Messung eine chronologische Einordnung zwischen 120 und 350 n. Chr., wobei aufgrund begründeter Überlegungen die Zeit vor 200 n. Chr. ausgeschlossen werden kann; warum in diesem Fall vielleicht die Käferart Trox scaber in Erwägung gezogen werden kann, wird im Beitrag von Ursula Tegtmeier u. a., Abschnitt 2d überlegt.
22 Weidner/Sellenschloh 2003.
23 Dieser Effekt ist uns auch aus Madenzuchten und aktuellen Särgen aus Exhumierungen mit darin eingebrachten Textilschichten (als Versteck) gut bekannt.
24 Die Gewebeschnitte und Färbungen führte Elli Haskamp (Univers!täts-Klinik der Universität zu Köln, Institut für Pathologie, Leitung: Prof. Hans-Peter DIenes) durch, bel der wir uns herzlich bedanken.
25 Nach kritischer Durchsicht der Aufnahmen ist anzumerken, dass den Abbildungen der untersuchten amorphen Gebilde offenbar wesentliche anatomische Merkmale fehlen, die sie als Pflanzenteile ausweisen könnten (z. B. Zellwandstrukturen, Inkrustationen etc.). Dies ist möglicherweise der gewählten Färbe-Methode (PAS-Reagenz) geschuldet, mit der sich pflanzenspezifische Gewebe nicht gesondert herausarbeiten lassen. Der hinweisgebende Sachverständige hält es für denkbar, dass es sich hierbei um Partikel von Kunststoff, Kerzenwachs, Pech, Teer oder Fasern von Fakeln handeln könnte, die bei vergangenen Schrein-Öffnungen dort hinein gelangt sind.
Literatur
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Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
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