2010-05 Kriminalistik: Diskussion: Difference between revisions

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Quelle: ''Kriminalistik'', 5/2010, Seiten 315 bis 316<br>
Quelle: ''Kriminalistik'' 64(5) 2010, Seiten 315 bis 316<br>


=<font color=orange>Replik und Erwiderung</font>=
=<font color=orange>Replik und Erwiderung</font>=
==<font color=orange>Diskussion zu "Tätowierungen und Kriminalität" von Gerhard Schmelz in KRIMINALISTIK 2/2010, S. 102-110</font>==
==<font color=orange>Diskussion zu "Tätowierungen und Kriminalität" von Gerhard Schmelz in KRIMINALISTIK 2/2010, S. 102-110</font>==


[Weitere [[All Mark Benecke Publications|Publikationen von MB]]] [Mehr über [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=All_Mark_Benecke_Publications#All_Tattoo_Pages Tattoos]] [MB's [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=Tattoo Tattoos]] [MB's Kolumne [[All Letzte Worte Tätowiermagazin|Das letzte Wort im Tätowiermagazin]]]<br>
[Weitere [[All Mark Benecke Publications|Artikel von MB]]] [Artikel [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=Media#Interviews_.26_Articles <font color=lightgrey>über MB</font>]]<br>


'''VON MARK BENECKE, DIRK-BORIS RÖDEL und EWELIN WAERZYNIAK'''<br>


'''Von Mark Benecke, Dirk-Boris Rödel und Ewelin Wawrzyniak'''<br>


Die Aussage im o. g. Artikel, dass sich aus Tätowierungen "häufig" und "zweifelsfrei" Rückschlüsse auf das soziale Umfeld ziehen lassen, ist unrichtig und wird durch die vorgestellte Studie nicht gestützt.<br>


Die Aussage im o. g. Artikel, dass sich aus Tätowierungen "häufig" und "zweifelsfrei" Rückschlüsse auf das soziale Umfeld ziehen lassen, ist unrichtig und wird durch die vorgestellte Studie nicht gestützt.<br>


Richtig ist hingegen die ebenfalls aus dem Artikel stammende Aussage, dass "ein (direkter) Zusammenhang zwischen Kriminalität und Tätowierungen (...) nur in Ausnahmefällen" besteht. Wir würden sogar weiter gehen und sagen, dass der Zusammenhang überhaupt nicht nachweisbar ist<br>
Richtig ist hingegen die ebenfalls aus dem Artikel stammende Aussage, dass "ein (direkter) Zusammenhang zwischen Kriminalität und Tätowierungen (...) nur in Ausnahmefällen" besteht. Wir würden sogar weiter gehen und sagen, dass der Zusammenhang überhaupt nicht nachweisbar ist<br>
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Ein Beispiel: Deutlich mehr Studierende, die tätowiert sind, sind auch eher sexuell aktiv (2,5). Gibt es aber einen Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen? Nein, denn der scheinbare Zusammenhang kann viele Gründe haben: Die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Jugendlichen (ein Konservativer wird eher als ein Liberaler Sex vor der Ehe ebenso wie Tätowierungen ablehnen), das Persönlichkeitsmerkmal "Experience Seeking" (Experience Seeker haben mehr Sexualpartner) (12) aus der persönlichkeitspsychologischen Forschung [1] oder sogar die Anzahl der Umzüge (wer früher umzieht, hat mehr Sex) (5). Es ist also völlig unmöglich, ohne Kontrollgruppe herauszufinden, wer warum welches Tattoo hat.<br>
Ein Beispiel: Deutlich mehr Studierende, die tätowiert sind, sind auch eher sexuell aktiv (2,5). Gibt es aber einen Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen? Nein, denn der scheinbare Zusammenhang kann viele Gründe haben: Die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Jugendlichen (ein Konservativer wird eher als ein Liberaler Sex vor der Ehe ebenso wie Tätowierungen ablehnen), das Persönlichkeitsmerkmal "Experience Seeking" (Experience Seeker haben mehr Sexualpartner) (12) aus der persönlichkeitspsychologischen Forschung [1] oder sogar die Anzahl der Umzüge (wer früher umzieht, hat mehr Sex) (5). Es ist also völlig unmöglich, ohne Kontrollgruppe herauszufinden, wer warum welches Tattoo hat.<br>


Ein weiteres Beispiel: Je nach Bundesstaat in den USA sind die meisten tätowierten Jugendlichen gleichzeitig häufige Kirchgänger (5). Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.<br>
Ein weiteres Beispiel: Je nach Bundesstaat in den USA sind die meisten tätowierten Jugendlichen gleichzeitig häufige Kirchgänger (5). Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.<br>
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Die im Artikel genannten "Ausnahmefälle" sind Menschen, die Verbrechen begehen und zufällig auch tätowiert sind. In aller Regel sind Tätowierte aber ganz normale Menschen, wie jede der Hunderten von Tattoo-Conventions der vergangenen Jahre zeigt.<br>
Die im Artikel genannten "Ausnahmefälle" sind Menschen, die Verbrechen begehen und zufällig auch tätowiert sind. In aller Regel sind Tätowierte aber ganz normale Menschen, wie jede der Hunderten von Tattoo-Conventions der vergangenen Jahre zeigt.<br>


Die Anzahl tätowierter Polizisten und Polizistinnen ist nach unserer Kenntnis sogar höher als in anderen Berufen - vielleicht deswegen, weil sich hier Menschen mit Interesse an einer besonderen, oft aufregenderen Tätigkeit zusammenfinden, oder auch, weil es sich um Menschen handelt, die ganz im Gegenteil an besonders starker Struktursicherheit interessiert sind. Man sieht: Es ist wegen der vielen unbekannten Einflüsse unmöglich, hier Ursache und Wirkung festzustellen.<br>  
Die Anzahl tätowierter Polizisten und Polizistinnen ist nach unserer Kenntnis sogar höher als in anderen Berufen - vielleicht deswegen, weil sich hier Menschen mit Interesse an einer besonderen, oft aufregenderen Tätigkeit zusammenfinden, oder auch, weil es sich um Menschen handelt, die ganz im Gegenteil an besonders starker Struktursicherheit interessiert sind. Man sieht: Es ist wegen der vielen unbekannten Einflüsse unmöglich, hier Ursache und Wirkung festzustellen.<br>  
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Durch die mangelnde Beteiligung von Tätowierstudios (nur drei Studios von europaweit vielen tausend Studios haben teilgenommen) und die fehlende Befragung "normaler Menschen" ist selbst eine qualitative Auswertung außerhalb der in der Studie entstandenen Stichprobe - nämlich vorwiegend Delinquenten - nicht möglich.<br>
Durch die mangelnde Beteiligung von Tätowierstudios (nur drei Studios von europaweit vielen tausend Studios haben teilgenommen) und die fehlende Befragung "normaler Menschen" ist selbst eine qualitative Auswertung außerhalb der in der Studie entstandenen Stichprobe - nämlich vorwiegend Delinquenten - nicht möglich.<br>
   
   
Auch, dass als direkte Referenz bloß die "Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia" aufgeführt und als einzige Abbildungs-Quelle verwendet wurde, zeugt von dieser blinden Stelle der Untersuchung. Was haben die Gewohnheiten von Straftätern, die in Russland einsitzen, mit den kulturell und sozial davon völlig unterschiedenen, zentraleuropäischen Verurteilten zu tun? Wie genau setzen sich die beiden Gruppen zusammen, wie grenzen sie sich ab, sind es überhaupt kriminalistisch sinnvoll beschreibbare Gruppen? Warum tragen Hunderttausende Nicht-Krimineller in Deutschland die in der Studie beschriebenen Symbole als Tattoos? <br>
Auch, dass als direkte Referenz bloß die "Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia" aufgeführt und als einzige Abbildungs-Quelle verwendet wurde, zeugt von dieser blinden Stelle der Untersuchung. Was haben die Gewohnheiten von Straftätern, die in Russland einsitzen, mit den kulturell und sozial davon völlig unterschiedenen, zentraleuropäischen Verurteilten zu tun? Wie genau setzen sich die beiden Gruppen zusammen, wie grenzen sie sich ab, sind es überhaupt kriminalistisch sinnvoll beschreibbare Gruppen? Warum tragen Hunderttausende Nicht-Krimineller in Deutschland die in der Studie beschriebenen Symbole als Tattoos? <br>
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Den Leser und Leserinnen könnte der starke Stichprobenfehler und die mangelnde Logik der Studie nicht auffallen. Wir möchten daher die Aussage der Studie, dass "ein Tattoo somit grundsätzlich individuell" ist, noch einmal sehr deutlich unterstreichen: <br>
Den Leser und Leserinnen könnte der starke Stichprobenfehler und die mangelnde Logik der Studie nicht auffallen. Wir möchten daher die Aussage der Studie, dass "ein Tattoo somit grundsätzlich individuell" ist, noch einmal sehr deutlich unterstreichen: <br>
* Tätowierungen sind heutzutage zum weit überwiegenden Teil Ausdruck von Lebensfreude und Gestaltungswillen und bestenfalls ein persönliches Erkennungsmerkmal, so wie ein Schmuckstück oder der Spitzname einer Person.  
 
* Die Zuordnung der Tattoo-Motive "Totenköpfe, Blumen (Rosen), Fabelwesen, Herzen, Schlange, Buchstaben, Drachen, Frauen, Kreuze" zur Kategorie "gewalttätig und/oder bewaffnet" sowie "Tiere, Schriftzeichen, Tribals, Herzen, Fabelwesen, Totenköpfe, Kreuze, Blumen" zu "geisteskrank" zeigt, warum die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind. Wäre dem so, dann wären alle Geisteskranken bewaffnet oder alle Bewaffneten geisteskrank - und tätowiert. Übrigens wären damit auch fast alle Tätowierten mögliche Straftäter, weil die obige Liste die gängigsten Motive von weltweit vielen Millionen von Menschen aufführt. Die weit überwiegende Zahl von ihnen hat noch niemals eine Straftat begangen.  
* Tätowierungen sind heutzutage zum weit überwiegenden Teil Ausdruck von Lebensfreude und Gestaltungswillen und bestenfalls ein persönliches Erkennungsmerkmal, so wie ein Schmuckstück oder der Spitzname einer Person.<br>
* Wir stimmen der - bei Todesermittlungen ohnehin üblichen - Auswertung von Tattoos als individuelles Erkennungsmerkmal natürlich zu. Der im Artikel geforderten Einrichtung einer Datenbank dürfte aber jeder Wert fehlen, weil Tätowierungen mit den meisten in der Studie genannten Motiven mittlerweile - auch unter Polizisten - so weit verbreitet sind, dass der ehemals vielleicht vorhandene (kriminalistisch auswertbare) Symbolgehalt kaum noch ermittelbar ist. Das gilt besonders auch für den abgebildeten Tiger und den Teufel. Dabei handelt es sich um zwei besonders häufige und daher besonders wenig aussagekräftige Tätowierungen (u. a. 11). <br>
 
* Die Zuordnung der Tattoo-Motive "Totenköpfe, Blumen (Rosen), Fabelwesen, Herzen, Schlange, Buchstaben, Drachen, Frauen, Kreuze" zur Kategorie "gewalttätig und/oder bewaffnet" sowie "Tiere, Schriftzeichen, Tribals, Herzen, Fabelwesen, Totenköpfe, Kreuze, Blumen" zu "geisteskrank" zeigt, warum die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind. Wäre dem so, dann wären alle Geisteskranken bewaffnet oder alle Bewaffneten geisteskrank - und tätowiert. Übrigens wären damit auch fast alle Tätowierten mögliche Straftäter, weil die obige Liste die gängigsten Motive von weltweit vielen Millionen von Menschen aufführt. Die weit überwiegende Zahl von ihnen hat noch niemals eine Straftat begangen.<br>
 
* Wir stimmen der - bei Todesermittlungen ohnehin üblichen - Auswertung von Tattoos als individuelles Erkennungsmerkmal natürlich zu. Der im Artikel geforderten Einrichtung einer Datenbank dürfte aber jeder Wert fehlen, weil Tätowierungen mit den meisten in der Studie genannten Motiven mittlerweile - auch unter Polizisten - so weit verbreitet sind, dass der ehemals vielleicht vorhandene (kriminalistisch auswertbare) Symbolgehalt kaum noch ermittelbar ist. Das gilt besond ers auch für den abgebildeten Tiger und den Teufel. Dabei handelt es sich um zwei besonders häufige und daher besonders wenig aussagekräftige Tätowierungen (u. a. 11). <br>
 
Haargenau die in der Studie angegeben Oldschool-Motive sind seit acht Jahren auch die einzigen Stil-Elemente der sehr großen und jedem Jugendlichen bekannten Mode-Marke "Ed Hardy" (2002; seit 2004 "Ed Hardy by Christian Audigier"). Sie wurde von einem der bekanntesten Tätowier-Künstler der Welt - Don Ed Hardy - gegründet, der deutlich mehr Wert auf die künstlerische Komponente als auf subkulturelle Aspekte legt. <br>
Haargenau die in der Studie angegeben Oldschool-Motive sind seit acht Jahren auch die einzigen Stil-Elemente der sehr großen und jedem Jugendlichen bekannten Mode-Marke "Ed Hardy" (2002; seit 2004 "Ed Hardy by Christian Audigier"). Sie wurde von einem der bekanntesten Tätowier-Künstler der Welt - Don Ed Hardy - gegründet, der deutlich mehr Wert auf die künstlerische Komponente als auf subkulturelle Aspekte legt. <br>
Heute werden gerade Stil-Elemente wie ursprünglich "Rache" (Dolch) oder "Kraft" (Tiger) nur noch als Widerhall alter Zeiten verwendet. Die Motive sind mittlerweile massenhaft auf Damentäschchen und Sonnenschutz-Blenden für Autos abgebildet.<br>
Heute werden gerade Stil-Elemente wie ursprünglich "Rache" (Dolch) oder "Kraft" (Tiger) nur noch als Widerhall alter Zeiten verwendet. Die Motive sind mittlerweile massenhaft auf Damentäschchen und Sonnenschutz-Blenden für Autos abgebildet.<br>
Wer mit offenen Augen durch eine beliebige deutsche Stadt oder sogar in Billig-Kleider-Läden geht, wird an einem einzigen Nachmittag dutzende dieser Produkte sehen, deren Träger den ursprünglichen Gehalt der Motive - ob tätowiert oder auf Mode-Produkte gedruckt - oft noch nicht einmal ahnen. <br>
Wer mit offenen Augen durch eine beliebige deutsche Stadt oder sogar in Billig-Kleider-Läden geht, wird an einem einzigen Nachmittag dutzende dieser Produkte sehen, deren Träger den ursprünglichen Gehalt der Motive - ob tätowiert oder auf Mode-Produkte gedruckt - oft noch nicht einmal ahnen. <br>
*Der durch die einseitige Stichprobe ohne Kontrollgruppe konstruierte Zusammenhang zwischen Tätowierungen und Kriminalität (hier: Organisierter Kriminalität, Rechtsradikalismus usw.) war und ist ein reines Artefakt, das schon seit dem neunzehnten Jahrhundert die kriminalistische Gedankenwelt durchgeistert (4, 6-9), <font color=orange>aber bereits seit hundert Jahren in der Fachliteratur widerlegt ist (3, 10 & Ergänzugen).</font> <br>
 
*Der durch die einseitige Stichprobe ohne Kontrollgruppe konstruierte Zusammenhang zwischen Tätowierungen und Kriminalität (hier: Organisierter Kriminalität, Rechtsradikalismus usw.) war und ist ein reines Artefakt, das schon seit dem neunzehnten Jahrhundert die kriminalistische Gedankenwelt durchgeistert (4, 6-9), <font color=orange>aber bereits seit hundert Jahren in der Fachliteratur widerlegt ist</font> (3, 10 & Ergänzugen). <br>
 


Schon 1912 schrieb Wolfgang Hauschild aus dem Pathologischen Institut in Dresden über die damals modischen Studien zu Tätowierten und Kriminalität im der bis heute bestehenden Fach-Zeitschrift "Archiv für Kriminologie" (früher "Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik"): <br>
Schon 1912 schrieb Wolfgang Hauschild aus dem Pathologischen Institut in Dresden über die damals modischen Studien zu Tätowierten und Kriminalität im der bis heute bestehenden Fach-Zeitschrift "Archiv für Kriminologie" (früher "Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik"): <br>


'' "Für den Gang der anthropologischen Untersuchung genügt es nicht, Stichproben zu machen, sondern die Untersuchungen müssen sich auf ein großes, möglichst gleichwertiges Material gründen und zugleich die Individualität des Untersuchten eingehend in Betracht ziehen. <br>
'' "Für den Gang der anthropologischen Untersuchung genügt es nicht, Stichproben zu machen, sondern die Untersuchungen müssen sich auf ein großes, möglichst gleichwertiges Material gründen und zugleich die Individualität des Untersuchten eingehend in Betracht ziehen. <br>


''Die größeren statistischen Erhebungen fußen daher auf ziemlich umfangreichem Material, das entweder Kasernen oder Gefängnissen entnommen ist. Leider haftet infolgedessen diesen Unternehmungen eine gewisse Einseitigkeit an, die leicht zu falschen Schlüssen führen kann. <br>
''Die größeren statistischen Erhebungen fußen daher auf ziemlich umfangreichem Material, das entweder Kasernen oder Gefängnissen entnommen ist. Leider haftet infolgedessen diesen Unternehmungen eine gewisse Einseitigkeit an, die leicht zu falschen Schlüssen führen kann. <br>
Wenngleich die Tätowierten in den niederen Volksschichten vorherrschen, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass sich in den oberen Schichten der Bevölkerung nicht gleichfalls - und zwar nicht wenig! Tätowierte finden lassen. " ''<br>
Wenngleich die Tätowierten in den niederen Volksschichten vorherrschen, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass sich in den oberen Schichten der Bevölkerung nicht gleichfalls - und zwar nicht wenig! Tätowierte finden lassen. " ''<br>


(Nachträgliche Ergänzung; nicht im Original-Artikel enthalten; M.B., 16. April 2013, mit Dank an Achim Reisdorf / Bericht des Gefängnis-Arztes von Hannover, Dr. Berger aus dem Jahr 1901:)
(Nachträgliche Ergänzung; nicht im Original-Artikel enthalten; M.B., 16. April 2013, mit Dank an Achim Reisdorf / Bericht des Gefängnis-Arztes von Hannover, Dr. Berger aus dem Jahr 1901:)


'' "Leppmann bestritt ebenfalls die anthropologische EInheit in der Art der eingestochenen Zeichen, er führt die Häufigkeit des Vorkommens von Tätowirungen bei Gefangenen mehr auf äussere, als auf innere Ursachen zurück. (...) Fragt man viel Tätowirte nach dem Warum, Wo, WIe ihrer Tätowierungen, so antworten sie mit einer sehr bezeichnenden Geberde, mit einem Achselzucken, einem Lächeln, als ob sie einem die Stelle aus der Strauss'schen Fledermaus vorsingen wollten: "s'ist mal bei uns so Sitte", "Chacun à son goût.""''<br>
'' "Leppmann bestritt ebenfalls die anthropologische Einheit in der Art der eingestochenen Zeichen, er führt die Häufigkeit des Vorkommens von Tätowirungen bei Gefangenen mehr auf äussere, als auf innere Ursachen zurück. (...) Fragt man viel Tätowirte nach dem Warum, Wo, WIe ihrer Tätowierungen, so antworten sie mit einer sehr bezeichnenden Geberde, mit einem Achselzucken, einem Lächeln, als ob sie einem die Stelle aus der Strauss'schen Fledermaus vorsingen wollten: "s'ist mal bei uns so Sitte", "Chacun à son goût.""''<br>
 


<font color=orange>'''5. Schluss'''</font><br>
<font color=orange>'''5. Schluss'''</font><br>


Die Entscheidung für ein Tattoo, einschließlich der Wahl der Motive, ist seit gut fünfzehn Jahren derart frei und oft auch zufällig bis geschmäcklerisch, dass die kriminalistische Erfassung in Bezug auf deren Symbol-Wert - außerhalb der ohnehin schon seit Jahrhunderten üblichen, sozusagen biometrischen EinzelfaIIbetrachtung (Leichenidentifizierung, Fahndung) - in Datenbanken (vgl. 4) ohne jeden Nutzen und daher fachlich kriminalistisch, aber auch aus psychologischer und kultureller Sicht, als unrichtig, anachronistisch und seit einem Jahrhundert erledigt abzulehnen ist. <br>
Die Entscheidung für ein Tattoo, einschließlich der Wahl der Motive, ist seit gut fünfzehn Jahren derart frei und oft auch zufällig bis geschmäcklerisch, dass die kriminalistische Erfassung in Bezug auf deren Symbol-Wert - außerhalb der ohnehin schon seit Jahrhunderten üblichen, sozusagen biometrischen EinzelfaIIbetrachtung (Leichenidentifizierung, Fahndung) - in Datenbanken (vgl. 4) ohne jeden Nutzen und daher fachlich kriminalistisch, aber auch aus psychologischer und kultureller Sicht, als unrichtig, anachronistisch und seit einem Jahrhundert erledigt abzulehnen ist. <br>


Wir hoffen, mit diesen Hinweisen und dem Bezug auf alte und neue Quellen einen Gedanken-Anstoß in Richtung kriminalistisch aussagekräftigerer, modernerer Studiendesigns bewirken zu können. <br>
Wir hoffen, mit diesen Hinweisen und dem Bezug auf alte und neue Quellen einen Gedanken-Anstoß in Richtung kriminalistisch aussagekräftigerer, modernerer Studiendesigns bewirken zu können. <br>
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Quellen: <br>
Quellen: <br>
(1) Amelang, M., Bartussek, D., Stemmler, G., Hagemann, D. (2006) Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. 6., veJllst. überarb. Auflage, hier: S. 328 ff. (Sensation Seeking) <br>
(1) Amelang, M., Bartussek, D., Stemmler, G., Hagemann, D. (2006) Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. 6., vollst. überarb. Auflage, hier: S. 328 ff. (Sensation Seeking) <br>
(2) Benecke, M. (2009) Sex mit tätowierten Christen. In: Warum man Spaghetti nicht durch zwei teilen kann. Lübbe, Köln, S. 15-17. <br>
(2) Benecke, M. (2009) Sex mit tätowierten Christen. In: Warum man Spaghetti nicht durch zwei teilen kann. Lübbe, Köln, S. 15-17. <br>
''(Ergänzung, April 2013) Berger (1901) [http://www.wiki2.benecke.com/images/9/99/Berger_1901_Taetowirung_bei_Verbrechern.pdf Tätowirung bei Verbrechern]. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 22. Bd., 56-62''
''(Ergänzung, April 2013) Berger (1901) [http://www.wiki2.benecke.com/images/9/99/Berger_1901_Taetowirung_bei_Verbrechern.pdf Tätowirung bei Verbrechern]. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 22. Bd., 56-62''<br>
(3) Hauschild, W. (1912) Zur Tätowierungsfrage: Ein Fall von Tätowierung des Hinterkopfes. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 45: 60-80 (hier: S. 64-65) <br>
(3) Hauschild, W. (1912) Zur Tätowierungsfrage: Ein Fall von Tätowierung des Hinterkopfes. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 45: 60-80 (hier: S. 64-65) <br>
(4) Jager-Amberg, J. (1905) Tätowierungen von 150 Verbrechern mit Personalangaben. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 18: 141-168 (tabellarische "Datenbank") <br>
(4) Jager-Amberg, J. (1905) Tätowierungen von 150 Verbrechern mit Personalangaben. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 18: 141-168 (tabellarische "Datenbank") <br>
(5) Koch, J. R., Roberts, A. E., Armstrong, M. L., Owen D. C. (2005) College students, tattoos, and sexual activity. Psychological Reports 97: 887-890 <br>
(5) Koch, J. R., Roberts, A. E., Armstrong, M. L., Owen D. C. (2005) College students, tattoos, and sexual activity. Psychological Reports 97: 887-890 <br>
''(Ergänzung, April 2013) Leppmann (o.J.) Die criminalpsychologische und criminalpraktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 8. Bd., 2. Heft''
''(Ergänzung, April 2013) Leppmann (o.J.) Die criminalpsychologische und criminalpraktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 8. Bd., 2. Heft''<br>
(6) Littleton Robins, W. (1902) Tätowirung. In Eine Studie über Postamtsverbrecher. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 8: 248-259 (hier: S. 257) <br>
(6) Littleton Robins, W. (1902) Tätowirung. In Eine Studie über Postamtsverbrecher. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 8: 248-259 (hier: S. 257) <br>
(7) Lombroso, C. (1874) Sul tatuaggio in Italia, in inspecie fra i delinquenti. Archivo par I'antropologia e la etnologia 4: 389-403 <br>
(7) Lombroso, C. (1874) Sul tatuaggio in Italia, in inspecie fra i delinquenti. Archivo par I'antropologia e la etnologia 4: 389-403 <br>
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(9) Näcke, P. (1902) Tätowierungen bei Geisteskranken. In: Die Hauptergebnisse der kriminalanthropologischen Forschung im Jahre 1901. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9: 141-148 <br>(hier: S. 257) <br>
(9) Näcke, P. (1902) Tätowierungen bei Geisteskranken. In: Die Hauptergebnisse der kriminalanthropologischen Forschung im Jahre 1901. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9: 141-148 <br>(hier: S. 257) <br>
(10) Renneville, M. (1994) L'anthropologie du criminel en France. Criminologie 27: 185-209 <br>
(10) Renneville, M. (1994) L'anthropologie du criminel en France. Criminologie 27: 185-209 <br>
(11) Rödel, D. B. (2004) Alles über japanische Tätowierungen. Die japanische Tätowierkunst der Edo-Zeit und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart. Arun-Verlag, Uhlstädt/Huber Verlag, Mannheim, 170 S. <br>
(11) [http://wiki2.benecke.com/index.php?title=2011:_Interview_mit_Dirk-Boris_Rödel,_Tätowiermagazin Rödel, D. B.] (2004) Alles über japanische Tätowierungen. Die japanische Tätowierkunst der Edo-Zeit und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart. Arun-Verlag, Uhlstädt/Huber Verlag, Mannheim, 170 S. <br>
(12) Wawrzyniak, E. (2009) Ist das Persönlichkeitskonstrukt "Experience Seeking" bei Sadomasochisten stärker ausgeprägt als bei Nicht-Sadomasochisten? Eine Betrachtung des Experience Seeking und anderer psychologischer Faktoren. Ruhr-Universität Bochum, Fachbereich Psychologie, 180 S. <br>
(12) Wawrzyniak, E. (2009) Ist das Persönlichkeitskonstrukt "Experience Seeking" bei Sadomasochisten stärker ausgeprägt als bei Nicht-Sadomasochisten? Eine Betrachtung des Experience Seeking und anderer psychologischer Faktoren. Ruhr-Universität Bochum, Fachbereich Psychologie, 180 S. <br>




===<font color=orange>Lesetipps</font>===
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* [[Ehrenmitgliedschaft_Polizei|Ehrenmitgliedschaft für Dr. Mark Benecke: GdP Thüringen]]<br>
* [[All_Mark_Benecke_Publications#Some_Examples_for_Real_Cases|Weitere reale Fälle]]<br>
* [[2010-02 Kriminalistik: Der reverse C.S.I.-Effekt Teil 1|Der reverse C.S.I.-Effekt Teil 1]]<br>
* [[2010-03 Kriminalistik: Der reverse C.S.I.-Effekt Teil 2 und 3|Der reverse C.S.I.-Effekt Teil 2 und 3]]<br>
* [[2004-05 Kriminalistik: "Schlachtungs"-Handlungen im sadomasochistischen Umfeld|"Schlachtungs"-Handlungen im sadomasochistischen Umfeld]]<br>
* [[2002-02 Kriminalistik: Milzbrandbriefe auch in Deutschland?|Milzbrandbriefe auch in Deutschland?]]<br>
* [[2000-10 Kriminalistik: Asservierung von Insekten an Leichen|Asservierung von Insekten an Leichen]]<br>
* [[1997 Kriminalistik 51: Techno. Zur Phänomenologie einer Zeitströmung. (Techno. Phenomenology of a prevailing trend.)|Techno. Zur Phänomenologie einer Zeitströmung]]<br>
* [[1996 Kriminalistik: Die DNA-Beweise im Fall Simpson|Die DNA-Beweise im Fall Simpson]]<br>
* [[2017 02 Kriminalistik: Handy Abriebe|Rückschlüsse durch Handy-Abriebe]]<br>
* [[2011 10 Kriminalistik: Einsatz von übersinnlichen Fähigkeiten|Einsatz von übersinnlichen Fähigkeiten]]<br>
* [[2012 03 Kriminalistik: Silikon als Abformmittel in Extremsituationen|Silikon als Abformmittel in Extremsituationen]]<br>
* [[All_Mark_Benecke_Publications#Alles_.C3.BCber_Tattoos|Mehr über Tattoos]]<br>
* [[Tattoo|MBs Tattoos]]<br>
* [[All_Letzte_Worte_Tätowiermagazin|MBs letzte Worte im Tätowiermagazin]]<br>
* [[2014_07_Taetowiermagazin:_Bochumer_Studie|Tätowierungen sind voll normal]]<br>
* [[2014_07_Junge_Welt_Sie_vertuschen_vernebeln_und_luegen_uns_die_Hucke_voll|Die Bundespolizei nimmt Mark hopps]]<br>
* [[2003-11-21_Kripo_Telex:_Landesdelegiertentag_BDK_(19./20._Nov._2003)_/_Silberne_Ehrennadel_für_Mark_Benecke|Silberne Ehrennadel des ''Bund Deutscher Kriminalbeamter'' (bdk) für Mark Benecke]]<br>
* [[Die Severins-Detektive|Die Severins-Detektive]]<br>
* [[All ProTattoo|Alles von ProTattoo]]<br><br>
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Revision as of 15:49, 5 February 2018

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Quelle: Kriminalistik 64(5) 2010, Seiten 315 bis 316

Replik und Erwiderung

Diskussion zu "Tätowierungen und Kriminalität" von Gerhard Schmelz in KRIMINALISTIK 2/2010, S. 102-110

[Weitere Artikel von MB] [Artikel über MB]

VON MARK BENECKE, DIRK-BORIS RÖDEL und EWELIN WAERZYNIAK


Die Aussage im o. g. Artikel, dass sich aus Tätowierungen "häufig" und "zweifelsfrei" Rückschlüsse auf das soziale Umfeld ziehen lassen, ist unrichtig und wird durch die vorgestellte Studie nicht gestützt.


Richtig ist hingegen die ebenfalls aus dem Artikel stammende Aussage, dass "ein (direkter) Zusammenhang zwischen Kriminalität und Tätowierungen (...) nur in Ausnahmefällen" besteht. Wir würden sogar weiter gehen und sagen, dass der Zusammenhang überhaupt nicht nachweisbar ist


1. Mangelnde Logik der Studie

Ein Beispiel: Deutlich mehr Studierende, die tätowiert sind, sind auch eher sexuell aktiv (2,5). Gibt es aber einen Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen? Nein, denn der scheinbare Zusammenhang kann viele Gründe haben: Die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Jugendlichen (ein Konservativer wird eher als ein Liberaler Sex vor der Ehe ebenso wie Tätowierungen ablehnen), das Persönlichkeitsmerkmal "Experience Seeking" (Experience Seeker haben mehr Sexualpartner) (12) aus der persönlichkeitspsychologischen Forschung [1] oder sogar die Anzahl der Umzüge (wer früher umzieht, hat mehr Sex) (5). Es ist also völlig unmöglich, ohne Kontrollgruppe herauszufinden, wer warum welches Tattoo hat.


Ein weiteres Beispiel: Je nach Bundesstaat in den USA sind die meisten tätowierten Jugendlichen gleichzeitig häufige Kirchgänger (5). Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.


2. Ausnahmefälle

Die im Artikel genannten "Ausnahmefälle" sind Menschen, die Verbrechen begehen und zufällig auch tätowiert sind. In aller Regel sind Tätowierte aber ganz normale Menschen, wie jede der Hunderten von Tattoo-Conventions der vergangenen Jahre zeigt.


Die Anzahl tätowierter Polizisten und Polizistinnen ist nach unserer Kenntnis sogar höher als in anderen Berufen - vielleicht deswegen, weil sich hier Menschen mit Interesse an einer besonderen, oft aufregenderen Tätigkeit zusammenfinden, oder auch, weil es sich um Menschen handelt, die ganz im Gegenteil an besonders starker Struktursicherheit interessiert sind. Man sieht: Es ist wegen der vielen unbekannten Einflüsse unmöglich, hier Ursache und Wirkung festzustellen.


3. Stichprobenfehler

Durch die mangelnde Beteiligung von Tätowierstudios (nur drei Studios von europaweit vielen tausend Studios haben teilgenommen) und die fehlende Befragung "normaler Menschen" ist selbst eine qualitative Auswertung außerhalb der in der Studie entstandenen Stichprobe - nämlich vorwiegend Delinquenten - nicht möglich.


Auch, dass als direkte Referenz bloß die "Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia" aufgeführt und als einzige Abbildungs-Quelle verwendet wurde, zeugt von dieser blinden Stelle der Untersuchung. Was haben die Gewohnheiten von Straftätern, die in Russland einsitzen, mit den kulturell und sozial davon völlig unterschiedenen, zentraleuropäischen Verurteilten zu tun? Wie genau setzen sich die beiden Gruppen zusammen, wie grenzen sie sich ab, sind es überhaupt kriminalistisch sinnvoll beschreibbare Gruppen? Warum tragen Hunderttausende Nicht-Krimineller in Deutschland die in der Studie beschriebenen Symbole als Tattoos?


3. Erkennungsdienstliche Aspekte

Die vorgestellte Studie hat in sehr engen Bereichen der Kriminalität (etwa unter russischen Gefangenen oder bei unidentifizierten Leichen) eine ganz normale erkennungsdienstliche Bedeutung - vergleichbar mit der Augenfarbe, der Struktur der Iris oder ähnlichen biometrischen Merkmalen. Das ist jedem Kriminalisten klar.


4. Symbolgehalt von Oldschool-Tattoos

Den Leser und Leserinnen könnte der starke Stichprobenfehler und die mangelnde Logik der Studie nicht auffallen. Wir möchten daher die Aussage der Studie, dass "ein Tattoo somit grundsätzlich individuell" ist, noch einmal sehr deutlich unterstreichen:

  • Tätowierungen sind heutzutage zum weit überwiegenden Teil Ausdruck von Lebensfreude und Gestaltungswillen und bestenfalls ein persönliches Erkennungsmerkmal, so wie ein Schmuckstück oder der Spitzname einer Person.
  • Die Zuordnung der Tattoo-Motive "Totenköpfe, Blumen (Rosen), Fabelwesen, Herzen, Schlange, Buchstaben, Drachen, Frauen, Kreuze" zur Kategorie "gewalttätig und/oder bewaffnet" sowie "Tiere, Schriftzeichen, Tribals, Herzen, Fabelwesen, Totenköpfe, Kreuze, Blumen" zu "geisteskrank" zeigt, warum die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind. Wäre dem so, dann wären alle Geisteskranken bewaffnet oder alle Bewaffneten geisteskrank - und tätowiert. Übrigens wären damit auch fast alle Tätowierten mögliche Straftäter, weil die obige Liste die gängigsten Motive von weltweit vielen Millionen von Menschen aufführt. Die weit überwiegende Zahl von ihnen hat noch niemals eine Straftat begangen.
  • Wir stimmen der - bei Todesermittlungen ohnehin üblichen - Auswertung von Tattoos als individuelles Erkennungsmerkmal natürlich zu. Der im Artikel geforderten Einrichtung einer Datenbank dürfte aber jeder Wert fehlen, weil Tätowierungen mit den meisten in der Studie genannten Motiven mittlerweile - auch unter Polizisten - so weit verbreitet sind, dass der ehemals vielleicht vorhandene (kriminalistisch auswertbare) Symbolgehalt kaum noch ermittelbar ist. Das gilt besond ers auch für den abgebildeten Tiger und den Teufel. Dabei handelt es sich um zwei besonders häufige und daher besonders wenig aussagekräftige Tätowierungen (u. a. 11).

Haargenau die in der Studie angegeben Oldschool-Motive sind seit acht Jahren auch die einzigen Stil-Elemente der sehr großen und jedem Jugendlichen bekannten Mode-Marke "Ed Hardy" (2002; seit 2004 "Ed Hardy by Christian Audigier"). Sie wurde von einem der bekanntesten Tätowier-Künstler der Welt - Don Ed Hardy - gegründet, der deutlich mehr Wert auf die künstlerische Komponente als auf subkulturelle Aspekte legt.

Heute werden gerade Stil-Elemente wie ursprünglich "Rache" (Dolch) oder "Kraft" (Tiger) nur noch als Widerhall alter Zeiten verwendet. Die Motive sind mittlerweile massenhaft auf Damentäschchen und Sonnenschutz-Blenden für Autos abgebildet.

Wer mit offenen Augen durch eine beliebige deutsche Stadt oder sogar in Billig-Kleider-Läden geht, wird an einem einzigen Nachmittag dutzende dieser Produkte sehen, deren Träger den ursprünglichen Gehalt der Motive - ob tätowiert oder auf Mode-Produkte gedruckt - oft noch nicht einmal ahnen.

  • Der durch die einseitige Stichprobe ohne Kontrollgruppe konstruierte Zusammenhang zwischen Tätowierungen und Kriminalität (hier: Organisierter Kriminalität, Rechtsradikalismus usw.) war und ist ein reines Artefakt, das schon seit dem neunzehnten Jahrhundert die kriminalistische Gedankenwelt durchgeistert (4, 6-9), aber bereits seit hundert Jahren in der Fachliteratur widerlegt ist (3, 10 & Ergänzugen).


Schon 1912 schrieb Wolfgang Hauschild aus dem Pathologischen Institut in Dresden über die damals modischen Studien zu Tätowierten und Kriminalität im der bis heute bestehenden Fach-Zeitschrift "Archiv für Kriminologie" (früher "Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik"):

"Für den Gang der anthropologischen Untersuchung genügt es nicht, Stichproben zu machen, sondern die Untersuchungen müssen sich auf ein großes, möglichst gleichwertiges Material gründen und zugleich die Individualität des Untersuchten eingehend in Betracht ziehen.


Die größeren statistischen Erhebungen fußen daher auf ziemlich umfangreichem Material, das entweder Kasernen oder Gefängnissen entnommen ist. Leider haftet infolgedessen diesen Unternehmungen eine gewisse Einseitigkeit an, die leicht zu falschen Schlüssen führen kann.

Wenngleich die Tätowierten in den niederen Volksschichten vorherrschen, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass sich in den oberen Schichten der Bevölkerung nicht gleichfalls - und zwar nicht wenig! Tätowierte finden lassen. "


(Nachträgliche Ergänzung; nicht im Original-Artikel enthalten; M.B., 16. April 2013, mit Dank an Achim Reisdorf / Bericht des Gefängnis-Arztes von Hannover, Dr. Berger aus dem Jahr 1901:)

"Leppmann bestritt ebenfalls die anthropologische Einheit in der Art der eingestochenen Zeichen, er führt die Häufigkeit des Vorkommens von Tätowirungen bei Gefangenen mehr auf äussere, als auf innere Ursachen zurück. (...) Fragt man viel Tätowirte nach dem Warum, Wo, WIe ihrer Tätowierungen, so antworten sie mit einer sehr bezeichnenden Geberde, mit einem Achselzucken, einem Lächeln, als ob sie einem die Stelle aus der Strauss'schen Fledermaus vorsingen wollten: "s'ist mal bei uns so Sitte", "Chacun à son goût.""


5. Schluss

Die Entscheidung für ein Tattoo, einschließlich der Wahl der Motive, ist seit gut fünfzehn Jahren derart frei und oft auch zufällig bis geschmäcklerisch, dass die kriminalistische Erfassung in Bezug auf deren Symbol-Wert - außerhalb der ohnehin schon seit Jahrhunderten üblichen, sozusagen biometrischen EinzelfaIIbetrachtung (Leichenidentifizierung, Fahndung) - in Datenbanken (vgl. 4) ohne jeden Nutzen und daher fachlich kriminalistisch, aber auch aus psychologischer und kultureller Sicht, als unrichtig, anachronistisch und seit einem Jahrhundert erledigt abzulehnen ist.


Wir hoffen, mit diesen Hinweisen und dem Bezug auf alte und neue Quellen einen Gedanken-Anstoß in Richtung kriminalistisch aussagekräftigerer, modernerer Studiendesigns bewirken zu können.


Quellen:
(1) Amelang, M., Bartussek, D., Stemmler, G., Hagemann, D. (2006) Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. 6., vollst. überarb. Auflage, hier: S. 328 ff. (Sensation Seeking)
(2) Benecke, M. (2009) Sex mit tätowierten Christen. In: Warum man Spaghetti nicht durch zwei teilen kann. Lübbe, Köln, S. 15-17.
(Ergänzung, April 2013) Berger (1901) Tätowirung bei Verbrechern. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 22. Bd., 56-62
(3) Hauschild, W. (1912) Zur Tätowierungsfrage: Ein Fall von Tätowierung des Hinterkopfes. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 45: 60-80 (hier: S. 64-65)
(4) Jager-Amberg, J. (1905) Tätowierungen von 150 Verbrechern mit Personalangaben. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 18: 141-168 (tabellarische "Datenbank")
(5) Koch, J. R., Roberts, A. E., Armstrong, M. L., Owen D. C. (2005) College students, tattoos, and sexual activity. Psychological Reports 97: 887-890
(Ergänzung, April 2013) Leppmann (o.J.) Die criminalpsychologische und criminalpraktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 8. Bd., 2. Heft
(6) Littleton Robins, W. (1902) Tätowirung. In Eine Studie über Postamtsverbrecher. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 8: 248-259 (hier: S. 257)
(7) Lombroso, C. (1874) Sul tatuaggio in Italia, in inspecie fra i delinquenti. Archivo par I'antropologia e la etnologia 4: 389-403
(8) Lombroso, C. (1896) The Savage Origin of Tattooing. Popular Science Monthly 4: 793-803
(9) Näcke, P. (1902) Tätowierungen bei Geisteskranken. In: Die Hauptergebnisse der kriminalanthropologischen Forschung im Jahre 1901. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9: 141-148
(hier: S. 257)
(10) Renneville, M. (1994) L'anthropologie du criminel en France. Criminologie 27: 185-209
(11) Rödel, D. B. (2004) Alles über japanische Tätowierungen. Die japanische Tätowierkunst der Edo-Zeit und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart. Arun-Verlag, Uhlstädt/Huber Verlag, Mannheim, 170 S.
(12) Wawrzyniak, E. (2009) Ist das Persönlichkeitskonstrukt "Experience Seeking" bei Sadomasochisten stärker ausgeprägt als bei Nicht-Sadomasochisten? Eine Betrachtung des Experience Seeking und anderer psychologischer Faktoren. Ruhr-Universität Bochum, Fachbereich Psychologie, 180 S.


Lesetipps



Dr. rer. medic. Mark Benecke · Diplombiologe (verliehen in Deutschland) · Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für kriminaltechnische Sicherung, Untersuchung u. Auswertung von biologischen Spuren (IHK Köln) · Landsberg-Str. 16, 50678 Köln, Deutschland, E-Mail: forensic@benecke.com · www.benecke.com · Umsatzsteueridentifikationsnummer: ID: DE212749258 · Aufsichtsbehörde: Industrie- und Handelskammer zu Köln, Unter Sachsenhausen 10-26, 50667 Köln, Deutschland · Fallbearbeitung und Termine nur auf echtem Papier. Absprachen per E-mail sind nur vorläufige Gedanken und nicht bindend. 🗺 Dr. Mark Benecke, M. Sc., Ph.D. · Certified & Sworn In Forensic Biologist · International Forensic Research & Consulting · Postfach 250411 · 50520 Cologne · Germany · Text SMS in criminalistic emergencies (never call me): +49.171.177.1273 · Anonymous calls & suppressed numbers will never be answered. · Dies ist eine Notfall-Nummer für SMS in aktuellen, kriminalistischen Notfällen). · Rufen Sie niemals an. · If it is not an actual emergency, send an e-mail. · If it is an actual emergency, send a text message (SMS) · Never call. · Facebook Fan Site · Benecke Homepage · Instagram Fan Page · Datenschutz-Erklärung · Impressum · Archive Page · Kein Kontakt über soziale Netzwerke. · Never contact me via social networks since I never read messages & comments there.