2001 SeroNews 6:137: Beneckes Bücherschrank
Quelle: SeroNews 6:137 (Heft IV/2001)
Laugenbrezeln und 135 Millionen Literkrüge Blut
Beneckes Bücherschrank
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VON MARK BENECKE
Laugenbrezeln und 135 Millionen Literkrüge Blut: Gudrun Schury (2001) Lebensflut.
Eine Kulturgeschichte des Blutes. Reclam Leipzig, 226 S., 14 s/w-Abb., Softcover, 10,12 EUR, ISBN 3-379-20012-3
Ein Blutbuch, das lässt ForensikerInnen gerne aufhorchen -- noch dazu, wenn es sich um eine in ein handliches Format (passt gut in die Kitteltasche!) verpackte Darstellung handelt.
Staunen kann die Autorin. Dass ein Wal bis zu zwölftausend Liter Blut enthalten kann, ist erfreulich, und wir wussten es wohl alle noch nicht. Abgehen vom Wal hält Gudrun Schur (die zuvor ein Karl-May-ABC geschrieben hat) zum Glück Biologie und Medizin aus ihrer streiflichternden Übersicht weitgehend heraus. Denn dass Blut mit einem pH von 7,36 dieselbe Basizität wie Laugenbrezeln hat, würde die Autorin sicher weniger verwundern, wenn sie einmal den pH ihres Leitungswassers messen würde. Der liegt vermutlich auch im Bereich von Laugenbrezeln.
Kriminalpsycholgisch fraglich erscheint dem Rezensenten auch folgender Ausflug ins Tierreich:
Das Blut von Insekten ist völlig farblos, was ihnen als Wohngenossen schlechte Karten beschert. Erschlügen wir Fliegen, Mücken und Spinnen so leicht, wenn sie statt durchsichtigem rotes Blut hätten?
Abgesehen davon, dass Spinnen keine Insekten sind, ist es nicht noch viel grusliger, zu fragen, woher die unübersehbaren, roten Blutflecken stammen, die getötete Stechmückenweibchen an allen Wänden der Erde hinterlassen? Und wie schwer fällt es uns, unser eigenes Blut mit der Mücke zu zerquetschen? Ein ins Nichts führender Gedankengang -- und das schon im Vorwort!
Immerhin hat Gudrun Schury einen E-mailenden Helfer: Freund Michael, Filmforscher. Doch auch dieser äußert sich nur teils korrekt. Seine Meinung etwa, dass die durchaus Furcht erregenden Filme des Berliner Regisseurs Jörg Buttgereit dauernd verboten seien, beispielsweise ein berüchtigtes Splattermovie namens Nekromantik, sind weder wahr noch aktuell. Die Indizierung der Buttgereit-Filme, die zudem nicht das geringste mit Splattermovies zu tun haben, wurde schon vor Jahren aufgehoben. Soviel zu Filmforscher Michael.
Leider sind auch der Autorin selbst allerlei spannende Quellen entgangen, etwa dazu, ob ein guillotinierter Kopf noch seine Umgebung wahrnehmen bzw. gerichtet reagieren kann oder nicht. Sie erwähnt nur die Frage, deutet aber keine Lösung an.
Ein wenig Besessenheit scheint Gudrun Schury während des Schreibens auch noch überkommen zu haben. Denn in einem eigentlich dem Blutrausch von Truppen gewidmeten Abschnitt schreibt sie sich geradewegs in jenen hinein:
Kulturgeschichte des Blutes (2001) (Cover) "Ich stelle mir vor, wie das Ackerland der Schlachtfelder auf der ganzen Welt sich seit urältester Vorzeit mit dem Blut von Millionen "gefallener", will sagen zerstochener, zerschossener, zerfetzter, zerschmetterter, zerstückelter, zerquetschter Soldaten vollgesogen hat - ein rotbrauner Naturschwamm. [Es folgt eine Blutverlust- Berechnung über sehr viele Kriege hinweg, Fazit:] Bleiben 90 Millionen Leichen, die im Durchschnitt vielleicht 1,5 Liter Blut auf fremdem oder eigenem Staatsgrund ließen. Macht 135 Millionen Literkrüge Blut."
Wenn ich auf fremdem oder eigenem Staatsgrund wandele, und sei es nur abends auf dem alten Friedhof vor der Kölner Rechtsmedizin, stelle ich mir eher vor, wie lebende Pflanzen und Tiere die Erde bevölkern, dass die Menschen sich weniger wichtig nehmen sollten und im übrigen alles versickerte oder beerdigte Blut im Kreislauf des Lebens sehr schnell wieder Bestandteil von Lebendem wird. Geht Ihnen auch so? Gut.
Diejenigen SeroNews LeserInnen, die trotz aller Merkwürdigkeiten des Buches noch einmal Gilles de Rais, Gottfried Benn, Pieter Bruegel (gemeint ist Pieter Breughel), den Blutbankenskandal, Blut-Tüchlein im Märchen, Blutegel sowie den mit Blut sudelnden und Kunst treibenden Hermann Nitsch gedanklich und sehr rasch an sich vorbeiziehen lassen wollen, können das Schuryísche Büchlein vielleicht doch gebrauchen. Andererseits -- fürís selbe Geld gibt es zwei Kinokarten. Zumindest am Kinotag.
Mark Benecke (www.benecke.com) arbeitet international als Kriminalbiologe. In Deutschland ist er öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren.
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