1999-4 Seronews: Kirchen aus Salz, Leicheninsekten und Kokainschmuggeltricks
Quelle: SeroNews 4/99, S. 17-19
Kirchen aus Salz, Leicheninsekten und Kokainschmuggeltricks
Kurs zur Forensischen Entomologie (Insekten auf Leichen) in Santa Fe de Bogota, Kolumbien
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VON MARK BENECKE
Diese Artikelversion ist eine Rohfassung und daher nicht voll identisch mit der gedruckten Originalversion aus den SeroNews, die Kollege Wolfgang Huckenbeck, Institut für Rechtsmedizin der Universität Düsseldorf, herausgibt.
Salzkirchen Kokain Kolumbien Das Traumland für mutige Sero-News-LeserInnen muß Kolumbien sein. Neben einer angemessenen Anzahl von spannenden Tötungsdelikten, die im ländlichen Bereich vorwiegend von der Guerilla, in den Städten dagegen hauptsächlich von sozial verelendeten Menschen verübt werden, gibt es in Kolumbien eines der erstaunlichsten Netze kriminalistisch-rechtsmedizinischer Arbeitsstellen. Darüberhinaus sind die dortigen KollegInnen gut ausgebildet, gewitzt, herzenswarm, neugierig und tanzwütig. Bei einer in den Bergketten konstant milden Temperatur von im Schnitt etwa 15°C fühlen sich auch Europäer in dem ansonsten aus tropischem Regenwald bestehenden Land wohlst und wünschen ihre Rentenzeit umgehend dortselbst zu verbringen.
Der Autor hatte das grosse Vergnügen, zu Halloween 1999 eine umfangreiche übung zur Forensischen Entomologie (richtiger, aber unschöner: "rechtsmedizinisch-kriminalistisch angewandte Arthropodenkunde") in der kolumbianischen Hauptstadt Santa Fe de Bogota abzuhalten (Abb. 1). Dazu wurden KollegInnen aus dem ganzen Land, das heißt JuristInnen, KriminalbiologInnen, ans U.S.-System angeleht ausgebildeten forensische Pathologen, RechtsmedizinerInnen (entsprechend des deutschen Ausbildungsganges) sowie KriminalbeamtInnen ins Instituto Nacional de Medicina Legal y Sciencias Forenses gebeten. Vorausgegangen war vor etwa fünf Jahren eine Abschaffung des alten inquisitorisch-spanischen Rechtes, so daß nun Sachbeweise im Gegensatz zu Zeugenaussagen das Hauptgewicht in Gerichtsverfahren gewinnen.
Da die Sprache der allgemein, wenngleich in Gegenwart des Autors verschämt als Gringos bezeichneten Menschen (verballhornt aus green go home, bezog sich ursprünglich auf die grüngewandeten U.S.-Soldaten in Nicaragua) von über-dreißigjährigen KolumbianerInnen in der Regel nicht einmal ansatzweise gesprochen wird, fand die Veranstaltung unter dreitägiger Simultanübersetzung Amerikanisch--Spanisch--Amerikanisch mittels portabler Funkanlagen statt. Dieser auf den ersten Blick unerwartete technische Einsatz, der sich auch in den Bogotaer DNA-Laboratorien, die auf hohem Niveau mit STRs arbeiten sowie in der Toxikologie, deren Gerätepark die meisten deutschen Universitätsinstitute für Rechtsmedizin in den Schatten stellt, und der kompletten Ausstattung des Instituts mit ballistischem und daktyloskopischem Rüstzeug ist das Ergebnis der intelligenten Unterstützung vor allem einer deutschen Staatssagentur. Auf etwa der Hälfte aller teuren Laborgeräte prangt die deutsche neben der kolumbianischen Flagge (Abb. 2): ein Aufkleber der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die in einem forcierten Mehrjahresprogramm Technik und Know-How konzentriert in das Instituto in Bogota gesteckt hat. Um die Unabhängigkeit von teuren Reparaturmaßnahmen aus Übersee oder den USA zu gewährleisten, wurde in klassisch deutsch-naturwissenschaftlicher Universitätstradition auch eine feinmechanische Werkstatt eingerichtet. Diese technische Unterstützung ergänzt das hervorragend organisierte Sektionswesen, bei dem auf acht Tischen unter der strengen Leitung einer festangestellten Krankenschwester (Abb. 3) alle Fälle abgearbeitet werden können.
In krassem Gegensatz zu der guten Ausstattung im Inneren des Instituto steht das Armenviertel, das das Gebäude umgibt. Dort haben sich unter anderem ein halbes Dutzend Bestatter angesiedelt (Abb. 4), die Angehörige von aus unklarer Ursache Verstorbener noch vor der Institutstür abfangen und in ihre Räume bugsieren, und dort gibt es nach 18 Uhr (= Einbruch der Dunkelheit in den Tropen) nicht nur brennende Tonnen, sondern in Ermangelung derselben auch manchmal brennende Müllflächen. Das Autofenster darf dort niemals geöffnet werden, egal aus welchem Grund, weil sich sonst unweigerlich eine drogenabhängige und/oder hungrige Hand auf der Suche nach einem Portemonnaie oder einem anderen beweglichen Gegenstand von Wert ins Auto schiebt.
Der insektenkundliche Kurs selber gliederte sich in einen vormittäglichen Theorieteil und ein nachmittägliches praktisches Sammeln, Suchen und Vermessen an faulenden Schweinen. Diese waren schon eine bzw. zwei Wochen vor Eintreffen des Autors auf dem Dach des Instituto (Abb. 5), an einem Sandhaufen sowie im Labor für experimentelle Ballistik ausgelegt worden. Durch eine Schnittverletzung wurden die Kadaver für schwangere Schmeißfliegenweibchen besonders attraktiv gemacht, und so konnten die TeilnehmerInnen unter den entsetzten Blicken der beiden Übersetzerinnen sowie der charmanten Assistenz der entomologischen Kollegin Marta Wolff aus Medellin das Wichtigste über das Leben und die fachgerechte Asservierung von insektenkundlichen Spuren lernen.
Besonderes Hallo erzeugten viele Meter von den Kadavern weggekrochene, zur Verpuppung verborgene Tiere, die nicht nur stolz gesammelt, sondern deren Lokalisation auch auf Tatortübersichtsplänen genau dokumentiert wurde. Die Lebendbeobachtung des Freßverhaltens, der Darmfüllung und der Verpuppung der Maden unter sehr guten WILD-Binokularen war für viele TeilnnehmerInnen eine sichtlich besonders aufregende Erfahrung. Während die schon mehrfach erwähnten Profidolmetscherinnen sowie ein Kamerateam anfangs noch das vom Autor dutzendweise in sogenannten Karnevalsfläschchen (1000 µl) zur Verfügung gestellte Kölnische Wasser 4711 umklammerten, lockerten sie ihre innere Einstellung zunehmend soweit, daß sie sich zuletzt eine ausführliche übersetzungsliste aller rechtsmedizinisch-insektenkundlich wichtigen Fachtermini erstellten, um beim nächsten Mal wieder mitdabeisein zu dürfen.
Wie es der Zufall wollte, traf zum samstäglichen Abschlußwort des Autors ein Anruf der Fiscaliera ein -- einer Mischung aus Staatsanwaltschaft und polizeilicher Mordermittlungseinheit --, die soeben in den Slums an einem Berghang Bogotas eine Leiche mit Madenbefall gefunden hatte und den Autor unter Nichtbeachtung der lokalen notorischen Zuständigkeitsquerelen ausnahmsweise dazulud. Dieser Ausflug in eine Welt, die sich leider jeder nachvollziehbaren Beschreibung entzieht, gab zum ersten Mal in der Geschichte des Landes Gelegenheit zu einer angewandten Leichenliegezeitbestimmung mittels Maden -- das Ganze im Lichtschein einer (im Sinne von: einer einzigen) Paraffinkerze, zwischen freundlichen, aber zerlumpten Kindern, in einer Gegend, in der noch ein flacher Graben in der Mitte der Straße den Wasserzu- und -abfluß darstellt. Die bewegende Szene, in der der Präsident der kolumbianischen Gesellschaft für Rechtsmedizin, Pedro Emilio Morales, vor einem von mehr als zehn Familien bewohnten, winzigen Haus einem Mädchen den Nutzen der Untersuchung von Maden an Leichen erklärt, werde ich hoffentlich nie vergessen.
Zu einem Besuch des Landes kann der Autor nicht nur wegen des Instituts in Bogota (und in sehr vielen anderen kolumbianischen Städten) sowie der außerordentlich sympathischen und europakompatiblen Mentalität der KollegInnen raten. Das Land strotzt auch von skurrilen Schätzen wie einem atemberaubenden Goldmuseum, mehreren in 128 Meter Tiefe in Salzstöcken gelegenen Kirchen und natürlich den abenteuerlichsten Tricks zum Kokainschmuggel (in Farbe, in Notenblättern, in Menschen, in Leder, in Rosen, in Platzdeckchen; Abb. 6). Nur eins ist schlecht, und das ist der Kaffee. Er ist noch dünner als in den USA, und nur wenn mensch Glück hat, ist er mit gut dreiviertel Teilen Milch verdünnt. So weit, das war's, auf Wiedersehen: "Bueno, listo, ciao!"
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