1996 Archiv f. Kriminologie: Zur insektenkundlichen Begutachtung in Faulleichenfällen
Quelle: Archiv für Kriminologie, Heft 198 (1996), Seiten 99 bis 109
Zur insektenkundlichen Begutachtung in Faulleichenfällen
Aus dem Institut für Rechtsmedizin der Universität zu Köln (Direktor: Prof. Dr. med. M. Staak)
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VON DIPL.-BIOL. MARK BENECKE, ALS1
1. Einleitung
Die eine Leiche in mehreren, definierbaren Besiedlungswellen aufsuchenden Insektenpopulationen können wertvolle Hinweise bezüglich der Leichenliegezeit und des Tathergangs liefern. Zugrunde liegen dabei folgende Annahmen:
(a) Bestimmte sich vom Leichengewebe nährende oder dort andere Gliederfüßer jagende Arthropoden (Fliegen, Käfer, Spinnentiere) treten abhängig vom Zersetzungszustand der Leiche in «ökologischer Folge» nacheinander auf [nach Putman 1977].
(b) Mit der Leiche oder einem Täter assoziierte Insekten bzw. die Folgen ihrer Tätigkeit (vor allem typische Biß- und Stichmuster) können unter Berücksichtigung der Lebensräume der Tiere genauso wie andere Spuren asserviert und ausgewertet werden (Fallbeispiele z.B. in Leclercq 1973, Johnston & Villeneuve 1897, Webb et al. 1983, Prichard et al. 1986, Evans 1993).
Die Idee zur unter (a) genannten Vorgehensweise stammt aus dem vergangenen Jahrhundert (Megnin 1887) und liefert - durch die seitdem zahlreichen angewandten insektenkundlich-ökologische Arbeiten - ein abgerundetes Bild der Besiedlungsfolgen. Aus diesen wird dann auf die Leichenliegezeit rückgeschlossen. Die Lebensgewohnheiten der einzelnen Arten erlauben weiterführende orts- oder zeitspezifische Aussagen (z.B. Benecke 1996). Bezieht man Umwelteinflüße wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit in die Ermittlung ein, so läßt sich in bestimmten Fällen sogar die Liegezeit skelettierter Leichen berechnen (Lord et al. 1994, Nuorteva 1977).
Ausführliche Zusammenfassungen zum Thema finden sich bei Nuorteva (1977) und Smith (1986), neuere Übersichten bei Turner (1991), Keh (1985), Catts & Goff (1992) und Benecke (1996). Praktische Hinweise zur Asservierung geben Smith (1986), Lord & Burger (1983) und Erzinclioglu (1989). Auf die zeitliche Genauigkeit der Methode und ihre Fehlerquellen möchten wir in einer zukünftigen Veröffentlichung eingehen.
Die beiden im folgenden vorgestellten Fälle beschäftigen sich mit einer Erscheinung aus dem Bereich der Forensischen Insektenkunde, die erfahrenen Rechtsmedizinern gelegentlich bei Freilandsektionen begegnet, aber fehlinterpretiert worden ist (Fall 1: vermeintliche «Springkäfer») sowie dem permanenten Auftreten von Aasfliegen in einem vollkommen leeren Raum (Fall 2).
2. Fallbeschreibungen
Fall 1: Bahnleiche
Zusammenfassung aus den kriminalpolizeilichen Angaben und dem Protokoll2 der Leichenschau:
Eine 38 Jahre alt gewordene heroiabhängige Suizidentin wurde Ende November 1995 von Bahnarbeitern etwa 2 Meter von den Bahnschienen entfernt auf einem innerstädtischen Bahnwall gefunden. Die Leiche war dekapitiert und befand sich im Zustand fast vollständiger Skelettierung in Rückenlage unter Fallaub im Gesträuch. Die Rumpfweichteile waren nur noch als ockerfarbener, schmieriger Brei vorhanden; Organe der Brust- und Bauchhöhle fehlten völlig ( Abb. 1). Am Becken, den Armen und den unteren Extremitäten waren noch geringe, hochgradig fäulnisveränderte Weichteilreste zu erkennen. Neben dem knöchernen Schädel (ohne Unterkiefer) fand sich ein 35x20 cm messender Haarschopf ( Abb. 2). Die Leiche trug Jeansbekleidung, die zum Zeitpunkt des Fundes insgesamt noch gut erhalten war. Die Liegezeit wurde zunächst auf zwei bis drei Monate geschätzt; nach Identifikation mittels Zahnstatus ergab sich, daß die Person seit Mitte Juli 1995, also vier Monate vor dem Leichenfund, vermißt gemeldet war.
Insektenbesiedlung:
Besonders in den breiigen Weichteilen der Leiche, aber auch auf den freiliegenden Knochen fanden sich massenhaft 8 mm große, hell ockerfarbene Larven ( Abb. 3). Auffällig war ein Verhaltensablauf, den die Larven bei ihrer springenden Fortbewegung zeigten. Dabi wurde der Körper zunächst abgeknickt und dann hörnchenförmig gekrümmmt; schließlich schnellen die Tiere bis zu 50 cm in die Höhe oder zur Seite ( Abb. 4). Auf ledrigen Hautvertrocknungen befand sich eine nahezu geschlossene einlagige Schicht von blaßgelben Eiern ( Abb 5); auch der Haarschopf war mit denselben Eiern besetzt. Unter den Haaren und auf der beiseitegelegten Kleidung waren andere Larven zu sehen (s.u.). Auf dem Sektionstisch konnten einzelne Käfer von 4, 6 und 15 mm Größe sichergestellt werden.
Fall 2: Leere Wohnung3
Zusammenfassung:
In einer im dritten Stockwerk gelegenen Wohnung eines innerstädtischen Mietshauses wurde Anfang November 1995 die Leiche einer zwei Monate zuvor verstorbenen Seniorin gefunden. Der Körper war schmutzig-grün verfärbt und die Oberhaut fäulnisbedingt teilabgelöst. Die Verstorbene soll zum Zeitpunkt der Wohnungsöffnung nicht auffällig stark mit Maden befallen gewesen sein, es wurden jedoch zahlreiche erwachsene Fliegen angetroffen. Nach Angaben der Entwesungsangestellten soll aus der ansonsten intakten Leiche, die im Schlafzimmer auf dem Boden lag, nur ein kleiner Fleck blutiger Flüssigkeit auf einen Läufer gelangt sein.
Noch im November 1995 wurde die Wohnung mit einem Naturpyrethrum fachkundig vergast (8.11.95), mit Lysoformin desinfiziert (9.11.95) und anschließend vollständig renoviert; von da an stand sie völlig leer (keine Bodenbeläge, Wände weiß gestrichen, Fenster und Wohnungstüre geschlossen) ( Abb. 6). Ende Februar 1996 teilte uns eine Bewohnerin des betreffenden Hauses mit, daß in mehreren Wohnungen, auch der Ihren, seit dem Todesfall angeblich «hauchzart rosafarbene» Maden zu finden seien. In der Wohnung der Verstorbenen sammle man darüberhinaus täglich bis zu vier «Schmeißfliegen» auf. Des öfteren kröchen auch Maden aus Bohrlöchern und der Verkleidung einer Steckdose in der Badezimmerwand der Wohnung, die unter derjenigen der Verstorbenen liege ( Abb. 7).
Insektenbesiedlung:
Bei der sofort vorgenommenen Hausbesichtigung fanden sich im ehemaligen Schlafzimmer der Toten hinter einer über Teppichhöhe an die Wand befestigten Fußleiste vier leere Tönnchen geschlüpfter Fliegen; im Badezimmer und im Schlafzimmer saß je eine fast regungslose, am eingefallenen Hinterleib als unterernährt zu erkennende, metallisch blau-grüne Goldfliege. Im direkt unter dem ehemaligen Schlafzimmer der Toten liegenden Zimmer fanden sich weitere Maden und Tönnchen (s. u.). Am Tag vor der Ortsbegehung hatte eine Bewohnerin des Hauses in der leerstehenden Wohnung bei früheren Begehungen täglich bis zu sieben tote Goldfliegen gesammelt.
3. Material und Methode
Fall 1: Bahnleiche
Die adulten Tiere (Fliegen und Käfer) wurden im Verlaufe der Leichenschau einzeln in je ein Eppendorf-Reaktionsgefäß (1,5 mL) mit 70% Ethanol überführt. Dies verhinderte die Zersetzung der Insekten durch Schimmel oder Museumskäfer, unterband die durch Wasserverlust bewirkte Schrumpfung der Präparate sowie deren Brüchigwerden. Ein bleistiftbeschriebenes Etikett ersetzte die übliche alkohollösliche Markierung der Gefäße mit Folienschreibern. Larven wurden - ausreichende Stückzahl vorausgesetzt - in gleicher Menge in Alkohol und eine durchsichtige Plastikdose (Durchmesser 4 cm, Höhe 5 cm) mit durchlöchertem Deckel oder in Plastikreagenzgläser (5 mL) mit einem Verbandsmullstopfen gebracht. Lebende Larven, die eine Länge von 4 mm unterschritten, wurden nicht in mullverschlossenen Gefäßen aufbewahrt, da jene durch die Maschen leicht entkamen.
Den Fliegenmaden wurden einige Gramm Leichengewebe als Futter beigegeben. Alle Gefäße wurden in ein größeres Gefäß (Gurkenglas mit durchlöchertem Deckel) gestellt, auf dessen Boden ein daumenkuppengroßes Stück wassergetränkten Verbandsmulls lag. Bei einer konstanten Raumtemperatur von 17°C standen die Gefäße an einem großen, südöstlich gelegenen Mattglasfenster. Die Tiere wurden meist täglich inspiziert und deren Entwicklungszustand aufgezeichnet, ggf. wurde Wasser auf den Verbandsstoff nachgetropft. Geschlüpfte Exemplare wurden einige Stunden beobachtet und konnten währenddessen etwas Zuckerlösung aufnehmen, um das vollständige Aushärten ihres Chitinpanzers zu ermöglichen. (Frisch geschlüpft verhungerte und anschließend ausgetrocknete Insekten zerbrechen bei der Bestimmung sehr leicht.)
Die in Alkohol fixierten Tiere wurden mit einem feinen Pinsel (bei Tieren < 10 mm) oder einer Federstahlpinzette (bei Tieren ab 10 mm) unter ein Binokular gebracht und anhand der folgenden Literatur bestimmt: Käfer: Zahrandnik, Brohmer, Freude/Harde/Lohse, Chinery; Fliegen: Müller, Jacobs/Renner, Chinery.
Bei der Umgebungsanalyse nutzten wir Meßwerte einer im Kölner Stadtgebiet gelegenen Wetterstation des Landesumweltamtes Essen (ganzjährige, halbstündliche Datenerfassung).
Fall 2: Leeres Zimmer
Die fragliche Wohnung sowie deren Vollbetonbalkon wurde bei Tage unter Zuhilfenahme einer Taschenlampe und einer 14 cm langen Pinzette durchsucht. Besonderes Augenmerk richteten wir auf mögliche Unterschlupfe für Insekten in Spalten, Rissen usw.. Auch die darunterliegende Wohnung wurde in gleicher Weise inspiziert. Fliegen und Maden wurden in 70% Ethanol überführt, die Puppen wurden trocken in verschließbare 15 mL-Plastikreagenzgläser gebracht.
4. Funde, Bestimmungsergebnisse4 und Diskussion
Fall 1: Bahnleiche
Fliegen (Dipteren):
Die unter 2.1.2. beschriebenen Larven waren auch nach fünfstündigem Springen unter dem Licht des Sektionstisches nicht sichtbar ermüdet (Raumtemperatur 17°C). Etwa fünfzig Larven wurden mit etwas breiigem Leichengewebe und einem Stück Verbandsmull als Trägermaterial aufgezogen. Nach zwei Wochen bewegten sie sich kaum noch und hatten sich unter dem Mull verkrochen, nach eineinhalb Monaten war ein Tier geschlüpft, eines verpuppt und sklerotisiert; fünf herangewachsene Larven waren in zwei von ihnen im Mull gebildeten Höhlen (4x2,5 mm und 2x1 mm) zu sehen.
Im den folgenden Tagen starben alle Tiere durch Köpfchenschimmelbefall. Die Bestimmung des bei Berührung zerbrochenen Einzelexemplares erfolgte zunächst ausschließlich mittels einer Zeichnung des einzelnen rechten Flügels (Abb. 8) anhand des Schlüssels in Müller (1990) und wurde daraufhin durch die ökologischen Angaben in Jacobs & Renner 1988 sowie Borror 1981 bestätigt. Es handelt sich um die Käsefliege Piophila casei LINNÉ, die im englischen wegen des Springens ihrer Larven auch «Skipper Fly» genannt wird (to skip=springen) (Abb. 8a).
Die in deutscher Literatur öfters zu findende Bezeichnung «Kapitänsfliege» oder «Käsekapitän» beruht auf irregeleiteter Übersetzung (skipper=Kapitän). Die Larven lassen sich nach Nuorteva 1977 auch auf altem Käse züchten, die Beigabe von Leichengewebe entfällt auf diese Weise.
Käfer (Coleopteren):
Oxytelops tetracarinatus (1 Exemplar) ist der häufigste Vertreter der Gattung Oxyteles (GRAV.), die über zweihundert sehr ähnliche, dunkel gefärbte Arten enthält. Die Tiere leben oft in erheblicher Zahl vorzugsweise im Dünger oder im Boden unter Kot oder faulenden Pflanzenstoffen (zoo- und phytodetritisch). Möglicherweise ist Oxytelops tetracarinatus einer der weitverbreitesten und häufigsten Kurzflügler (Staphyliniden) überhaupt. Aus derselben Familie stammt Philonthus spec. (1 Expl.). Die Zuordnung der Käfer zu bestimmten Leichenliegezeiten ist nicht ohne weiteres möglich, da die Tiere auch von anderen faulenden Stoffen zehren. So wurde z.B. Philontus auch etwa zwei Jahre nach dem Begraben von Leichen an denselben gesehen (Smith 1986).
Die 2-3 cm großen und daher allgemein besser bekannten "Aaskäfer" oder "Totengräber" (Silphiden), die mit den Kurzflügleren eng verwandt sind, wurden am Sektionstisch nicht gesehen. Da "Totengräber" in wesentlich geringeren Stückzahlen auftreten als Kurzflügler, sie ihr Territorium gegen Artgenossen verteidigen und zudem schnell fliehen können, gehen wir davon aus, daß "Totengräber" nach Überführung des Leichnams in rechtsmedizinische Institute generell selten zu finden sein werden.
Drei von uns aufgesammelte Käfer der Gattung Atheta (THOMS) wurden wegen ihrer starken zwischenartlichen Ähnlichkeit nicht bis zur Art bestimmt. Die Tiere finden sich an trockenem Aas ebenso wie an Pilzen und moderndem Laub.
Der Rotbeinige Schinkenkäfer oder Koprakäfer Necrobia rufipes (DE GEER) aus der Familie der Buntkäfer (Cleridae) bewohnt wenige, klar definierbare Biotope (Stenotopie). Auf totem Gewebe umherkriechend (Nekrophilie), nährt er sich von den Larven anderer Insekten und von fetthaltigen Substanzen wie Schinken (daher der Trivialname). Im letzten Jahrhundert trafen Ärchäologen das Tier auf ägyptischen Mumien an; auch die nah verwandte Arten Necrobia ruficollis und Korynetes coeruleus finden sich an trockenem Aas, Knochen und Knochenfellen. - Insgesamt sammelten wir je zwei adulte und larvale, zur Leiche assoziierte Necrobia rufipes-Exemplare.
Eine Larve setzte sich innerhalb eines Tages - trotz mehrfacher Versuche unsererseits, dies zu verhindern - zwischen dem Verbandsmullstopfen und der Wandung ihres Reagenzglases fest, bildete dort eine Höhle ( Abb. 5a) und wurde in dieser 45 Tage später teilverpuppt und regungslos neben einer abgestreiften Haut (Exuvie) aufgefunden. Am 49. Tag sollte das Tier in Alkohol überführt werden, reagierte aber plötzlich auf Berührungsreize. In die Höhle zurückgesetzt, sklerotisierten die zunächst durchsichtigen Flügel ab dem 54. Tag sichtbar, am kommenden Tag schlüpfte der adulte Rotbeinige Schinkenkäfer.
Schlußfolgerung:
Das Auftreten der Käsefliege kennzeichnet typischerweise die etwa drei bis sechs Monate postmortem stattfindende vierte Besiedlungswelle (von acht Besiedlungswellen, die auf frei exponierten Leichen zu beobachten sind; Smith 1986). In einzelnen Fällen wurden Überreste von Piophila auch auf begrabenen Leichen (Smith 1986) und ägyptischen Mumien (Cockburn et al. 1975) gefunden. Nach Ablage von etwa 200 Eiern können die Larven bei Optimaltemperaturen innerhalb eines Tages schlüpfen und beginnen nach fünf Tagen im Larvalstadium mit der Verpuppung; nach weiteren fünf bis acht Tagen schlüpfen die erwachsenen Tiere.
In unserem Fall hatte sich eine demgegenüber erhebliche Entwicklungsverzögerung eingestellt (1 1/2 Monate), was an den suboptimalen Zuchtbedingungen oder der Heroinintoxination gelegen haben könnte. (Manche Fliegen entwickeln sich auf kokain- und heroinhaltigem Gewebe allerdings schneller als gewöhnlich; Goff & Lord 1994). Das auffällige Springen dient, obgleich energieaufwendig, gleichermaßen der Flucht wie der normalen Fortwegung (Smith 1986). Wir vermuten, daß dieses Verhalten auch solche Fraßfeinde abschreckt, die sich von dem hochmerkwürdigen Bild irritieren lassen, das ein massenhaft mit springenden Larven besetzter Leichnam bietet.
Während Kurzflügler auch kurz vor und nach der Besiedlung einer Leiche mit Käsefliegen anzutreffen sind, gehören Buntkäfer zu den letzten Besiedlern einer Leiche (Reed in Nuorteva 1977). Wegen der potentiell räuberischen Lebensweise des Rotbeinigen Schinkenkäfers (Smith 1986) und der weiten (auch zeitlichen) Verbreitung von Atheta teilen wir die Funde dieser Tiere sowie die Temperaturwerte (Abb. 6a) in der hier vorliegenden Veröffentlichung unkommentiert mit. Die zunächst auf zwei bis drei Monate geschätzte Liegezeit hätte durch die insektenkundliche Begutachtung in Richtung des tatsächlichen Wertes von vier Monaten korrigiert werden können.
Fall 2: Leeres Zimmer
Die Fliegen (je eine lebende im Bade- und Schlafzimmerzimmer sowie drei lebende und eine tote auf dem Balkon der Toten; Abb. 8b) wurden als Exemplare der grünmetallisch schimmernden Aas- oder Goldfliege Lucilia (wohl Lucilia caesar LINNÉ) bestimmt (Abb. 9). Im Treppenhaus zwischen der zweiten und dritten Etage fingen wir eine einzelne blaumetallische Schmeißfliege (Calliphora spec. ROBINEAU-DESVOIDY) ( Abb. 10). Aus derselben Gattung stammten auch die in der Wohnung hinter den Fußleisten gefundenen vier Tönnchen. Unter einem Fußabtreter vor der Balkontür des Zimmers, das genau unter dem ehemaligen Schlafzimmer der Toten lag, befanden sich je fünf verpuppte und sechs unverpuppte, aber bereits gedunkelte Larven (Abb. 11), die nach Reiter & Wolleneck (1983) ebenfalls als Calliphora vomitoria bestimmt wurden.
Die Tiere hatten sich offenbar schon vor Entfernung der Leiche aus der Wohnung in Spalten des Betonbodens und hinter die Fußleiste verkrochen. Dies ähnelt einer Beobachtung von Nuorteva (1977), bei der Aasfliegenlarven unvermittelt unter dem Büroteppich einer Behörde auftauchten. Die Tiere waren von einem Kadaver (vermutlich eines Vogels oder einer Maus im Lüftungsschacht) abgewandert, um sich zu verpuppen. Viele Fliegenmaden verhalten so, was es notwendig macht, die Umgebung einer Leiche bei der insektenkundlichen Ermittlung gründlich zu durchsuchen.
Die Größe der Tönnchen spielt bei der Bestimmung keine entscheidende Rolle und sollte nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten. Am Rande sei angemerkt, daß die Mieter des betreffenden Hauses keinen Zusammenhang zwischen Maden, Tönnchen und erwachsenen Tieren - den Entwicklungsstadien der Fliegen - sahen. Interessant an Fall 2 ist, daß außer den beiden Leichenerstbesiedlerinnen Lucilia und Calliphora trotz zweimonatiger Liegezeit keine weiteren Spuren von Insekten gefunden werden konnten. Die ökologisch und technisch isolierte Lage (Großstadt, möglicherweise nur geöffnetes Oberlicht) mag zu der fehlenden Weiterbesiedlung mit anderen Arten (Sukkzession) ebenso beigetragen haben wie der verlangsamt anmutende Verfall der Leiche, die nachfolgende Naturpyrethrumbegasung und Wohnungsrenovierung sowie eine mögliche Medikamenteneinnahme (Goff & Lord 1994).
Die vorgefundenen Fliegen, besonders aber die Abwesenheit weiterer Insektenarten lassen hier zunächst nur den Schluß zu, daß die Leiche zum Zeitpunkt des Fundes höchstens drei Monate alt war (Smith 1986). Berücksichtigt man zusätzlich die Umgebungsbedingungen, so ergibt sich folgendes Bild: Mehrere Larven von Calliphora vicina und Lucilia caesar hatten ihre maximale Wachstumsrate überschritten, als die Temperatur unter 16°C fiel. Von da an verpuppten sie sich nicht mehr, bis die Temperatur wieder anstieg (Reiter 1984a) bzw. die Tage länger wurden (Abb. 12).
Eine Beobachtung von Whiting (1914), der Calliphora das ganze Jahr über gezüchtet haben will, würde erklären, warum dennoch einzelne Tiere sich verpuppten und schlüpften. Daß sich Temperaturtoleranzen vom Calliphoriden im Laufe ihres Lebens auch ändern können, zeigen Versuche zur oberen Temperaturschwelle von Calliphora erythrocephala (Davison 1969). Ob die Larven nur eine insgesamte Entwicklungsverlangsamung oder eine echte, vorübergehende Entwicklungsarretierung (Diapause) im Präpupalstadium durchmachten (Mellanby 1938), muß dahingestellt bleiben. Der Fund der stillsitzenden Luciliae auf dem Balkon erklärt sich aus einer Flughemmung bei Temperaturen unter 12°C (von Nuorteva 1977 für Calliphoriden berichtet). Ins Labor verbracht, flogen dieselben Tiere vollkommen normal umher.
Die Temperatur der Wohnung ab dem Zeitpunkt des Todes bis zum Leichenfund ist unbekannt, dürfte aber etwas über der Außentemperatur gelegen haben (Abb. 12). Danach wurde eine Heizung mittels eines Thermostates angeblich auf Werte um 15°C-17°C gestellt. Aus der Leichenwohnung heraus gelangten die Maden vermutlich unter der Balkontüre und über die Balkonbrüstung, die gegenüber dem Balkon der darunterliegenden Wohnung zurücksteht. Die Maden ließen sich von da aus eine Etage tiefer fallen und krochen vermutlich unter der Balkontüre in die wärmere Wohnung hinein.
Aus diesem Zimmer konnten Sie durch eine geöffnete Tür ins Badezimmer gelangen. Dennoch kann das Auskriechen der Maden aus Bohrlöchern in der Badezimmerwand schlüssig nur durch die Annahme verstanden werden, daß Maden aus der oberen Wohnung durch Riße im Fußboden zwischen die echte und die Gipswand des Badezimmers der darunterliegenden Wohnung gekrochen waren. Es ist aber nicht auszuschließen, daß die Maden von den Mietern nicht beim Aus- sondern beim Einkriechen in die Bohrlöcher gesehen wurden. In Fällen wie dem vorliegenden darf man der Körpergröße der erwachsenen Tiere übrigens nicht zuviel Bedeutung zumessen, da sich z.B. aus Lucilia-Larven - je nach deren Nahrungsangebot - zwischen 5 und 11 mm große Fliegen entwickeln können (Schumann 1971).
Fazit zu Fall 2:
Wir vermuten, daß adulte Exemplare der beiden wichtigsten hiesigen kadaveraufsuchenden Insektengattungen (blaue und grüne Schmeißfliegen) Mitte September die Leiche angeflogen und auf dieser Eiballen abgelegt haben. Die Larven entwickelten sich zum Teil zu erwachsenen Tieren; einige verharrten aber nach der Renovierung der Wohnung bis zum Ansteigen der Temperatur und Tageslänge im Februar in einem kältebedingten Zustand verlangsamter oder arretierter Entwicklung.
Das permanente Auftreten einzelner Schmeißfliegen beruht vermutlich auf der wärmebedingten Auslösung der Fortentwicklung (abhängig von der Nähe zum Heizkörper?) bzw. der sich verlängernden Tagesdauer.
Daß die Insekten(larven) ursprünglich von der Leiche stammten, zeigt auch deren Vorhandensein ausschließlich im ehemaligen Schlafzimmer der Toten und in dem darunterliegenden Zimmer (beide Nordseite), während die wärmeren und helleren Zimmer im Süden dauernd vollkommen fliegenfrei waren.
5. Schlußbemerkungen
Das plötzliche massenhafte Auftreten von Fliegenmaden läßt sich ganz allgemein verstehen, wenn man davon ausgeht, daß einzelne Weibchen vieler Fliegenarten mit einem Mal hunderte von Eiern ablegen können, die - je nach Fliegenart und Umweltbedingungen - schnellstens innerhalb von acht bis zwölf Stunden schlüpfen und nach bereits einer Woche geschlechtsreif sein können. I den ersten Stunden und Tagen postmortem könne zeitlich sehr eng eingrenzbare Ableitungen der Liegezeit vorgenommen werden. Dazu trägt neben der genauen Kenntnis der Wachstumskurven der Maden (z.B. Reiter 1984a/b, Reiter & Hajek 1984) auch deren Verhalten bei. So können etwa Larven der grünen Schmeißfliege Lucilia nur dann Erstbesiedler einer Leiche sein, wenn eine Person tags im Freien zu Tode gekommen ist, denn nachts legt Lucilia (im Gegensatz zu ihrer Nahrungskonkurrentin Calliphora) keine Eier ab (Green zit. in Smith 1986).
Extremhabitaten wie Erdgräbern und Rohöllagern (Oldroyd, zit. nach Evans 1993). Insgesamt zeigen die geschilderten Fälle, daß insektenkundliche Untersuchungen in Faulleichenfällen sowohl bei der Todeszeitschätzung (hier anhand der Käsefliege - Fall 1) als auch bei der Klärung rätselhafter Umstände in nachhinein (hier anhand von Schmeißfliegen - Fall 2) nützlich sein können.
Die hier mitgeteilten Fallbeobachtungen werden erst nach Ihrer Aufnahme in ein umfassendes, mehrere ökologische Faktoren berücksichtigendes Auswertesystem weitere verallgemeinerbare Information liefern. Wegen der enormen Verbreitung und Artenzahl von Insekten (sie stellen etwa 75% aller Tierarten) teilen wir jedoch mit Prof. Erzinclioglu von der Universität Cambridge die Hoffnung, daß die Insektenkunde auch im deutschsprachigen Raum als kraftvolles Werkzeug und objektives Beweismittel ihren festen Platz in Kriminalisik und Rechtsmedizin findet.
Danksagung
Die Insektenkundler Dr. Klaus Cölln und Dr. Hans-Jürgen Hoffmann sowie die Bestimmungsexpertin Andrea Jakubzik (alle am Zoologischen Institut der Universität Köln) gaben mir initiale und fortführende Anregungen zur Forensischen Entomologie. Herr Hans-Gerd Werner, Coleopterologe in Köln, bestimmte einige Käfer und gewährte mir Zugang zu seiner Bibliothek. Die Wetterdaten stellten Dr. Beier und Dr. Kohlert vom Landesumweltamt in Essen zur Verfügung. Das British Museum (London) überließ mir das letzte Exemplars des «Manual of Forensic Entomology». Prof. M. Staak und Prof. C. Henßge regten mich zu fortführenden forensisch-insektenkundlichen Arbeiten an. Ich danke allen Genannten für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.
Zusammenfassung
In Faulleichenfällen kann die Untersuchung der Insektenfauna Hinweise auf die Leichenliegezeit liefern. Wir schildern zwei Fälle, in denen die Methode zur Anwendung kommt. Einige typische leichenbewohnende Insekten werden vorgestellt, darunter die blaue und grüne Schmeißfliege Calliphora und Lucilia, der Rotbeinige Schinkenkäfer Necrobia rufipes und die Käsefliege Piophila casei, deren Larven auffällig springen.
In Fall 1 war die Leiche einer heroinabhängigen Suizidentin massenhaft mit Käsefliegenlarven besetzt, in Fall 2 hatten sich Schmeißfliegenlarven in Rissen und hinter einer aufgesetzten Gipswand verkrochen, waren dort in ein Ruhestadium (Diapause) verfallen und schlüpften mit steigender Temperatur und/oder Tageslänge etwa drei Monate nach der Oviposition (normale Entwicklungsdauer der Maden bis zur Verpuppung abhängig von der Umgebungstemperatur ein bis zwei Wochen). Neben Einzelbeobachtungen zur Entwicklung von Piophila geben wir eine knappe Einführung in die Forensische Entomologie mit Hinweisen zur Asservierung und relevanten Literaturstellen.
Summary
Use of Forensic Entomology in cases concerning putrefied corpses
We report two cases in which putrefied corpses were found in the state of massive myasis (colonization of flies); in one case, also beetles could be collected. Case 1: A human corpse was found four month postmortem exposed freely near a railway embankment (suicide, known heroin user). Masses of jumping cheese skipper flie larvae were found on the corpse and bred for identification subsequently. Furthermore, several beetles were found. Cheese skippers are a typical carrion-assotiated fly species which occurs three to six month postmortem. In Germay, cheese skippers are often mixed up with beetle larvae, an error which we wish to clear up.
Case 2: Three month after removal of a corpse found dead for one and a half month in fall/wintertime in a flat, green-blue blowflies and their larvae were seen constantly in the now completely empty, desinfected flat and a flat being situated in the floor below. Temperature of the rooms was around 15°C-17°C. Larvae hid behind vertical floor ledges and wall-on-walls made of plaster and rested in diapause until temperatur or length of days increased; because of low temperature adult flies could not flie and were found immobile in cracks on the balcony. A brief introduction in the field of forensic entomology - including relevant citations, collection and breeding information - is given.
Literatur
Abbildungen
Anmerkungen
Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
Lesetipps
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